37 Windstille und pralle Nachmittagssonne hatten die Luft um den Brunnen herum kräftig aufgeheizt. Broklas war immer noch dabei, das seltsame Gerät auf dem Dreibein zu justieren, während sich Corin nach getaner Arbeit eine kurze Pause gönnte.
»Was macht er dort?«, erkundigte sich Sophia, die schon im Schatten des Brunnens auf Corin gewartet hatte. Corin lehnte sich gegen die Brunnenmauer und schnaufte. »Wir bauen ein Instrument«, erklärte Corin freudig und geduldig, »mit dem man die Position der Fixsterne genau messen kann. Und zwei kleine Ticks, so wie Turmuhren, nur kleiner. Er hat eine Idee, eine Theorie, dass wenn man die Position eines Sternes kennt und die genaue Zeit bestimmt, man genau ausrechnen kann, wo man gerade ist«.
Sophia schien den Nutzen dieser Studien nicht auf Anhieb zu begreifen, denn sie zog skeptisch die Augenbraue hoch und lächelte verschmitzt. »Das kann ich dir auch so sagen, Corin. Wir sind auf Gotland. An einem Brunnen«. Den letzten Satz sagte sie, als ob Corin ein kompletter Vollidiot sei, und genau so fühlte der sich auch gerade.
»Ja, ja«, versuchte er zu beschwichtigen, »es ist ja auch nur ein Experiment«. Aber Sophia war schon richtig in Fahrt. »Broklas«, rief sie dem Wissenschaftler herüber, »wir sind auf Gotland! An einem Brunnen!«. Sie zeigte auf das Bauwerk, an dem sie lehnten und versuchte nicht zu lachen. Broklas schnaubte verächtlich, murmelte etwas von dem sich Corin sicher war, dass es sogar Käpt’n Claas eine anerkennende Schamesröte ins Gesicht treiben würde, zog sein rotes Gewand zurecht und fuhr mit seinen Werkereien fort.
»Bitte tut das nicht, Durchlaucht«, bat Corin Sophia leise. »Aber mal ehrlich«, konterte sie umgehend, »das ist doch total verrückt, was er da macht«. »Nein, ist es nicht. Selbst wenn das Experiment nicht klappt, wird es einen Nutzen haben und sei es nur, dass ein anderer weiß, wie man es nicht macht«.
Sophia wollte einwerfen, dass diese Worte so gar nicht nach Corin klangen und zweifellos von Broklas stammen mussten. Aber da war ihr schon ein anderer Gedanke über die Lippen gehopst. »Ist das nicht entsetzlich langweilig?«, fragte die Herzogin und sie musste sich selbst eingestehen, dass das reichlich böse von ihr war.
Corin sah Sophia so durchdringend an, dass ihr Gehirn umgehend anfing, eine Entschuldigung zusammenzubasteln. Gerade als der Satz fertig war und Sophias Gehirn noch ein paar bezaubernde i-Punkte als Garnierung zu verteilen gedachte, um sich dann stolz zurückzulehnen und auf die Abholung der famosen Abbitte durch das Sprachzentrum zu warten, machte Corin die herrliche Verzeihung nutzlos.
»Herauszubekommen wie die Welt funktioniert«, sagte Corin ruhig, »wie kann das langweilig sein?«. Corins Wangen fingen an zu glühen. Nicht wegen Sophia. Sondern weil gerade etwas Neues in ihm eingezogen war. Kein flüchtiger Gedankenfetzen, der nur mal eben zu Besuch kommt und gleich wieder geht. Nein, das war irgendwie anders. Seltsam, ungewohnt. Es war eher wie bei einem lieben Freund, den man schrecklich vermisste, aber bei dem man plötzlich entdeckte, dass er eigentlich nie gegangen war, sondern es sich schon vor einiger Zeit sehr gemütlich bei einem zu Hause gemacht hatte. Und dieser Freund hatte es auch noch geschafft, die ganze Bude zu renovieren, ohne dass Corin auch nur einmal einen Hammer hatte klopfen hören.
»Na, ihr beiden Hübschen«, raunzte Charlotte und alle Ziegen Gotlands verspürten in diesem freudigen Moment erstmalig die Existenz ihrer lang gesuchten Übermutter, »wie geht es denn so?«.
Die Kaufmannstochter stand am Brunnen und warf den Holzeimer über den Mauerrand mit so viel Verve in die Tiefe, als ob sie mit Hochgenuss ein Todesurteil am Galgen vollstrecken würde. »Ich hoffe ihr habt einen schönen Abend?«, ätzte Charlotte weiter und alle Blümchen, Insekten und Amphibien im Umkreis von mehreren hundert Fuß hielten den Atem an. Für Vögel und Nager, da war sich Corin sicher, kam bereits jede Hilfe zu spät. Er sprang in die Höhe und fuchtelte ungelenk mit den Armen. »Hallo Charlotte!«, begrüßte er sie, »wie schön dich zu sehen!«.
»Das hier ist Sophia«, stellte Corin die immer noch sitzende Herzogin vor und setzte dann im Flüsterton fort, »die Herzogin von Mecklenburg!«. Charlotte brummte etwas, was aber auch daran liegen konnte, dass das Seil der Brunnenwinde sich soeben verheddert hatte. Die junge Frau zerrte wütend an der Leine, schnaubte zornig die Luft aus den Lungen und trat mehrfach sinnlos gegen die Brunnenmauer.
Ein rasendes Wildschwein, das gerade seine Lieblingssau beim Würfelspiel verzockt hatte, war dagegen wie ein artiges, müdes Ferkel, kam es Corin in den Sinn, obwohl das mit den Geschlechtern irgendwie nicht passen mochte. »Ich wollte dich fragen«, wagte er sich vor, »ob du morgen Abend mit mir zum alten Wachturm reitest«.
Dass praktisch der Ausnahmezustand herrschte und in wenigen Tagen eine große Schlacht bevorstand, hatte er komplett verdrängt. Und Sophia hielt es für besser, den Mund zu halten.
Charlotte hielt inne und ihr Zorn löste sich in Luft auf. »Wirklich?«, zirpte sie, aber durchaus noch mit einer würzigen Ladung Skepsis. Corin strahlte. »Ja«. Charlotte ließ das Seil los und die Verklemmung löste sich ganz simpel durch das Zuggewicht des Eimers. Der Behälter sauste in die Tiefe. »Na schön«, sagte Charlotte schnippisch, aber ihre bernsteinfarbenen Augen glänzten vor Freude, »wir treffen uns zwei Schlag vor Sonnenuntergang am Nordtor«.
Sie drehte sich auf dem Absatz und stürmte zu ihrem Pferd.
»Was ist mit dem Wasser?«, rief Corin ihr etwas verdattert hinterher und zeigte auf den Brunnen. Charlotte grunzte, gluckste und winkte ab. Bloß nicht umdrehen, dachte sie, sonst merkt er noch was, bloß nicht umdrehen.
Corin seufzte und setzte sich wieder zu Sophia. »War das deine Freundin?«, fragte sie und grinste dazu schamlos. Jedenfalls empfand Corin es als schamlos. Er stammelte. »Nee. Nein. Nee, nicht wirklich«, murkste er sich eine Antwort zurecht und wünschte sich irgendwo anders hin.
»Ich beneide dich, ehrlich«, beichtete ihm Sophia und Corin dachte für einen Moment, die Herzogin hätte den Verstand verloren. »Für mich sind solche Dinge noch viel komplizierter«. Corin sah sie fragend an und ihr Blick verhieß nichts Gutes. »Ihr müsst Euren Herzog sehr geliebt haben. Tut mir echt leid…«, versuchte er die Herzogin zu trösten. Sophia sah den jungen Mann, von dem man eben nicht wusste, ob er Junge oder Mann war, lange an.
Es ging verdammt fix, all die Menschen zusammen zu zählen, mit denen sie in ihrem Leben jemals über ihre Gefühle geredet hatte. »Nein«, sagte sie in einem Ton, der Corin schaudern ließ, »ich habe ihn nie geliebt. Wir hatten nicht die Gelegenheit uns zu verlieben. Wir haben uns ganze fünf Tage gesehen, in unserer gesamten Ehe«. »Dann wart Ihr noch nie verliebt?«, konnte Corin seine Neugier nicht zügeln. Wieder sah Sophia ihn lange an und Corin sah den Kampf, den sie mit sich selbst führte und den sie gerade dabei war zu verlieren. Die Herzogin holte tief Luft und fischte ein Stück Pergament aus ihrem Kleid.
Das Portrait von Jonathan.
Die Herzogin hielt Corin das Pergament hin.
Corin sah das Bild.
Und wurde todernst.
»Mein Gott!«, schrie Corin, als er das Gesicht erkannte, »ein dreihaariger Auerochse mit ausgerenktem Unterkiefer!«.
Sophia prustete los.
»Guter Gott«, fragte Corin lachend, »wer oder was zum Henker ist das?«. »Er ist ein kühner Ritter«, fing sie schmunzelnd an zu erklären, »na ja, fast. Er hat dunkles Haar und blaue, leuchtende Augen. Er ist klug und sanftmütig, und trotzdem ein wahrer Meister mit dem Schwert«.
Mehr mochte sie nicht erzählen und Corin würde diesen Augenblick im Gedächtnis behalten, als den Moment, in dem er erstmalig einen Menschen sah, dessen Lippen vor Freude lächelten und dessen Augen vor Kummer weinten.
Irgendetwas lief in Corins Geist umher, um mit einer Fliegenpatsche auf alles zu hauen, was sich amüsierte. Er wurde still. Die Erinnerungen an Jonathan waren da.
»Mein Bruder hat auch immer davon geträumt ein mächtiger Ritter zu werden«, sagte Corin leise. »Den Alten und Schwachen zu helfen. Gegen Leid und Ungerechtigkeit zu kämpfen«. Er seufzte tief. »Und ich wollte immer Pirat werden. Den Alten und Schwachen helfen. Gegen Leid und Ungerechtigkeit kämpfen«.
Corin schaute hoch in den blauen Himmel. »Und jetzt ist er da oben und schaut zu uns herab. Ob er wohl stolz auf mich ist?«.
»Was glaubst du?«, stellte Sophia die Gegenfrage.
Eine blöde Frage, fand Corin. Eine verdammt blöde und verdammt unangenehme Frage.