14 Der Rote Rabe fuhr durch die laue Nacht und das Hauptdeck glühte im goldenen Licht der Feuerstelle und dem graublauen Licht des nahezu vollen Mondes.

Die Piraten hatten sich ringsum die Feuerstelle niedergelassen und tranken Bier, aßen, tranken noch mehr Bier, sangen und tranken noch viel mehr Bier. Johan hatte mittlerweile ein fetzigeres Programm aufgefahren und fiedelte sich die Finger wund, während Claas auf reichlich alberne Weise dazu tanzte. Nur der Steuermann auf dem Achterdeck war von der Party ausgenommen, was ihn nicht daran hinderte, regelmäßig kräftige Züge aus einem Bierhumpen zu nehmen. Dennoch führte er den Raben sicher durch die Nacht mit Kurs auf das noch einige Tage entfernte Gotland.

Die meisten Kisten und Beutehaufen hatte man bereits unter Deck verbracht. Lediglich zwei Truhen standen noch auf dem Hauptdeck, zwischen der Feuerstelle mit den sich lümmelnden Seeräubern und Corins Käfig.

In der Dunkelheit saß Corin mit dem Rücken an die Käfigstäbe gelehnt und beobachtete die ausgelassen feiernden Piraten. Er nahm einen großen Zinnbecher, den er hinter sich versteckt hielt, und nippte daran. Das leichte Bier77, das jedes Schiff auf großer Fahrt in Mengen bei sich führte und praktisch das Grundnahrungsmittel eines Seemanns war, schmeckte ihm zwar – aber es in Unmengen zu trinken, wie die Seeräuber es taten, suchte er zu vermeiden.

»Psst«, machte es von der noch dunkleren Seite des Decks, das gen Schiffsbug lag. Corin drehte sich um. Broklas hatte sich neben dem Käfig aufgebaut, schaute gehetzt umher und produzierte dann einen Holzkrug und eine gebratene Hühnerhälfte unter seiner roten Robe hervor. »Hey, Corin«, flüsterte Broklas und Corin grinste. »Los, komm her, ich hab dir was zu Essen gebracht«, tuschelte der Wissenschaftler mit verschwörerischem Unterton und legte die Geflügelhälfte in den Käfig. »Und ein bisschen Bier gibt’s auch noch«, setzte er fort und freute sich diebisch über die eigene Kühnheit. »Du willst doch nicht immer dieses Zeug da trinken müssen«, gab er noch zum Besten, zeigte auf einen der Eimer in Corins Zwinger und wackelte gönnerhaft mit dem Kopf.

»Hallo Broklas«, freute sich Corin und kam an die vordere Reihe Käfigstangen gekrochen. »Das ist aber nett«, versuchte er so dankbar wie irgend möglich zu klingen, »aber erstens ist das nicht mein Wasser-, sondern mein Kloeimer«, setzte Corin ohne eine Miene zu verziehen fort, während Broklas die Augen zusammenkniff und seiner Vorstellungskraft befahl, mal eben mit den Fingern in den Ohren eine Runde spazieren zu gehen, »und zweitens…äh…«.

»Du auch?«, knarzte Thore in Richtung Broklas und kam aus einer nochmals dunkleren Ecke hinter dem Käfig direkt an der Reling hervor. Corin zeigte seinen Zinnbecher, den er von Thore bekommen hatte, zuckte mit den Schultern und prostete Broklas zu. »Aber danke, Broklas«.

Broklas lächelte. Es gefiel ihm, dass es Corin besser ging. Er nahm den Holzkrug, der eigentlich für Corin bestimmt war, prostete zurück und nahm einen kräftigen Zug. »Absolut widerlich«, sagte er, schüttelte sich und lachte.

»Broklas!«, donnerte es über das Deck und die Fiedel Johans kam ungefähr mit demselben Geräusch zur Ruhe, wie das, welches man von einer Katze zu hören bekam, wenn man sie über eine Klippe warf.

Thore zog sich wimmernd in sein schwarzes Nichts hinter dem Käfig zurück.

Broklas drehte sich um, in Richtung Feuerstelle. »Äh, ja, Kapitän?«, machte er sich ziemlich kleinlaut bemerkbar und reckte und drehte seinen Hals in einer Lockerungsübung, die aussah, als bereite er sich auf drei gemütliche Stunden baumeln am Galgen vor.

Claas reckte sich ebenfalls schnaufend, streckte die Brust heraus und wischte mit dem Handrücken über Mund und Bart. Da war ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht, dachte Broklas und nahm sich fest vor, keinerlei Angst zu haben. Einen Herzschlag später gab er bereits auf.

Claas stampfte langsam, aber zielstrebig von der Feuerstelle Richtung Käfig. Dabei legte er so viel Gewicht in seine Schritte, dass der Rote Rabe bei jedem Bodenkontakt hörbar dröhnte. Die Männer, die ihrem Kapitän im Weg standen, machten ohne weiteren Kommentar Platz.

Der blonde Hüne hatte die zwei Truhen, die noch an Deck verblieben waren, erreicht. Er beugte sich hinunter zur ersten Truhe, öffnete den Deckel, und nahm einen mit Perlen geschmückten langen Scheibendolch heraus, der seinen Namen dem verzierten Goldteller schuldete, der zwischen Klinge und Griff als Parierelement angebracht war.

Claas stampfte weiter. Broklas schluckte. Thore wimmerte. Corin verstand gar nichts.

Der Kapitän stoppte vor dem Käfig und nur Broklas stand noch zwischen ihm und Corins Gefängnis. »Broklas«, brummte Claas los und fixierte den Wissenschaftler mit seinem Blick, »vielleicht ist es jetzt Zeit, uns eine deiner Geschichten vorzutragen«.

Was soll das jetzt wieder bedeuten, dachte Broklas. »Nun, ja, ich meine…«, war seine glorreiche Antwort und er war beinahe froh, dass Claas sein Gestammel unterbrach. »Broklas. Glaubst du, ich würde nicht merken, wie du und Thore um den Jungen herumscharwenzeln und ihn mit Bier und Essen versorgen?«. »Nun, äh, nein, äh, ja, äh, nein«, brachte Broklas scharfzüngig hervor, sah dann den Scheibendolch, den Claas spielerisch in die Höhe hielt, und ihm fiel ein, dass er ja noch einen ganz wichtigen Termin am anderen Ende des Schiffes hatte. Am ganz anderen Ende des Schiffes.

»Geh zur Seite, Broklas«, brummte Claas, und Broklas wusste, es würde nie wieder etwas in seinem Leben geben, das man ihm so sehr nicht zweimal würde sagen müssen. Der Wissenschaftler riskierte eine schnelle Kopfbewegung zu Corin, lächelte verkrampft, hob die Hand zum Abschied und machte sich schleunigst davon.

Claas machte den letzten Schritt direkt an den Käfig, aber Corin dachte gar nicht daran, dem Blick und der Präsenz des Hünen auszuweichen.

Claas und Corin sahen sich lange an.

»Du machst mich verantwortlich für den Tod deiner Familie, richtig?«, brachte es Claas sehr schmerzhaft und ohne Umschweife auf den Punkt. Corins Unterkiefer fing an zu mahlen und seine Augen blitzten. Dem Blick des Kapitäns hielt er stand.

»Hmm«, brummelte Claas schließlich und trat gemächlich einen halben Schritt zurück, ohne jedoch Corin aus den Augen zu lassen. Er nahm wieder den Scheibendolch hoch und zog ihn bedächtig aus der Scheide.

Broklas, in der Ferne, schluckte. Thore, in der Dunkelheit, wimmerte. Corin schnürte sich der Hals zu.

Mit einem kurzen Satz hatte sich Claas wieder direkt an die Käfigstäbe manövriert. Corin schrak zusammen und ließ sich gegen die hinteren Gitterstangen fallen.

Der Hüne schob die blanke Dolchklinge in den Käfig, nickte Corin zu und legte die Waffe dann direkt zu Corins Füssen auf den Holzboden. »Ich kann es nicht mehr ändern«, dröhnte Claas, »es tut mir leid«, und legte die Scheide neben die Waffe in den Käfig.

Der Kapitän drehte sich um, zu seinen Leuten, und sein mächtiger Rücken lehnte sich gegen die Metallstäbe. Er grinste versöhnlich und nicht einmal seine eigenen Männer konnten das winzige Zucken in seinen Augen sehen, als Claas nach seiner Lebensversicherung sah.

Frederick, der narbengesichtige Armbrustschütze, der als einziger Fernkämpfer die Schlacht gegen die Flamen am Morgen überlebt hatte, war auf dem Achterdeck im Schutz der Dunkelheit in Stellung gegangen. Frederick war nicht nur ein sehr schweigsamer und dem Kapitän treu ergebener Genosse; er besaß neben einem ausgeprägten Überlebensinstinkt vor allem ein erschreckendes Talent im Umgang mit seiner Waffe. Auf diese Entfernung angelegt, wäre jeder Schuss garantiert tödlich. Das Ziel, das Frederick unbemerkt von allen außer Claas im Visier hatte, war Corin.

»Das ist dein Anteil, Junge«, erklärte Claas den Dolch zu Corins Füßen, sprach jedoch in Richtung seiner Männer. »Ein Teil deines Anteils. Wir teilen unsere Beute, gerecht, zwischen uns und den Armen dieser Welt«. Claas drehte den Kopf, sah Corin in die Augen und sein Tonfall wurde so beschwörend, dass Corin nicht verwundert gewesen wäre, hätten sich plötzlich goldene Einhörner in seinem Käfig materialisiert und Diamanten in seinen Kloeimer gekackt. »Und wir heißen jeden willkommen, der bereit ist gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen«, schloss Claas seine kleine Ansprache ab, nickte Corin noch einmal zu, und drehte sich dann wieder zu seinen Kumpanen, den Rücken immer noch als Zielscheibe für Corin angeboten.

Corin senkte nachdenklich den Kopf und Gedankenfetzen sausten durch sein Gehirn.

Er nahm den Dolch vom Boden des Käfigs und rammte ihn Claas mit voller Wucht in die Wirbelsäule. Der Hüne machte ein ziemlich blödes Gesicht, was das Aufreißen beider Augen mit einschloss, und fiel mausetot auf das Deck.

Nein. So ging es nicht.

Sein Bruder tot. Sein Vater tot. Der Mörder seines Vaters aber auch tot. Verdammt viele Menschen tot. Corin gefangen in einem Käfig. Ein Piratenkapitän, der für das Gute kämpft? Das war einfach zu schön um wahr zu sein. Aber es war tatsächlich wahr. Es war bestimmt wahr. Es musste einfach wahr sein. Corin wollte unbedingt, dass es wahr war. Wahr war. Wahr war.

Corin rieb sich die Stirn. Wahr war. Wahr war. Er hatte Kopfschmerzen und schwor feierlich, jedem W, das ihm in naher Zukunft über den Weg laufen würde, in den Hintern zu treten.

Das passte alles nicht. Er musste diese Leute hassen, aber gleichzeitig waren sie nicht nur ungeheuer sympathische Kerle, sie symbolisierten eben alles das, wovon Corin immer geträumt hatte. Grenzenlose Freiheit, Kampf gegen… na ja, gegen alles was ungerecht und gemein und doof war.

Abenteuer. Freundschaft. Loyalität.

Aber nein, er musste diese Leute hassen. Niemals würde er seinen Vater und Jonathan wieder sehen.

Jonathan und Vater waren tot. Er war noch am Leben. Was sollte aus ihm werden?

Er sah hinaus auf das dunkle Meer, auf dem sich das Mondlicht in tausenden Facetten brach.

Was sollte er denn jetzt tun? Er wusste es nicht. Was er jedoch wusste, war, dass definitiv nicht genügend blinder Hass in ihm steckte, um jetzt den Dolch zu nehmen und ihn Claas zwischen die Schulterblätter zu rammen – und damit ganz nebenbei sein eigenes Leben zu verwirken, denn die Piraten würden es sicher nicht dabei belassen, nur dumm aus der Wäsche zu gucken, würde Corin tatsächlich ihren Kapitän abstechen.

Corin seufzte, nahm den Scheibendolch und die Scheide auf und steckte beides zusammen. Das schleifende Geräusch der Klinge war Claas’ Stichwort. Der Hüne wirbelte herum und grinste über beide Ohren. »Holt ihn da raus, los«, rumpelte er und nur einen Augenblick später war ein Pirat mit einem großen Hammer auf das Dach des Käfigs gesprungen, holte weit aus, und fegte den Splint für die aufklappbare Stirnseite hinfort.

Claas griff in den Käfig, packte Corin am Arm und zog den Jungen heraus. Viele Piraten waren mittlerweile die paar Schritte von der Feuerstelle zum Hauptmast gekommen und bejubelten Corins ersten Schritt als freien Mann stürmisch.

Corin sah man die Zurückhaltung an. Aber ein Lächeln konnte er sich ob der vielen Hände, die ihm auf die Schultern schlugen, nicht verkneifen.

»Wie war noch mal dein Name, Junge?«, raunte Claas deutlich leiser als sonst und wuschelte mit seiner rechten Pranke durch Corins Haare. »Corin«. Claas packte den Jungen bei den Schultern und schüttelte ihn freundschaftlich. »Ich vergesse niemals, wenn mir jemand das Leben gerettet hat, Corin«, sagte Claas in eindringlichem Ton. Dann hob er einen Arm und adressierte die gesamte Meute. »Willkommen in der Familie, Corin!«. Die Familie war außer sich vor Begeisterung und Corin befiel die Sorge, noch eine weitere Hand, und seine Schultern würden einfach abreißen und auf den Boden fallen.

Johan fing wieder an zu fiedeln und Corin wurde zur Feuerstelle bugsiert.

Weiter hinten, im Dunkeln, stand Broklas, der die Szenerie genau beobachtet hatte. »So fängt es immer an«, murmelte er leise vor sich hin und hob besorgt die Augenbrauen.

»So fängt es immer an«.

77 Das Bier hatte meist deutlich weniger Alkohol als heute und war deshalb Grundnahrungsmittel noch vor dem viel zu schmutzigen Süßwasser.