3 Das wäre jetzt die letzte Gelegenheit, es sich anders zu überlegen, Herr Giles«, gab Dywig ein letztes Mal zu bedenken und seine hochgezogenen Augenbrauen zeugten von Besorgnis.

Jasper Giles lächelte warm und schlug dem alten Vertrauten mehrfach auf die Schulter. Es war ein weiter Weg von Luxemburg bis an diesen Ort, aber erst der Anfang einer noch längeren Reise weiter in den Norden. Und der Anfang eines großartigen Geschäftes, da war sich Jasper Giles ganz sicher. »Mach dir keine Sorgen, guter Dywig«, beruhigte er den Mann, der nun schon seit einem Vierteljahrhundert für ihn als Handelsvertreter die Welt bereiste, »hier im Norden ist es lange nicht so gefährlich wie zu Hause«. Monsieur Giles hatte nicht den Hauch einer Ahnung, dass er tödlich irrte.

Eine Seemöwe kreischte wütend, als ihr ein frecher Artgenosse gerade ein leckeres Stück Fischgedärm vom Kai des Hafens wegpickte. Die Uhr am fernen Turm des Domes schlug bereits sieben, aber immer noch waren hunderte von Menschen damit beschäftigt, die vielen großen und kleinen Schiffe im Hafen zu be- und entladen.

Caspar Dywig und Jasper Giles standen neben dem großen Pferdegespann, der Wagen war nun leer. »Ich mache mir viel mehr Sorgen über dich und deine Reise nach Santiago25, die ungleich gefährlicher ist«, wollte Giles den alten Dywig provozieren. Und das schien auch zu gelingen. »Ha!«, lachte Dywig und er hob seine längst erloschene Pfeife, die er immer noch in der linken Hand trug. »Macht Euch keine Gedanken, Herr. In acht Monaten treffen wir uns wieder, und dann wird sich zeigen, wo das bessere Geschäft auf uns wartet«.

Nochmals klopfte Giles dem Haudegen fest auf die Schulter. »Möge Gott dich ewig schützen, guter Dywig«, wünschte Giles und jedes Wort kam von tiefstem Herzen. »Gott auch immer mit Euch, Herr«, erwiderte Dywig fest und drückte mit seiner Rechten lange Giles' Handgelenk. »Und passt mir gut auf Eure beiden Jungs auf!«, setzte Dywig schließlich hinzu, was Giles mit einem noch breiteren Lächeln versprach.

»Du kleine schleimtriefende Missgeburt!«, brüllte eine Stimme von dem großen, dreimastigen Segelschiff, das ein Stück weiter am Kai lag und auf welches mittlerweile alle Tücher vom Wagen verladen worden waren. Jasper Giles drehte sich auf dem Absatz und sein Gesicht verfinsterte sich.

Die Maria Van Brügge war eines der größten Schiffe im Hafen und in ihrem ungeheuer breiten Bauch verschwanden die Tücher der Manufaktur Giles fast unmerklich neben Unmengen von Fässern mit gesalzenem Hering, Bier, Gewürzen und großen Netzen voll mit kostbaren Tierfellen. An Deck, mehrere Mannshöhen über dem Niveau der Kaimauer, ging ein gutes Dutzend Matrosen eifrig unterschiedlichen Arbeiten nach. Einige schlossen die großen Luken zum Laderaum, andere sortierten Tauwerk, wieder andere schleppten Kisten mit Proviant in die zweistöckigen Aufbauten am Bug26 und Heck des Schiffes, in denen Kabinen für Mannschaft, Schiffsführung und Reisende untergebracht waren.

Eine schlecht gelaunte Ziege jagte gerade ein genervtes Huhn über das Deck, was aber keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zog, denn gleichzeitig, und mit deutlich mehr Getöse, jagte ein schlecht gelaunter Jonathan seinen jüngeren Bruder Corin über das Schiff.

»Ich reiß‘ dir die Eingeweide raus, du kleine eiternde Pockengurke«, begann Jonathan von neuem, während er Corin mit einem Satz über einen Haufen Seile folgte. Sein kleiner Bruder schlug grinsend einen Haken und machte eine Kehrtwendung um den Hauptmast, der aus dem Mitteldeck emporragte. Corins linke Hand war pechschwarz, was seine einfache Erklärung darin fand, dass es Pech27 war, welches an seiner Hand klebte. Und ein Blick auf Jonathans pechverschmiertes Gesicht brachte auch schnell die Erklärung für dessen mordlustige Stimmung.

Wieder schlug Corin einen Haken und machte einen eleganten Riesensatz über eine Kiste, die gerade von zwei Seemännern über das Deck getragen wurde. Jonathan machte es sich einfacher und lief hinter den beiden Matrosen vorbei, bemüht, niemanden anzurempeln. Blitzschnell hatte sich Corin schon wieder davon gemacht und sauste zurück in Richtung Hauptmast, immer noch breit grinsend. Er sah sich um und bemerkte, dass Jonathan ihm natürlich noch auf den Fersen war, aber wenn sein großer Bruder weiter so lahmte, würde der ihn nie erwischen. »Ha!«, rief er feixend aus und gerade als er sich wieder umdrehen wollte, haute es ihm mit Wucht den Atem aus der Brust. Corin war mit dem ganzen Impuls seines beschleunigten Körpers gegen den muskulösen Arm des Kapitäns28 gelaufen.

Bolt war ein griesgrämiger, unrasierter Muskelprotz mit wuscheligen, schwarzen Haaren, blitzenden braunen Augen und den Armen eines Riesenkraken. Zwar schätzte Jonathan die Anzahl der oberen Extremitäten des Schiffsmeisters auf weit unter acht, das änderte aber nichts an deren Effektivität. Corin fiel wie ein gefällter Baum und schlug hart mit Rücken und Hinterkopf auf das Holzdeck.

»Hey!«, grollte Bolt und Jonathan, der nun ebenfalls den Mast erreicht hatte, war sofort überzeugt, dass dieser Mann fließend Riesenkrakisch sprach und seiner Mutter zum Heiligen Abend unter Küsschengabe sicherlich wertvolle Pflegemittel überreichen würde, die für besonders geschmeidige Saugnäpfe sorgten.

»Hier wird nur dann gelaufen, wenn ich es befehle. Ist das klar?«, dröhnte Bolt und Jonathan kam nicht umhin sich vorzustellen, wie Bolt und Mutter Riesenkrake gemeinsam beim Kaffeekränzchen Rezepte zur Zubereitung von kleinen Kindern austauschten.

Corins Körper schmerzte. Aber das hatte er wohl nicht anders verdient. Eingeschüchtert nickte er Bolt zu. Der Kapitän sah sich noch einmal zu Jonathan mit seinem schwarz verschmierten Gesicht um, dann brummte Bolt irgendetwas Unverständliches und vermutlich Riesenkrakisches, und stampfte missmutig davon.

25 Santiago de Compostela in Galizien, ganz im Nordwesten Spaniens.

26 Vorderteil eines Schiffes.

27 Schwarze, teerartige Masse zum Abdichten

28 Als Kapitäne wurden die Schiffsführer zu jener Zeit allerdings nur sehr selten bezeichnet