9 Diese Feier war verdammt langweilig.
Sophia konnte sich nicht über mangelnde Aufmerksamkeit der Gastgeber beschweren, einer Gruppe hoher Adeliger, die hier an der Küste eine wahre Zeltstadt hatten aufbauen lassen, um ein Fest zu Ehren ihrer jungen Herzogin zu geben.
Doch Herzogin Sophia saß am Kopfende des größten Tisches im größten Zelt, umgeben von ihren schnatternden Hofdamen, und langweilte sich nun einmal. Von all den Festen und Feiern, an die sie sich erinnern konnte, war dieses hier das mit Abstand belangloseste, und würde sie alle Dinge aufzählen, die in ihrem Leben bisher wirklich langweilig waren, dann wäre alleine die Beschäftigung mit jener Aufzählung immer noch spannender als dieses Fest.
Sophia seufzte und bemühte sich, dass ihr perfekt aufgesetztes Lächeln in ihrem jugendlichen, schönen Gesicht keinerlei Schaden nahm. Anfang 20 war sie jetzt, aber sie fühlte sich wie eine alte Frau. Sie schaute auf ihre Hofdamen, die allesamt in ihrem Alter und eifrig untereinander ins Gespräch vertieft waren. Es fielen Worte wie Mann und Ritter und starker Arm und so weiter, und natürlich war es klar, dass es nur ein Thema gab, und das hatte direkt oder indirekt mit menschlicher Fortpflanzung zu tun.
Herzogin Sophia seufzte noch einmal. Diese Frauen faszinierten sie irgendwie. Jeder einzelne Satz, den sie aussprachen, handelte von dem Einen, aber natürlich wurde nie direkt darüber gesprochen. Die Hofdamen hatten diese Kommunikation so weit perfektioniert, dass selbst ein Satz wie »Sieh mal da, eine schöne blaue Libelle«, sofort anzügliches Gekicher nach sich zog und unverschlüsselt in etwa der Wertigkeit von öffentlich praktizierter Kopulation auf einem belebten Marktplatz entsprach. Selbstverständlich waren alle Hofdamen noch Jungfrauen.
Ein dritter Seufzer kam von Sophia. Sie musste an ihren Mann denken, den Herzog, der seit Monaten auf Gotland einer zum Scheitern verurteilten Mission nachging. Seine Abwesenheit und seine Fähigkeiten im herzoglichen Bett führten dazu, dass sich Sophia mehr oder weniger so fühlte, wie eine Jungfrau.
Gerade wollte die Herzogin ihre Hofdamen animieren für ein bisschen Unterhaltung zu sorgen, da schwankte ein grölendes Mitglied der gastgebenden Aristokratie in das Zelt.
Von Reddich, der dicke, glatzköpfige Reddich, das hatte Sophia gerade noch gefehlt, und sie bat in einem Stoßgebet ihren Schöpfer um das Zusammenbrechen des Zeltes oder zumindest eine kleine Naturkatastrophe. Für einen kurzen Augenblick gab sie sich der wonnigen Vorstellung hin, sie könne ihren zwei Wachen, die in Hab-Acht-Stellung zwei Schritte hinter ihr an der Zeltwand ausharrten, befehlen, das dicke Schweinchen Reddich mit ihren Hellebarden58 nach draußen zu rollen.
Aber das ging natürlich nicht. Schon hatte sich Reddich vor Sophia aufgebaut und verbeugte sich so ungeschickt, lang anhaltend und tief, dass sie sich fragte, ob sich Reddich jemals wieder aufrichten würde. Und könnte. Und wollte. Oder ob er eher anfangen würde im Boden nach Trüffeln zu suchen.
Soviel war klar, Reddich war ungefähr so betrunken, wie eine Nonne bei ihrem Ordensgelübde es nicht war. Nämlich total. Das war nicht weiter verwunderlich, denn die Mengen an Wein und Starkbier, die man zu diesem Fest aufgefahren hatte, waren beachtlich.
Düster erinnerte sich Sophia an einen jungen Mann irgendwo draußen, der dabei gewesen war seinen Mageninhalt nach Farbe zu sortieren. Meine Güte, dieses Fest war einfach…
»Meine allerdurchgelauchtigste aller meine Herzogin«, gab Reddich irgendwie von sich, als er wieder relativ aufrecht stand, und dabei mahlte er mit seinem Unterkiefer, als würde er tagsüber auf einer Weide stehen und wiederkäuen. »Ich muss Ihnen sagen«, schrie Reddich, »dieses Fest ist das beste, das unser schööönes Mecklenburg je gesehen hat«, lobte er seine Sippe und sich selbst schamlos.
»Werter Reddich«, erwiderte Sophia professionell, »wir danken für Euer Kompliment, das prächtige Fest und wünschen noch einen schönen Abend«. Die Herzogin nickte freundlich. Nicht einmal ihr Beichtvater hätte ahnen können, dass sie keinen Moment zögern würde Reddich in die nächste Jauchegrube zu schubsen, so echt wirkte ihr Lächeln. So echt, dass Reddich gar nicht auf die Idee kam, abzuziehen. »Ja«, trompetete er näselnd, »ein wunderschöner Abend. Ein ganz wuuundervoller Abend ist das. Ja.«, bestätigte er nickend, und wartete auf Sophias noch intelligentere Antwort.
»Ihr könnt jetzt gehen«, sang Sophia und setzte ein noch aparteres Lächeln auf, das sie eigentlich nur für die Hinrichtung von Attentätern reserviert hatte. Reddich verbeugte sich nochmals, nahm dann irgendeinen Weinkelch, der auf dem Tisch stand, und prostete in die Runde. »Auf unsere große Herssogin Sophia!«, rief er in die Runde und neben den Hofdamen gab es noch einige andere Anwesende, die den Toast belustigt erwiderten. Dann torkelte Reddich endlich aus dem Zelt.
Sophia holte tief Luft, sehr tief Luft, und schloss die Augen. Es tat ihr leid, was sie über den dicken Reddich gedacht hatte. Eigentlich war er ein netter, fetter Mann und sie war diejenige, die schlechte Laune hatte. Und sich langweilte.
»Kinder«, rief die junge Herzogin leise und verschaffte sich sofort Gehör bei ihren Hofdamen, indem sie mit der Hand auf den Tisch klatschte. »Wer kommt mit ans Wasser?«, übte sich Sophia in rhetorischen59 Fragen. Die vier Mädchen waren sofort Feuer und Flamme.
*
Der Mond zauberte einen unheimlichen, blauen Schimmer auf das ruhige Meer, das sich in kleinen Wellen am Sandstrand brach.
Die Wogen waren so unscheinbar, dass sie kaum ein Geräusch erzeugten, zumindest kaum ein hörbares, denn die Luft war so vom Schreien, Jauchzen, Quieken und Johlen der vier Hofdamen erfüllt, dass die beiden Leibgardisten Sophias regelmäßig das Gesicht verzogen, in der irrigen Hoffnung, das würde den quälenden Schalldruck auf die gepeinigten Trommelfelle etwas mindern.
Auch Sophia selbst ließ sich von diesem wirklich einfachen Vergnügen anstecken, hatte ihre Stimmbänder aber unter Kontrolle. Da kam wieder eine kleine Woge den feinen Sandstrand hinauf gekrochen und fünf junge Damen tippelten barfuß die Wellenfront entlang. Wurden die Füße vom Wasser getroffen, durfte man zur Belohnung wie am Spieß schreien und das ließen sich zumindest die Hofmädchen nicht zweimal sagen.
Sophia kicherte. Ja, das hier konnte man wahrlich einen saublöden Spaß nennen, aber warum denn auch nicht. Sie wagte zwar nicht, sich auszumalen, zu welchen Druckwellen ihre Mädchen in der Lage gewesen wären, wenn plötzlich ein wirklich großer Brecher kommen würde. Sie schnaubte dann aber vor Lachen, als sie sich eine klitschnasse Hofdame Catharine vorstellte, die mit Seetang und sehr genervt dreinschauenden Krebsen behangen, den Mond in zwei Hälften schrie.
Und schon hatte Catharine, zugleich Sophias älteste Freundin am Hof, das Wasser bis zu den Waden stehen und brüllte sich freudig die Seele aus dem Leib. »Schön kalt«, quietschte sie nach ihrer ohrentötenden Sinfonie und alle Würmer und Mollusken60 im Umkreis einer Meile waren sicher heilfroh, dass der liebe Gott ihnen ein Gehör bis dato verweigert hatte, dachte sich Sophia.
Catharine hob ihr langes Kleid noch höher und wagte sich weiter ins Meer, das an dieser Stelle so seicht war, dass man noch in großer Entfernung vom Strand stehen konnte. Der Sand unter ihren Füßen war weich und nur selten störte eine Muschel oder ein kleiner Kiesel. Catharine blieb endlich stehen und sah sich um. Es war großartig. Das Wasser reichte ihr nicht einmal bis zu den Kniekehlen, und doch hatte man das Gefühl, von Meer umgeben zu sein. Die Hofdame holte tief Luft und genoss die frische Luft. »Kommt her, es ist ganz flach!«, schrie sie den vier Frauen am Strand zu und lachte.
Sophia war die erste, die ihr Kleid ebenfalls höher zog und sich aufmachte. »Es ist ganz feiner Sand. Und das Wasser ist gar nicht mehr kalt«, versuchte die Herzogin ihre Untergebenen zu ermutigen, die etwas unentschlossen am Strand vor den auslaufenden Wellenfronten standen, und wohl lieber noch ein wenig länger gekreischt hätten.
Der Mond warf eine Schneise aus Licht auf die Wasseroberfläche und Catharine glaubte irrigerweise, sie könne vielleicht bis nach Schweden sehen, so hell war der blau glänzende Keil auf dem Meer.
Da! Da war tatsächlich etwas, weit draußen. Ein Schiff! Ein Segelschiff, das gerade unter dem Mond den Horizont passierte. Dunkel war das Schiff. Unheimlich. Kein Licht flackerte an Bord, nur die finsteren Umrisse waren zu sehen. Catharine schauderte.
»Hey, du alte Krabbe«, grüßte Sophia lachend, als sie auf Catharines Höhe angekommen war. »Da ist ein Schiff«, murmelte Catharine ohne den Blick von dem Schemen zu nehmen. Sophia hielt inne und folgte Catharines Blick. Es war schwer zu erkennen, was da eigentlich genau fuhr und Sophia kniff die Augen zu einem Spalt zusammen.
»Warum hat es kein Licht?«, fragte Catharine, leise, und so ernst, dass ihr selbst ein Frösteln über den Rücken lief. Es gab doch nichts Großartigeres als sich selbst in Schrecken zu versetzen.
Plötzlich war das Wasser wieder eiskalt. »Es ist nah«, analysierte Sophia das auf und ab des Schattens, »sehr nah sogar«. »Wunderbar«, nuschelte Catharine in einer originellen Mischung aus Panik und Ironie. Schnell machte sie einen Schritt zurück. »Es kommt auf uns zu«, machte Sophia das Maß voll und Catharine hatte plötzlich das Gefühl, eisige Krakenarme würden nach ihr greifen. Ohne weiteren Kommentar und glücklicherweise ohne einen Mucks von sich zu geben, trampelte Catharine in Richtung Strand und all die Vorsicht, ihr Kleid nicht nass werden zu lassen, war plötzlich dahin.
Sophia starrte das Schiff weiter an. Dort wo eigentlich ein Segel stehen sollte, ragte nur ein dünnes Etwas hervor. Ein Mast? Ein schiefer Mast. Was für ein Gefährt das auch immer war, es schien eher aus einer Plattform zu bestehen. »Das ist gar kein Schiff«, rief Sophia zurück an den Strand und langsam kam Leben in ihre gelangweilte und geräuschgeplagte Leibgarde.
Nein, das war kein Schiff, eher ein Boot, und es war tatsächlich nah, sehr nah, viel näher, als es den Anschein hatte.
Irgendetwas bewegte sich an Bord des Gefährts, ein wabernder Schatten. Sophia spürte, wie Brust und Schultern kribbelten vor Aufregung. Aber sie war nicht die Art von Mädchen, die vor dem Unbekannten davon lief. Im Gegenteil. Sie machte ein paar Schritte auf das Ding zu.
Da, wieder bewegte sich was an Bord! Sophia hielt inne und verwünschte die Dunkelheit. Sie schätzte, dass der Gegenstand vielleicht noch 50 Schritte von ihr entfernt war, mehr nicht. Es war nicht einmal ein Boot, es war nur ein großes Stück Holz, geformt wie eine Tischplatte, aus der ein Brett fast senkrecht nach oben ragte. Ein Lappen hing auf halber Höhe an dem Brett und flatterte lustlos im lauen Wind.
Das war alles! Sophia lachte und holte tief Luft. Ein großes Stück Holz im Wasser! »Es ist nur Treibgut, ihr Angsthasen«, schrie sie ihren Untergebenen zu und winkte. Verrückt, dachte die Herzogin grinsend, welche Streiche einem die Augen und ein bisschen Angst spielen konnten. Statt eines großen Schiffes war da vor ihr nur ein Konstrukt aus alten Balken und Brettern mit ein paar Lappen und mit - irgendetwas darauf. Sophia hatte sich schon halb gen Strand gedreht und wollte losmarschieren, da bemerkte sie den Haufen auf der Holzkonstruktion. Sie machte fünf weitere Schritte auf das Treibgut zu und ihr stockte der Atem. Da lag jemand. Ein Mensch! Ein Körper lag regungslos auf den Brettern. »Wachen!«, brüllte sie plötzlich ihre Leibgarde zu Hilfe und die entledigten sich nun in Windeseile ihrer Waffen und Beinschienen und stürmten in das Wasser.
Catharine und die drei Hofdamen machten noch einen Schritt auf den trockenen Sand zurück und hielten sich gegenseitig fest, in der verzweifelten Hoffnung, eine von ihnen könnte im Falle kollektiver Ohnmacht die anderen drei am Umfallen hindern. »Was ist denn da?« rief Catharine mit bebender Stimme, ohne eine Antwort zu erhalten. »Cristina, Doro, holt Fackeln und Decken«, befahlt Sophia ihren Hofdamen und als die sich einen Augenblick später noch nicht aus ihrer Klammerung zu lösen vermochten, brüllte sie ein »schnell!« hinterher. Die zwei Hofdamen eilten davon.
Die Herzogin hatte das Floß erreicht und zerrte es in Richtung Strand. Nur wenige Augenblicke später kam ihre Leibgarde zu Hilfe und übernahm den Transport. Sophia richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Körper, der auf den Planken und Bohlen lag.
Es war ein Mann, soviel konnte Sophia sehen, er lag auf seinem Rücken und war tot, denn sein Gesicht war kalkweiß und der Bauch verriet keine Atemtätigkeit.
In ungeheurem Tempo hatten die zwei kräftigen Leibgardisten das Floß an den Strand geschoben und keuchten nun erschöpft.
Die verbliebenen Hofdamen näherten sich dem Körper, und Catharine hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. »Ein Toter!«, murmelte sie schockiert durch die Finger und die andere Hofdame war nicht weniger erschüttert. »Durchlaucht«, bat Catharine ihre Herzogin mit zitternder Stimme, als Sophia sich daran machte, den Körper zu inspizieren, »Ihr solltet das lieber den Gewöhnlichen überlassen. Bitte!«.
Aber Sophia dachte gar nicht daran. Der Mann war jung, vielleicht Anfang zwanzig. Er hatte ein paar kleinere Schnittwunden an den Armen und sein Schlüsselbein war gebrochen. Sophia strich dem Mann die Haare aus dem Gesicht und fühlte seine Stirn. Eiskalt. Sophia erschauerte. Der Junge musste seit Tagen da draußen gewesen sein. Er hatte ein Kettenhemd über dem Oberkörper und die Herzogin schob es so weit nach oben, dass Bauch und Brust nun teilweise frei lagen.
Cristina und Doro kamen mit Fackeln und Decken zurück gelaufen. »Sie bringen einen Wagen«, rief Doro außer Atem. »Gleich kommt Hilfe«, ergänzte Cristina keuchend und die beiden Hofdamen reichten ihre Fackeln weiter an die Leibgarde.
Sophia hatte ihr Ohr auf die Brust des Körpers gepresst und horchte. »Er lebt!«, rief sie erstaunt, und tastete mit den Fingern nach der Halsschlagader des Fremden. »Er lebt!«, rief sie nochmals und im Licht der Fackeln konnte man den bewusstlosen Jonathan nun besser sehen.
Die vier Hofdamen machten einen Schritt vor. Der Mann war nicht nur jung, er war auch ausgesprochen gut aussehend. Die kränkliche Hautfarbe hin, seine Verletzungen her, der Junge war das attraktivste, was ihnen in der letzten Zeit über den Weg gelaufen, äh, geschwommen war.
»Wir müssen ihm die nassen Kleider ausziehen, schnell«, sagte Sophia ernst, als sie ihre Untersuchung beendet hatte. Das musste sie den Mädchen nicht zweimal sagen. »Wer ist das wohl«, murmelte Doro leise zu den Hofdamen, während sie gemeinsam die Lederschuhe Jonathans auszogen. »Er sieht aus wie ein Ritter oder Edelmann«, schwärmte Catharine flüsternd. »Ach was«, tuschelte Cristina, »schaut euch doch seine Kleider an. Eher ein Kaufmannssohn«. »Das glaube ich nicht«, raunte Catharine, »aber selbst wenn. Macht das irgendeinen Unterschied?«.
Für einen kurzen Augenblick hüpften die Blicke der Hofdamen abwägend von einem Gesicht zum anderen.
Dann stürzten sie sich erneut auf Jonathans nasse Kleidung.