4 Fast so schnell, wie die Tränen gekommen waren, hatte sie der abendliche Frühsommerwind auch wieder getrocknet.

Königin Margarete, Regentin über alle skandinavischen Reiche, stand am Fenster ihres Schlafgemaches. Irgendwo da draußen, weit, weit weg, lag Gotland. Ihr oberster Ritter und Feldherr Sven Sture war losgezogen, um die große Insel ihrem Einflussbereich zurückzuführen. Ihr oberster Ritter und Feldherr.

Margarete schloss die Augen.

»Meine große Königin«, hörte sie die weiche Stimme Sven Stures flüstern. Er knabberte mit seinen feinen Lippen Stück für Stück an ihrem Hals hinunter, dass ein Schauer nach dem anderen über sie hinwegrollte. Langsam drehte sie ihren Kopf auf den weichen Kissen ihres ausladenden Bettes und genoss die Wärme seines Atems in ihrem Gesicht. Margarete öffnete die Augen.

Da war Sven Sture. Sein Gesicht, mit den klarblauen, strahlenden Augen, den blonden, mittellangen Haaren, die nach vorne in Locken in sein braun gebranntes, jugendlich wirkendes Gesicht fielen. Margarete brauchte sich keine Statuen von Adonis aus Florenz beschaffen, denn dieser griechische Gott lag geradewegs neben ihr. Sie streichelte sein weiches Haar und über die weiche, frisch rasierte Wange. Die Königin nahm einen langen Atemzug und saugte eine große Portion Sture tief in ihre Lungen.

»Du musst gehen, mein Liebster«, flüsterte sie zurück, »die Sonne geht bald auf. Und meine Hofdamen fangen schneller an zu schwätzen, als ein Furz zur Nase steigt«. Stures Augen wurden größer und er hob seinen Kopf ein wenig. Solche Sprüche kannte er gar nicht, von Margarete, und wenn er ehrlich war, klang es auch ein wenig bemüht. Aber aus dem Munde einer solchen Frau, die staatsmännisches Genie, echte Frömmigkeit und kolossale Ambition vereinte, hatte es doch einen beachtlichen Unterhaltungswert. Er grinste breit und ließ den Kopf wieder sinken.

»Für Dänemark«, sprach er noch leiser als zuvor, und küsste sie auf den Mund. »Für Norwegen«, setzte er fort und küsste sie noch mal, um die Reihe mit »für Schweden« und einem letzten zärtlichen Schmatzer abzuschließen.

Gerade als er aufstehen wollte, hielt ihn Margarete zurück. »He«, fragte sie leise, »was ist mit Island und Grönland?«. Sture lächelte und küsste sie noch zwei weitere Male, »für Island. Für Grönland«. Langsam streichelte er über ihre Wange hinunter bis zum Kinn. Dann war sein Lächeln verschwunden. »Der größten Königin aller Zeiten«, hauchte er so leise, dass sie es kaum noch verstehen konnte.

Klack-klack-klack, klopfte es an der Tür und Margarete war wieder in der Gegenwart angekommen.

»Wer ist da?«, rief sie müde, ohne sich von der Fensteröffnung wegzudrehen. Gleich darauf öffnete sich die Tür einen winzigen Spalt. Das Auge von Margaretes Großneffen schulte durch die Öffnung und seine Stimme formulierte vorsichtig die Frage »Großtante?«.

Margarete wandte sich der Tür zu. Ihr Zorn lag ohnehin schon wieder sauber verpackt in einer abgegriffenen Schachtel auf einem Stapel unnützer Gefühle. Jetzt kam die Trauer noch in eine andere Schachtel und der Deckel oben drauf.

»Erik! Mein kleiner König. Komm herein!«, erwiderte sie so verdächtig freudig, dass angesichts der soeben erfahrenen politisch-militärischen, wie auch persönlichen Niederlage, jeder normale Untertan augenblicklich mit seinem Leben abgeschlossen hätte. »Aber lass die anderen draußen«, fügte sie trocken und mit tiefer Stimme hinzu, als sie durch den breiter werdenden Türspalt die neugierigen Blicke ihres Hofstaates bemerkte.

Der zwölfjährige Erik schritt mit respektvoll gesenktem Haupt auf die Königin zu und in Margaretes Gesicht war nun ein deutliches Lächeln zu sehen. Dieser wohlerzogene Junge würde eines Tages ihr Nachfolger29 werden, das war ihr fester Entschluss. Es gab noch viel zu tun, um ihn auf das vorzubereiten, was ihn erwarten würde, wenn er eines Tages das größte Reich Europas regieren würde – aber dass ihre Wahl richtig war, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Sie streckte die Arme in Richtung ihres designierten Erben aus, dieser machte einen letzten Satz und umschloss die Hüfte der Königin mit seinen Armen.

»Der Hofmeister sagt, du bist sehr wütend«, murmelte er in das Kleid der Regentin und Margarete streichelte sein blondes Haar. »Es ist nichts Schlimmes, Erik«, antwortete sie, und es war wieder einer dieser Augenblicke, in denen sie darüber sinnierte, wie sehr sie den Kleinen mit politischen Angelegenheiten konfrontieren sollte. »Haben die Schweden dich wieder geärgert, Großtante?«, fragte Erik und er neigte seinen Kopf nach hinten, so dass er Margarete direkt ansehen konnte. »Das sollen die nicht tun! Ich bin doch jetzt ihr König, ich werde ihnen befehlen, dich nicht mehr zu ärgern!«. Margarete lachte und klopfte ihrem Großneffen auf die Schultern, »Nein, nein, Erik, dieses Mal sind es nicht die Schweden«. Mit ihrer rechten Hand streichelte sie ihm über das Kinn. »Mit unseren Schweden werden wir schon fertig, glaub mir. Genauso wie mit den hansischen Kaufmannsdeppen und dem ganzen Rest der Welt«.

Erik nickte freudig und sein Blick fiel auf das schwere Silberkreuz, das Margarete immer um ihren Hals trug. Seine Finger fuhren über die kunstvolle Prägung und den porträtbemalten Elfenbeinstein in der Mitte des Kreuzes.

»Schau es dir an, unser Reich«, hörte er Margarete sagen, die den Kopf mittlerweile wieder zum Fenster gedreht hatte. Erik schaute. »Ist es nicht schön? Hat dir schon jemand von Schonen30 erzählt?«, wollte die Königin wissen. Erik schüttelte den Kopf. »Dort liegt ein prächtiges, altes Schloss«, begann Margarete zu erzählen, »neben einem kleinen Dorf direkt am Meer. Im September und Oktober kommen die Heringe aus allen Wassern zusammen und ziehen durch den Sund. Dann versammeln sich Fischer und Kaufleute aus der ganzen Welt in unseren schönen Landen und fangen die Fische. Und wie viele Fische. Es sind unzählige. Berge. Es sind so viele, dass man nur ins Wasser greifen muss und man hat einen zappelnden Hering in der Hand. So viele, dass man nicht umfallen kann, wenn man im Wasser steht«.

Eriks Augen waren größer und größer geworden. »Wirklich?«, fragte er ungläubig. »Ja«, bestätigte Margarete, und es war eines der längsten Jas die Erik je gehört hatte, »früher bin ich häufig mit Olaf dort gewesen«, setzte die Königin fort und Erik bemerkte sofort, dass der Unterkiefer seiner Großtante zu mahlen begann. »Mit dem Olaf?«, wollte er wissen und tippte auf das Elfenbein-Porträt in Margaretes Silberkreuz. Das Lächeln der Königin wurde keineswegs geringer, bemerkte Erik. Aber die Augen irgendwie trauriger. Die Königin nickte langsam. »Er liebte es, wenn die Heringe zu Tausenden um seine Beine herumsausten«, erzählte sie, packte Erik an den Hüften und begann ihn zu kitzeln, »und saus und saus und saus«, rief sie, während Erik anfing lauthals zu brüllen vor Lachen.

29 Nach skandinavischem Recht konnte es ohnehin nur männliche Thronfolger geben. Manchmal wird Margarete deshalb in historischen Quellen nur als Regentin erwähnt.

30 Heute Südwestschweden. Lateinisch Scania, daher Skandinavien.