18 Klank, klonk.
In einem war sich Jonathan sicher. Sein Gegner war nicht nur äußerst arrogant und von höchstem Adel, er war auch ein geübter Schwertkämpfer. Jonathans Präzision und Geschicklichkeit hatte der dreißigjährige Mann mit dem runden, bleichen Gesicht und den stechenden grünen Augen aber nur wenig entgegenzusetzen.
Klonk, klank. Eine kleine Parade.
Hätte Jonathan Zeit dazu gehabt, wäre er sehr schlechtlaunig gewesen. Diese ganze Geschichte hatte sich wirklich überhaupt nicht so entwickelt, wie er sich das vorgestellt hatte. Statt der Held des Tages zu sein, stand er nun umringt von einigen hundert Hofschranzen89 und Adligen vor dem Schloss und beulte sich mit einem Herzog. Mit einem Herzog! Bernard war tatsächlich Herzog eines weniger bedeutenden Landes weiter südlich, und Jonathan war froh, dass der Kampf auf ausdrücklichen Befehls Sophias hin nur mit stumpfen Waffen ausgetragen wurde. Es hätte sein neues Leben, egal wie das überhaupt aussehen würde, sicher enorm verkompliziert, wenn er heute einem Herzog nützliche oder gar überlebenswichtige Körperteile abtrennen müsste.
Klank, bamm!
»Treize«, zählte ein spindeldürrer Hofschreiber laut den erworbenen Punkt für Jonathan und warum der Mann das so weit von Luxemburg entfernt auf Französisch tun musste, war Jonathan ein Rätsel.
Wer zuerst 30 Punkte hatte oder den anderen entwaffnete. Das waren die Regeln. Bernard funkelte seinen jungen Gegner wütend an. Jonathan musste dringend den Namen von Bernards Herzogtum in Erfahrung bringen, damit er sich merken konnte, um welchen Landstrich er die nächsten tausend Jahre besser einen Riesenbogen machte.
»Aaargh!«. Klank, klank.
Der temperamentvolle Herzog kam angerannt und hieb zweimal schnell mit seinem Schwert auf Jonathan ein. Keine ungeschickte Attacke, aber problemlos für Jonathan zu blocken. Doch Bernard stieß mit der Faust seiner Linken gegen Jonathans Brust und setzte ein drittes Mal nach. Bamm. Der Hieb traf Jonathan an der Hüfte und schmerzte. »Cinq«, quäkte der Schreiber und zeigte auf den Herzog.
Die Zuschauer jubelten. Großartig, dachte Jonathan. Es stand dreizehn zu fünf für ihn, aber das Publikum war irgendwie nicht auf seiner Seite. Und Sophia war auch nirgendwo zu sehen.
Klonk, klank.
Dabei hatte der Tag so vielversprechend angefangen.
*
Es war ein warmer, sonniger Vormittag und Jonathan hatte das Schlossgelände verlassen, um in einer Fußwanderung die angrenzenden Dörfer zu erkunden. Kleine Felder mit grünem Roggen, lila Klatschmohn und bunten Wiesen säumten den staubtrockenen Weg und an der Grenze zum Wald hatten Imker Bienenkörbe aufgestellt.
Die Dorfbewohner grüßten Jonathan freundlich und der eine oder andere hielt kurz in seiner Arbeit inne, um den jungen Mann, der da zu Fuß in bester Kleidung durch ihr Dorf lief, neugierig zu mustern.
Dann kam der erste Schrei. Ein Schrei, mit dem der heutige Tag eine neue Wendung nehmen sollte. Die Bewohner blickten besorgt in die Richtung, aus der die verzweifelte Frauenstimme zu hören war und auch Jonathan hielt inne.
Wieder schrie eine Frau, ein langer, lauter, von Schmerzen kündender Klagelaut. Jonathan lief los.
Ein schmaler Weg führte von der Hauptstraße des Dorfes zu einer alten Hütte am Rande der Siedlung. Jonathan wusste schon deshalb, dass er hier richtig war, weil andere Einwohner sich ebenfalls eilig auf den Weg gemacht hatten, nun aber zögerlich neben drei Pferden vor dem kleinen alten Haus warteten. Die Tür der Bruchbude stand offen und drinnen ging es offensichtlich hoch her.
Jonathan umklammerte den nicht vorhandenen Knauf seines ebenfalls nicht vorhandenen Schwertes und fluchte lautlos. Dann ging er schnellen Schrittes in die Hütte, gefolgt von einigen Neugierigen, die sich die kommende Schau nicht entgehen lassen wollten und sich nun zumindest bis zum Türrahmen vorwagten.
»Was geschieht dann?«, brüllte Herzog Bernard die alte grauhaarige Frau an, die er mit beiden Händen am Kragen gepackt auf einen Tisch niedergedrückt hatte. Zwei identisch in hellgrün gekleidete Männer standen in der Ecke des Raumes und beobachteten das Spektakel aufmerksam.
Als Jonathan in den Raum stürmte, griffen beiden Leibgarden sofort nach ihren Schwertern, ohne diese jedoch zu ziehen. Jonathan blieb mitten im einzigen Zimmer der Hütte stehen und traf eine Entscheidung, die er vermutlich bedauern würde.
»Was macht Ihr denn da! Lasst sofort die Frau los!«, raunzte Jonathan den Herzog an und spürte sofort, dass er gerade einen Stein ins Rollen gebracht hatte, den er nicht mehr würde aufhalten können und der ganz hervorragend geeignet war, einem über alle möglichen Körperteile immer wieder lustig hinwegzurollen.
Der Herzog lockerte den Griff an der alten Dame und musterte Jonathan ungläubig. Die Frechheit, dass es jemand wagen konnte, ihm, einem Herzog, auf diese Weise gegenüber zu treten, verschlug ihm für einen Augenblick die Sprache. Das Gesicht des Nobelmannes verzog sich langsam, so als ob er gerade statt wohlschmeckendem Honigdessert, Kuhfladen mit Zitrone zu sich genommen hatte. »Wer seid Ihr denn?«, ätzte Bernard.
Das war eine gute Frage, fand Jonathan. Gut für den Herzog.
Jonathan drückte die Schultern nach hinten und versuchte, sich ja keine Blöße zu geben. »Ihr seid Gast in diesen Landen«, begann Jonathan seine Rechtfertigung und spielte seinen einzigen, mageren Trumpf aus – er hatte nämlich mitbekommen, dass eine Delegation eines fremden Herzogtums zu Besuch am Hofe Sophias weilte. »Das gibt Euch nicht das Recht, mit diesen Untertanen… so umzuspringen… wie Ihr es mit Euren Untertanen… vielleicht… nicht… oder doch tut«, stammelte sich Jonathan zu Rande und spürte, wie sein Gesicht sehr heiß wurde. Der Junge Giles hätte schwören können, dass er das Klatschen mehrerer bäuerlicher Hände auf die dazugehörigen Stirnen hörte.
Bernard ließ die alte Vettel90 los und Jonathan erwartete jeden Augenblick grüne Blitze aus den Augen des Herzogs zucken zu sehen. Bernard machte einen drohenden Schritt auf Jonathan zu und stemmte seine Arme in die Hüften. »Die Alte hier ist eine Hexe«, sagte er mit einem süffisanten Unterton, der eine Schnecke zur Raserei gebracht hätte, »und sie weigert sich mir Auskünfte zu erteilen. Dafür wird die alte Hexe büßen. Und zwar auf der Stelle«.
Irgendeine Instanz in Jonathans Gehirn wedelte mit zwei großen weißen Flaggen und bereitete gleichzeitig in einem Großalarm alles dafür vor, den Mund fest zu verschließen und die Stimmbänder dem Haftrichter vorzuführen.
»Das glaube ich aber nicht«, gab Jonathan trotzig zurück und die besagte Instanz in seinem Gehirn fiel auf der Stelle in Ohnmacht vor Schreck. Das hatte er nicht wirklich gesagt, oder? Doch, hatte er. Jonathan fühlte, wie diverse seiner Körperteile abwechselnd heiß und kalt wurden.
Bernard machte noch einen Schritt auf Jonathan zu und es war nicht zu übersehen, dass der Adlige seinen Ohren kaum traute. Der Nobelmann zog langsam sein Schwert und die Leibgarde in der Ecke des Raumes tat es ihm nach. Bernard hob gemächlich die Waffe und richtete sie auf Jonathan. Der ließ sich nichts anmerken. »Wenn Ihr kämpfen wollt«, sagte Jonathan mit fester Stimme und war plötzlich irre Stolz auf sich, »dann stehe ich Euch gerne zur Verfügung«. Der Herzog lächelte, nickte kurz und senkte dann seine Waffe wieder.
Ermutigt von diesem Erfolg hielt Jonathan den Augenblick für gekommen, die Gesprächsführung in die Hand zu nehmen. »Nur weil die Frau keine Auskünfte erteilen will, kann man sie wohl kaum als Hexe beschuldigen«, wagte sich Jonathan vor. »Ihr könnt doch nicht einfach umherstolzieren und alte arme Frauen der Hexerei bezichtigen«, setzte er fort und die bereits erwähnte Instanz in Jonathans Kopf, die soeben aus der Ohnmacht erwacht war, fing sofort wieder an hektisch mit den Warnflaggen zu wedeln. »Sagt mir, findet Ihr wirklich, dass diese Frau aussieht wie eine Hexe?«. Das war zu viel für die Instanz. Sie erlitt einen schweren Weinkrampf.
Alle Blicke richteten sich auf die alte Frau, die immer noch auf dem Tisch lag und sich nun mühsam mit den Ellenbogen hochstemmte. Die Dame mit dem durchaus freundlichen Gesicht lächelte Jonathan dankbar an. Da Giles das heiß-kalt Spiel bereits durch hatte, entschied sich sein Körper nun für Taubheit. Das war ja auch immer ganz schön. Denn die Alte war, um es kurz zu machen, rein äußerlich die perfekte Hexe.
Hätte Jonathan sechshundert Jahre später gelebt, wäre dies das Antlitz gewesen, das er auf einem Hochglanz-Hexenmagazin hätte bewundern können – und zwar jede Woche, denn dieses Portrait mit den grauen, wirren Haaren, dem faltigen, aschfahlen Gesicht und den schwarzen stechenden Augen war die Personifizierung tausendjährigen Hexenglaubens.
Jonathan hätte laut aufheulen können. Nun musste er schnell handeln: Die Instanz in seinem Kopf ahnte, was kommen würde, tupfte sich schnell die Tränen ab und bäumte sich zu einem letzten Rettungsversuch auf. Ein Schwall von Gefühlen und Vorahnungen durchflutete Jonathans Körper, sein Magen, sein Bauch, sein Kopf. Alle Körperteile wollten ihn warnen, auf eine seltsame und undefinierbare Weise, aber doch mit einem Tenor, der mehr oder weniger auf die folgende, nicht sonderlich romantische Botschaft hinauslief: Halt verdammt noch eins dein dämliches Maul, Arschloch.
Aber es war zu spät.
»Sagt mir, gute Frau, ihr seid doch keine Hexe?«, fragte Jonathan rhetorisch. Die Miene der Alten hellte sich auf. »Natürlich bin ich eine Hexe, mein Junge«, antworte das Miststück glucksend. Jonathan schürzte die Lippen und nickte. Bernard lachte. Seine Leibgarde grölte.
Jonathan hatte eine wichtige Lektion erhalten, auch wenn er momentan noch nicht wusste, worum es darin genau ging.
Bernard hatte schnell genug von der Alten. Die Tatsache, dass sich Jonathan dermaßen lächerlich gemacht hatte, schien den Herzog für seinen Ärger zu entschädigen, zumal sich später herausstellte, dass die sogenannte Hexe mit Wissen der Obrigkeit ihren Tätigkeiten nachging und sich nicht als Zauberkundige erwiesen hatte. Und nur das Zaubern war streng verboten und unter Strafe gestellt.
In Unwissenheit von Jonathans Fähigkeiten bestand der Herzog jedoch auf einem Zweikampf, der auf ausdrückliche Anweisung Sophias hin aber nur mit stumpfen Waffen ausgeführt werden durfte und noch am späten Nachmittag stattfinden sollte.
*
Klank, klonk, bamm.
»Dix-neuf«, quäkte der Schreiber und kündigte damit Jonathans neunzehnten Pluspunkt an. Einige wenige Zuschauer jubelten, die meisten jedoch grummelten nur. Es war Jonathan ein Rätsel. Der Herzog hatte nicht den Hauch einer Chance auf den Sieg, war jähzornig und hochnäsig. Hässlicher Drecksack traf es recht gut, befand Jonathan.
Drecksack atmete tief durch und funkelte Jonathan wütend an. Dann setzte er zu einer neuen Attacke an. Jonathan erkannte schnell, dass es sich um das gleiche Muster wie immer handelte. Zwei schnelle Angriffe, ein Faustschlag, Nachsetzen. Er parierte die beiden Angriffe und wich dann mit dem Oberkörper flink zur Seite. Bernard hieb mit seiner Faust ins Leere und Jonathan nutze den Impuls des Herzogs um ihm mit einem kräftigen Schlag auf den Rücken das Gleichgewicht zu nehmen. Drecksack fiel vorne über auf den Boden, drehte sich schnell auf den Rücken und wollte sein Schwert gerade zum Block heben – da hatte er Jonathans stumpfe Klinge bereits an der Kehle.
»Das war’s Eure Durchlaucht«, offenbarte Jonathan dem Herzog, »gebt auf«. Die kleine Fehde war vorbei und alle wussten das. Jonathan hatte überhaupt keine Lust mehr, diesen Blödsinn auch nur einen Augenblick lang weiter zu treiben. Bernard war erwartungsgemäß wenig begeistert, erkannte aber die Lage und ließ schließlich Kopf und Arme auf den Boden sinken. Ein Raunen ging durch die Menge und einige Zuschauer klatschten Beifall.
Jonathan nahm die Waffe zurück, drehte sich um und steckte das stumpfe Schwert in eine Scheide, die ihm von einem Helfer angereicht wurde. Der junge Bedienstete, der Jonathans Sachen verwahrt hielt, blickte erschrocken an ihm vorbei und zuckte zusammen.
Bernard hatte sich eilig aufgerafft, das Schwert immer noch in der Hand, und mit einem Satz war er hinter Jonathan gelandet, holte mit dem rechten Bein aus und trat Jonathan von hinten so dermaßen heftig zwischen die Beine, dass mehrere Zuschauer entsetzt aufschrien.
Der Begriff Fuß-Ball bekam für Jonathan augenblicklich eine völlig neue Bedeutung. Seine Knie wurden weich und er sank zu Boden. Durch zusammengepresste Kiefern zwängte sich ein langes Grunzen und die Arterien auf Schläfen und Hals traten so deutlich hervor, dass man wandelnde Blindschleichen unter Jonathans Stirn hätte vermuten können. Er rechnete damit ohnmächtig zu werden, aber den Gefallen tat ihm sein Bewusstsein nicht. Sein Schwert fiel aus der Hand.
»Gagnant91: Duc92 Bernard«, kürte der Schreiber den Herzog als Gewinner, denn die Regeln waren ja so simpel wie eindeutig gewesen: 30 Punkte oder Entwaffnung. Die Menge jubelte verhalten.
Jonathan krümmte sich auf dem Boden. Der Schmerz war abartig. Sein Zwerchfell verkrampfte sich so sehr, dass es seinen Lungen fast unmöglich war Luft aufzunehmen. Ein paar helfende Hände streckten sich ihm entgegen, aber Jonathan wollte keine Hilfe. Er drehte das Gesicht zu Boden und eine Träne nahm den direkten Weg gen Erde ohne den Umweg über seine Wange zu bemühen.
Jonathan stöhnte, als ein wackliger Atemzug gelang. Er wollte nur alleine sein.
Er war doch allein. Ganz allein.
Gerade als er diesen Tag als einen der wirklich schlimmen in seinem Leben verbuchen wollte, kam diese große, schwarze, kalte Wand hinter der sich die Erinnerung an den Tod seiner Familie versteckt hatte, hinter der Jonathan die Erinnerung versteckt hatte, in der Hoffnung, er würde das Versteck nie wieder finden. Das war eine ziemlich dämliche Hoffnung, wie der junge Giles soeben feststellen musste.
Jonathan stöhnte nochmals.
Wenn extremer physischer Schmerz sich mit maximaler Erniedrigung mischte und auf den ganzen Kladderadatsch noch eine kräftige Prise verdammt mieser Erinnerungen gerieselt kam, war der Zeitpunkt automatisch ein prima Kandidat für eine zukünftige, noch miesere Erinnerung.
Schmerz und Scham waren zu viel. Jonathan wand sich auf dem Boden.
Er war ganz allein.
Zuviel. Allein.
Eine kühle Hand berührte Jonathans Schläfe und der Schmerz bekam einen Maulkorb. Die Hand strich durch seine Haare und Jonathan fand die Kraft für einen tiefen Atemzug.
»Das geht vorbei«, flüsterte Sophia und hellgrüner Efeu rankte über die schwarze Wand.