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Irmi hatte den Sonntag damit verbracht, Dachsenprügel zu entasten und zu stapeln. Der Montag begann mit einer kleinen Lagebesprechung im Büro. Kathi hatte Irmi vom Mittelalterfest ein Trinkhorn mitgebracht und war erstaunlich gut gelaunt. Wahrscheinlich hatte sie irgendeinen Barbaren oder Ritter oder sonst wen vernascht. Solche Eskapaden belebten Kathi immer ungemein. Seit sie ihren Veganer-Freund Sven abgeschossen hatte, war sie wieder zu einem eher promisken Lebensstil übergegangen.

Kathi hatte auch schon die Zeitungen vom Wochenende gesehen, Andrea hatte sich einen Mitschnitt der Sendung in Radio Oberland besorgt. Irmi hörte ihre eigene Stimme und fand, dass sie schauerlich klang. Aber das dachte wahrscheinlich jeder, der sich im Radio hörte. Alles in allem waren die Berichte brauchbar und hatten sich eher des Themas Animal Hoarding angenommen als des dubiosen »Giftunfalls«.

Ehe sie sich mit Kathi Richtung Rosenheim aufmachte, bat sie Andrea, die von Kathi begonnenen Recherchen zu den KS-Mitarbeitern fortzusetzen. Diesmal ließ sie Kathi fahren, deren waghalsige Überholmanöver allerdings lebensbedrohlich waren.

Immer wenn sie sich auf der West-Ost-Achse befand, wünschte sich Irmi diese Queralpenautobahn her, die mal im Gespräch gewesen war. Angesichts dieser zähen Kilometer von Garmisch nach Miesbach wurde ihr der Naturschutz ziemlich egal. Die Strecke war eine Heimsuchung.

Irgendwann hatten sie schließlich Rosenheim erreicht und fanden den Sitz von BBT gar nicht weit weg vom Zentrum in einem Mischgebiet. Die Firma bestand aus einem einstöckigen Bau mit einem Flachdach und einer größeren Halle. Gerade als sie das Büro im Flachbau betreten wollten, kam eine Frau in den Dreißigern auf sie zu. Sie trug eine weite schwarze Sporthose und war eher ein wenig mollig. Man sah ihr durchaus an, dass sie sportlich war, aber sie entsprach nicht dem Ideal kängurusehniger Sportsfrauen.

»Sie suchen Veit?«, fragte sie und lächelte, wobei sie eine nette kleine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen freigab.

Irmi nickte.

»Ich ruf ihn grad an, er ist auf einer Biketour und müsste eigentlich schon wieder da sein. Wollen Sie grad warten?«, fragte die Frau und wies auf eine Gartenmöbelsitzgruppe unter einem riesigen Sonnenschirm vor dem Büro. Das etwas andere Wartezimmer.

Irmi nickte erneut, und sie setzten sich nach draußen, wo ein lauer Wind in den Fransen des Schirms spielte und so etwas wie Urlaubsfeeling vorgaukelte.

»Witzig«, sagte Kathi.

»Und so ganz anders als KS-Outdoors«, ergänzte Irmi.

Die junge Frau kam zurück, in der einen Hand das Handy, in der anderen ein Nutellabrot. »Er ist jeden Moment da. Wollen Sie was trinken?«

»Nein, danke«, sagte Kathi.

»Okay«, meinte sie lächelnd und verschwand wieder im Gebäude.

Kathi starrte ihr nach. »Nutella! Ich glaub’s ja nicht!«

Natürlich, Nutella war böse, ganz, ganz böse in der Sportlerwelt von Lightjoghurt und Zerocola.

»Die Fußballer machen doch auch Werbung für Nutella«, meinte Irmi.

Noch bevor eine Ernährungsdiskussion entbrennen konnte, kamen zwei Männer auf den Hof geradelt. Sie stellten ihre Räder an der Wand der Fabrikhalle ab, dann ging der eine von ihnen Richtung Tor, während der andere auf die beiden Kommissarinnen zukam oder besser: heranklackerte.

Klick, klack, klick, klack. Veit Hundeggers Wadln spannten sich bei jedem Schritt, durch eine weiße Radlerhose zeichneten sich Oberschenkelmuskeln ab. Er wandte sich um und rief dem anderen noch irgendwas zu, was eine nicht unerfreuliche Ansicht seines wohlgeformten Pos mit sich brachte.

Irmi begriff, dass das Klickern von den Radlschuhen stammte. Hießen die nicht Clickis? Dazu trug Hundegger ein enges Top ohne Ärmel, dessen Reißverschluss bis fast zum Nabel offen stand. Er war natürlich braun gebrannt, die Brust war glatt rasiert wie ein Kinderpopo. Die langen braunen Locken hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er sah aus wie das Klischee vom Sportsmann – nur besser. Wahrscheinlich musste er sich keine teuren Models leisten, seine Kollektion konnte er selbst sicher am besten vorführen. Und obwohl Irmi weiße Radlerhosen an einem Mann eigentlich affig fand, musste sie hier zugeben: lecker! Kathi hatte schon Witterung aufgenommen, der Träger ihres Tops war lässig über die Schulter gerutscht, sie stand da mit lasziv eingeknickter Hüfte und sah dem Typen entgegen.

Er aber gab Irmi formvollendet die Hand, lächelte Kathi mehr als charmant zu und sagte: »Entschuldigung, ich musste grad noch ein neues Bike testen. Mach ich ab und zu für ein Mountainbike-Magazin. Was kann ich für die Damen tun? Sie sind von der Polizei, nicht wahr?«

Da war Irmi nun doch platt. »Sieht man das?«

»Sehen Sie, ich glaube nicht, dass Sie Einkäuferinnen für ein Sportgeschäft sind, zumal ich meine Kunden eigentlich kenne.«

Na, der war lustig. Sie war wohl zu alt und zu fett für die Kategorie Sportgeschäft, dachte Irmi. Aber Kathi würde er den Sport doch wohl zutrauen. Und als könne er hellsehen, sagte er mit einem Lächeln: »Sie beide sind so erfrischend labelfrei, Leute aus Sportgeschäften haben immer Markenklamotten an.«

»Und wer nicht vom Sportladen ist, der ist automatisch von der Polizei?«, konterte Kathi frech.

»Nein, aber ehrlich gesagt habe ich mit Ihnen gerechnet. Also nicht mit Ihnen persönlich, das ist ja eine charmante Überraschung, nein, aber ich habe der Zeitung entnommen, dass Kilian Stowasser tot ist. Das ging in der Branche natürlich auch rum wie ein Lauffeuer. Und da ich natürlich weiß, dass man in der Branche meine kritischen Anmerkungen gegenüber Stowasser kennt, hab ich mit Besuch gerechnet.«

»Sie sind die Polizei ja auch durchaus gewohnt, oder? In den Akten findet man einiges über Sie.« Kathi hatte den Träger ihres Tops wieder in Position gebracht.

Er blieb gelassen. »Auch das war mir klar, dass Sie das anführen würden. Ja, leider, da sind mir mal die Pferde durchgegangen. Schlechter Zug, aber das ist nun wirklich Vergangenheit.«

»Die Drogen auch?«

Nun verlor er doch etwas von seiner Lässigkeit und seiner Geduld. »Ja, die auch, damals war ich achtzehn, und wäre nicht meine Mutter gestorben und bei uns alles drunter und drüber gegangen, wäre manches vielleicht anders gelaufen.«

»Och, mir kommen die Tränen«, bemerkte Kathi spitz.

»Nicht nötig«, konterte er, doch Irmi spürte, dass er nicht mehr allzu lange die Contenance bewahren würde, und Kathi schoss natürlich mal wieder übers Ziel hinaus.

»Herr Hundegger, lassen wir die Vergangenheit getrost mal aus dem Spiel, und konzentrieren wir uns lieber mal auf das unmittelbar Zurückliegende. Sie waren für diesen Unternehmerpreis der Favorit, und dann hat Stowasser ihn gekriegt. Sie waren ganz schön ungehalten und haben das auch öffentlich kundgetan.«

Noch immer standen sie mitten im Hof. »Wollen wir uns nicht mal irgendwo hinsetzen, wo nicht das halbe Inntal mithört?«, schlug er vor.

Irmi nickte, und sie folgten seinem Klickklack und seinem göttlichen Hintern bis in einen Showroom, in dem es lodenbespannte Sessel und Hocker gab, farbige Kissen und einen bunten Kronleuchter, der in spannungsreichem Kontrast zu den Chromregalen und der eher puristischen Kollektion stand.

»Cool«, entfuhr es Kathi.

Er nahm das wohl als Friedensangebot, bot Bionade an und lächelte wieder. »Ich war immer der Meinung, dass man als Radfahrer ja nicht unbedingt aussehen muss wie ein Papagei oder eine Stopfleber.«

Irmi musste lachen. »Aber die Farbe Weiß für eine Radlhose ist ja auch nicht gerade klassisch, oder?«

»Es gibt einen Mitbewerber in einem recht hohen Preissegment, der gerne mal weiße Hosen macht, und den ärgern wir ein bisschen. Es gibt dafür eben eine Zielgruppe.«

»Sie ärgern gerne mal Leute, oder?« Kathi war sauer, dass er ihren Flirtversuchen bislang widerstanden hatte.

Er ignorierte sie einfach, was für Kathi die viel größere Frechheit war. »Wir produzieren Bikewear in reduzierten Designs, auch mal in weiteren Schnitten, nicht jeder und jede hat einen Body, den man unbedingt in engste Fasern quetschen sollte.«

Na, er selbst hatte da ja keine Probleme. Irmi musste aber zugeben, dass ihr persönlich ein polanges Shirt, das anmutig über den Hüftring fiel, auch lieber gewesen wäre – vorausgesetzt, sie würde Rad fahren …

»Wir haben es geschafft, zu einer Marke zu werden, auch weil wir ganz klar sagen, dass wir eine bayerische Firma sind. Die komplette Produktion findet hier statt.«

»Und für Bayern steht der Loden?«, fragte Irmi, die hoffte, dass Kathi sich zusammenreißen würde.

»Meine Frau Babsi ist unsere Designerin, sie hat auch den Showroom eingerichtet.«

Eine Frau, na klar, solche Sahneschnittchen hatten immer eine Frau, dachte Irmi.

»Sie haben sie vorher doch kurz kennengelernt.«

Irmi blickte etwas irritiert.

»Am Empfang, Sie erinnern sich? Babsi hat mich gleich angerufen«, sagte er.

Ach, die nette Frau, die weder magersüchtig noch geschminkt gewesen war. Die mit dem Nutellabrot! Wenn die einen Veit Hundegger halten konnte, wollte man ja fast ans Gute glauben. Eventuell gab es hübsche Männer auch für Mädels jenseits von XS. Hatte nicht auch Pierce Brosnan eine Frau ohne Modelmaße?

»Sie haben jedenfalls Erfolg damit, Herr Hundegger, und Sie hätten einen Preis doch verdient.«

»Sicher, und zwar mehr als Stowasser, denke ich.«

An mangelndem Selbstbewusstsein litt er nicht, dachte Irmi. »Die Branche hatte damit gerechnet, dass Sie den Preis bekommen, oder?«

»Ja, und ich hab mich da mitreißen lassen am End. Ich war mir nämlich gar nicht sicher. Kilian ist CSU-Mitglied, ich nicht. Kilian hat in einem pompösen und wirklich cleveren Schachzug seine illegalen Machenschaften in etwas Positives geführt. Er hat den reuigen Sünder gegeben. Ich bin ein vorbestrafter langhaariger Mountainbiker, der immer nur gesagt hat: Der Kas is bissn. Ich meine: Vorbei ist vorbei, lassen wir die Vergangeheit doch ruhen, oder, Frau Kommissar?« Er lächelte bezaubernd und fuhr fort: »Ich golfe nicht mit Ministerpräsidenten und Landräten. Biken wollen die fetten Säcke mit mir leider nicht. Ich trinke höchst selten Bier, Schnaps schon gar nicht, ab und zu mal einen guten italienischen Rotwein. Wie wollen Sie in Bayerns besseren Kreisen bestehen, ohne Bier zu trinken? Denken Sie an Stoiber!«

»Koks als Alternative?«, fragte Irmi.

Nun war er wirklich überrascht. »Ich? Du lieber Himmel! Ich bin viel an der frischen Luft, da bin ich auch so wach genug. Was ich übrigens als Jugendlicher vertickt habe, war Gras. Selbst angebaut hinter der Fabrikhalle von meinem Vater. Drum sind sie mir auch draufgekommen.«

Dass Stowasser gekokst hatte, wusste er wohl wirklich nicht. Warum auch? Dass er ein Sauerstoff- und Sportjunkie war, glaubte ihm Irmi allerdings wirklich. »Sie waren aber trotzdem sauer?«

»Natürlich war ich sauer.«

»So sauer, dass Sie einen ganz schönen Disput mit ihm auf dem Golfplatz gehabt haben?«

»Sie sind ja gut informiert!«

»Information ist das halbe Leben«, meinte Irmi und bedachte ihn mit einem scharfen Blick.

Er seufzte. »Frau Mangold, ich gebe ja zu, dass ich etwas impulsiv bin. Ich sage den Leuten schnell mal die Meinung, aber ich bin nicht nachtragend. Nach der Verleihung ist Kilian wie ein aufgeblasener Gockel herumgelaufen und hat mir gegenüber triumphiert, dass meine ›Radlhoserl‹ halt nie eine Chance gegen seine Schlafsäcke gehabt hätten. Da hab ich ihn etwas geschubst.«

Etwas geschubst, nette Formulierung. Aber vielleicht tat er ja auch noch anderes als schubsen. »Wussten Sie, dass er Reptilien gehalten hat?«, fragte Irmi unvermittelt.

»Ja, schon.«

»Ach, das wussten Sie?«, mischte sich Kathi wieder ein.

»Das wussten viele. Es gab ja immer mal Unternehmertreffen und so. Da hat er damit geprahlt, was er wieder an neuen abstrusen Tieren hätte.«

»Hat er denn nie dazu eingeladen, die Tiere mal zu besichtigen?«

»Nein, zumindest mich nicht. Aber mir kam er auch vor wie diese Superreichen, die einen Kunstdieb beauftragen, ein Kunstwerk von Weltruhm zu klauen, und die es dann im Keller in den Tresorraum stecken. Dann gehen sie täglich runter und schauen sich dieses Ding an. Wenn Sie mich fragen, hat mit diesem Stowasser Kilian irgendwas nicht gestimmt. Aber ich war da ziemlich allein mit meiner Meinung.«

»Ich fand das auch«, kam es von der Tür. Frau Hundegger war gekommen. »Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische. Ich hab eigentlich mal Psychologie studiert, und manchmal geht es mit mir durch. Ich hatte immer das Gefühl, dass Kilian extrem unter Druck steht. Er hat den jovialen bayerischen Gaudiburschen-Unternehmer nur gespielt. Auch dieses Reptiliengedöns erscheint mir unnormal. Da wertet jemand sein Ego auf, indem er mit der Gefahr spielt. Hat ihn wirklich so ein Tier gebissen, wie es in der Zeitung steht?«

»Das versuchen wir herauszufinden.« Irmi wusste, dass das lahm klang, und sie wusste auch, dass ihre Anwesenheit bei den Hundeggers wohl nur den Rückschluss zuließ, dass mit dem Todesfall etwas nicht stimmen konnte.

»Sie sagten eben, dass viele von den Reptilien gewusst haben?«, versuchte Irmi abzulenken.

»Ja, wahrscheinlich so ziemlich alle, die an den bayerischen Unternehmerstammtischen saßen«, sagte Babsi Hundegger mit einem Lächeln, das wieder diese hinreißende Zahnlücke zum Vorschein brachte.

»Hat er auch von Krün erzählt?«, wollte Kathi wissen.

»Krün?« Veit Hundegger runzelte die Stirn. »Nein. Er hat doch auf dem Fabrikgelände in Eschenlohe gewohnt, oder?«

Entweder, er konnte sehr gut schauspielern, oder aber er wusste wirklich nichts. Da aber Veit Hundegger sicher kein Spezl von Kilian Stowasser gewesen war, hatte dieser den Biker wohl tatsächlich nicht zu sich eingeladen. »Gab es denn so eine Art harten Kern bei diesen Stammtischen? Gute Freunde von Stowasser?«, hakte Irmi nach.

Babsi Hundegger nickte. »Ich hab die Liste von der letzten Sitzung in Kloster Reutberg. Da stehen alle Teilnehmer drauf. Ich mach Ihnen Kreuzchen bei denen hin, die gute boarische Freinderl vom Kilian gewesen sind. Ich hol eben die Liste.« Sie verschwand.

»Stimmt es denn nun, dass Stowasser betrügt?«, fragte Irmi unvermittelt. »Das haben Sie doch behauptet.«

»Nein, ich habe in ein paar Interviews nur mal gesagt, dass ich daran zweifle, ob er wirklich ausschließen kann, keine Daunen aus Lebendrupf zu bekommen. Das ist etwas anderes.«

»Hatten Sie mal Kontakt zu einer Tierschutzorganisation namens FUF

»Nein, ich weiß aber, dass ihn da mal jemand am Wickel gehabt hatte. Im Prinzip muss er denen ja danken. Erst durch diese Reuige-Sünder-Nummer ist er wirklich bekannt geworden«, sagte Veit Hundegger.

Inzwischen war Nutella-Babsi zurückgekommen und übergab Irmi die Liste.

»Danke. Wo waren Sie beide denn am letzten Dienstag?«

»Ach, das ist ja doch wie im Fernsehen«, meinte Babsi Hundegger lachend. »Ich war bei meinen Eltern in Traunstein.«

»Und ich war biken«, sagte Veit.

»Allein?«

»Ja.«

»Wie lange?«

»Ich bin in Rottach-Egern am Tegernsee los, übern Riederstein rüber zum Schliersee, rauf zum Spitzing und über die Valepp wieder nach Rottach.«

Das klang in jedem Fall nach einigem Auf und Ab. »Sie waren also den ganzen Tag unterwegs?«

»Ein paar Stunden jedenfalls.«

»Sind Sie irgendwo eingekehrt, hat Sie jemand gesehen?«

»Nein, ich kehr nicht ein. Ich will biken, nicht trinken.«

»Hätte ich meinem Mann ein Alibi geben sollen?«, fragte Babsi, immer noch lächelnd.

»Nein, falsche Alibis fliegen gerne mal auf«, sagte Irmi und dachte im Stillen, dass die beiden das Ganze vielleicht etwas ernster nehmen sollten. Und sie war auf der Hut. Die zahnluckerte Psychologin war sicher nicht zu unterschätzen.

Irmi und Kathi verabschiedeten sich.

»Und?«, fragte Irmi, als sie wieder im Auto saßen.

»Geiler Arsch!«, sagte Kathi.

»Zweifellos, und sonst?«

»Na, ich weiß nicht. Der Typ ist unbeherrscht. Er hat Stowasser nicht gemocht. Und er hat das mit den Reptilien gewusst. Der war mal internationaler Radsportler, der hat Freunde auf der ganzen Welt. Vielleicht hat da einer Zugang zu Mambagift, oder! Und er hat kein Alibi. Der kann ja viel erzählen, wo er überall rumgebikt ist.«

Das stimmte, nur mussten sie einen Anhaltspunkt finden, dass er Kontakt zu Stowasser gehabt hatte.

Irgendwie verfransten sie sich in Rosenheim und landeten schließlich bei einem türkischen Restaurant. Das sah zwar nicht sonderlich spektakulär aus, aber das Essen war herrlich, der Service reizend, und einmal mehr dachte Irmi, dass es eigentlich immer die Ausländer waren, bei denen man echte Gastfreundschaft erfuhr. In den bayerischen Wirtschaften hatte man oftmals das Gefühl, man müsse sich entschuldigen für die Bestellung, die die Bedienung und den Koch aus der Lethargie riss.

Nach einer schier endlosen Rückfahrt waren sie um vier wieder in Garmisch.

Irmi beauftragte Andrea, Fotos von Veit Hundegger und seiner Frau von der Firmen-Homepage auszudrucken. Dann erteilte sie Sepp und Sailer den Auftrag, den Nachbarn in Krün und den Mitarbeitern bei KS-Outdoors die Bilder zu zeigen. Währenddessen sollten Andrea und Kathi doch mal intensiver die Lebensfäden der engeren Mitarbeiter entwirren. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass niemand von Krün gewusst haben sollte, und sie konnte sich auch nicht vorstellen, wie ein Betrug mit falschen Daunenpartien ohne das Wissen vom Produktionschef oder von jemand anderem in der Führungsebene hätte stattfinden können.

Da Kathi heute so aufgeräumt war, ging sie das Wagnis ein, sie und Andrea vor einen Karren zu spannen. Wenn nicht heute, wann dann?

Irmi saß vor einem Berg Akten und blätterte lustlos. Puh, nun hatte sie also Listen all jener »boarischen Freinderl«, wie Babsi Hundegger gesagt hatte, die eventuell mal eingeladen worden waren, Stowassers Reptiliensammlung zu begutachten. Sie googelte all jene, die ein Kreuzchen bekommen hatten: ein Verleger, ein Sockenproduzent, ein Metallbetrieb, eine Molkerei, das waren die besten Freunde von Stowasser. Die musste sie wohl unter die Lupe nehmen. Und wenn da einer darunter war, der auch dem Hobby mit den wechselwarmen Tierchen frönte? Wie sollte sie das in Erfahrung bringen?

Irmi griff zum Telefon und rief in Oberammergau an. Der AB sprang an, wenig später rief der Schlangenmann aber zurück.

»Frau Mangold, hallo. Ich musste nur eben ein paar Mäuse und Ratten an meine Freunde verteilen.«

»Sehen Sie, das allein wäre für mich schon ein Grund, warum ich mir so was nie zulegen würde!«

»Ja, damit geht es doch schon los. Die wenigsten prüfen sich vorher ernsthaft: Mag ich meinem Reptil lebende Ratten zum Fraß vorwerfen, oder halte ich es mit gefrorenen Mäusen? Leider reagieren Schlangen auf Bewegung und Wärme. Will heißen: Ich muss meine Frost-Maus erst mal anwärmen und vor der Schlange hin und her bewegen, damit sie zubeißt. Mag nicht jeder!«

»Nö, danke. Müsste ich auch nicht haben.« Irmi lachte.

Er lachte. »Sehen Sie, darum sind Kaninchen und Meerschweinchen viel beliebter, das sind nette Vegetarier. Wer würde sich schon vor einer Gurke oder einer Karotte grausen? Die kann man auch überall kaufen.«

Irmi dachte mit Entsetzen an die armen Kaninchen auf Stowassers Grundstück zurück. Putzig und stumm waren sie gewesen. Stumm waren die Schlangen auch, konnten aber zubeißen, wie die Mamba. Wenn sie es denn getan hatte. Und irgendwas sagte Irmi nach wie vor, dass Stowassers Tod kein Unfall gewesen war.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Schlangenmann und riss sie aus ihren Gedanken.

»Auf welchem Weg kann ich herausfinden, ob jemand Reptilien hält?«, sagte Irmi.

»Ihn fragen?«, schlug der Schlangenmann vor.

»Na ja …« Wie sollte sie ihr Problem jetzt formulieren?

»Ach so, Sie meinen, das würde zu schnell schlafende Hunde beziehungsweise dösende Kriechtiere wecken?«

»Ja, so ähnlich.«

Es blieb eine Weile stumm am anderen Ende, dann sagte der Schlangenexperte: »Es gibt natürlich Vereine der Reptilienfreunde, und es gibt Internetforen, aber da tritt keiner mit Klarnamen auf. Es gibt Reptilienschauen, auf denen immer die gleichen Leute auftauchen. So groß ist die Szene nicht.«

»Ja, aber wie soll ich da als Laie Eingang finden?«

»Schwierig ohne Insiderwissen«, meinte er. »Sie wollen wahrscheinlich keine Namen nennen?«

Irmi zögerte wieder. »Und was, wenn ich es täte?«

»Ich bin verschwiegen wie ein Pharaonengrab. Sie wollen ja nur wissen, wer sich für Reptilien interessiert, oder?« Er lachte leise.

Korrekt war das nicht, das war Irmi auch klar, aber sie vertraute dem Mann. Er würde nicht durch die Lande ziehen und herausposaunen: Der Herr X ist verdächtig, und die Frau Y hat die Polizei auch auf dem Kieker. Bestimmt nicht.

Langsam nannte sie ihm vier Namen honoriger bayerischer Unternehmer. Sie zögerte ein bisschen und gab dann auch noch die von Gangkofer, Magerer und Sonja Ruf durch. Man konnte ja nie wissen. Und den von Hundegger. Sich lässig geben war das eine, aber wie sah es im Inneren aus? Der Schlangenmann versprach, sich »dezent umzuhören« und zurückzurufen.

So wirklich wohl war Irmi dabei nicht, aber sie steckten fest. Da lobte man sich doch eine klare Schusswunde, Kaliber klar, Schusskanal klar, Waffe klar. Musste nur noch die Person gefunden werden, die den Schuss abgegeben hatte.

Waren Giftmörder nicht eigentlich immer Frauen?, überlegte Irmi und wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu. Da lag auch die Liste der FUF-Mitglieder und heischte nach Aufmerksamkeit. Irmi überflog die Namen. Und blieb an einem hängen. Sonja Ruf. Sonja Ruf? Das war doch jene Frau, deren Isländer eingeschläfert worden war. Die war auch Mitglied bei FUF?

»Andrea!«, brüllte Irmi über den Gang. »Andrea!«

Die Mitarbeiterin kam angeschossen und sah Irmi so entsetzt an, als hätte sie erwartet, die Chefin hätte sich soeben die Hand abgehackt oder Schlimmeres!

»Sorry, ich war etwas laut. Sag mal, Andrea, wie hat die Frau geheißen, die das dritte Pferd hat einschläfern lassen? Diesen Isländer?«

»Sonja Ruf. Warte mal!«

Andrea sauste hinaus und kam schnell mit ihrem Notizbuch wieder. »Sonja Ruf, genau. Sleipnir hieß das Pferd, das eingeschläfert wurde, und Sonja Ruf kommt morgen aus dem Urlaub zurück. Warum?«

»Sonja Ruf ist Mitglied bei FUF. Damit hat sie gleich einen doppelten Grund, Stowasser zu hassen. Seit Jahren kämpft sie gegen ihn als Tierquäler und steckt zusammen mit den anderen Mitgliedern einen Misserfolg nach dem anderen ein. Und dann ist der auch noch schuld daran, dass ihr Pferd sich diesen Virus einfängt. Wie viel kann ein Mensch ertragen?«

»Tierfreunde wenig!«, kam es von Kathi, die in der Tür stand, weil sie wohl auch hatte sehen wollen, warum Irmi wie am Spieß gebrüllt hatte. »Tierschützer verlieren sehr gern mal den Bezug zur Realität. Ich hab grad ein wenig gegoogelt wegen unserem Trenkle, und da ist auch was sehr Interessantes rausgekommen. FUF-Mitglieder haben vor vier Jahren mal Stowassers Gänse rausgelassen und Parolen auf seine Fabrikhalle gesprüht. Trenkle hat sich davon distanziert, er hat behauptet, die Vorstandsschaft habe nichts davon gewusst, und er könne nun mal nicht alle Mitglieder an die Leine legen. Er hat gemeint, jede seriöse Tierschutzorganisation lehne gewaltbereite Tierschützer ab, weil sie dem Anliegen einen Bärendienst erwiesen. Es ist echt der Hammer, wie es da abgeht: In England gibt es eine Gruppe namens Shac, die Kunden und Zulieferer von Europas größtem Tierlabor, Huntingdon Life Sciences, anscheinend mit Graffiti und Brandbomben terrorisiert hat. Extreme Gruppierungen, wie etwa Sea Shepherd, rammen auf hoher See illegal operierende Walfänger. Die haben bisher zehn Schiffe versenkt. In Florida haben Frauen vor einem McDonald’s demonstriert, rot bemalt und in roten Bikinis, um zu zeigen, wie Hühner zu Tode verbrüht werden. Eine Aktion der PETA, die immer sehr spektakulär agiert und schon die NASA dazu gebracht hat, ein fast zwei Millionen Dollar teures Experiment abzublasen, weil dabei Affen einer schädlichen Strahlungsdosis ausgesetzt worden wären. Auf Druck von PETA wurde eine Lehrerin in Florida kaltgestellt, weil sie eine Schülerin zwingen wollte, einen toten Frosch zu sezieren.«

»Na, ich möchte auch keinen Frosch zerschneiden. Das ist ja greißlich«, sagte Andrea.

»Ja, ist greißlich. Ich wollte damit nur sagen, dass diese Tierschützer öfter Amok laufen, als man denkt.« Vermutlich hatte Kathi am Wochenende nicht nur einen Ritter oder Spielmann vernascht, sondern war allumfassender erfolgreich gewesen – so gut gelaunt, wie sie immer noch war. Irmi nahm sich vor, Kathi öfter ins Mittelalter zu versenden, wenn sie davon so milde wurde. Sie hatte sogar einmal Andrea recht gegeben!

»Ist der Name Sonja Ruf bei dieser Aktion mal gefallen?«, erkundigte sich Irmi.

»Müsste ich noch mal nachforschen. Mach ich gern«, meinte Kathi und verließ den Raum.

»Also, ich fass noch mal zusammen«, sagte Irmi. »Sonja Ruf hatte über Jahre Kontakt zu Stowasser und hat immer verloren. So was zermürbt. Und dann verliert sie auch noch das Pferd. So etwas kann einen Menschen zerstören, zumindest innerlich zerfressen.«

»Aber Mambagift? Ich weiß nicht!«, meinte Andrea.

»Ja, aber die Frau wird für mich immer interessanter, und ich möchte sie keinesfalls aus den Augen verlieren. Jetzt machen wir aber Schluss für heute.«

So ganz Schluss war allerdings nicht. Irmi saß noch lange über dem Papierkram. Bis sie heimkam, war es nach acht, und sie schaffte es gerade noch zum »Letzten Bullen«. Sie hätte das natürlich nie zugegeben, aber das musste sie einfach sehen. Die Idee, einen Beamten einfach mal zwanzig Jahre ins Koma zu versetzen und im 21. Jahrhundert wieder aufwachen zu lassen, war einfach hinreißend. Ein Macho, der sich in einer veränderten Welt nicht mehr zurechtfand. Der sich die Welt so geradebog, dass seine Ansichten aus den Achtzigern wieder passten. Manchmal ging es ihr wie der Filmfigur Mick Brisgau: Sie verstand diese Welt auch nicht mehr – dabei hatte sie nicht mal im Koma gelegen. Außerdem hätte sie gerne solche Sprüche wie Brisgau parat gehabt. »Hör ich da Ironie? Ironie ist die kleine Schwester des gebrochenen Herzens.« Wie wahr, Herr Brisgau!