5
Irmi ging zurück in ihr Büro. Im Nebenraum lachten sich die Kollegen scheckig über jenen Gockel, der mit seinem Krähen inzwischen Polizei und Anwälte wochenlang in Atem gehalten hatte – und nun war er an Altersschwäche gestorben. Manchmal hatte das Leben einfache Lösungen parat.
Sie schloss die Tür. Setzte sich, atmete tief durch. Diese ganze Viecherei genügte eigentlich vollauf, wieso musste sie immer auch noch in die Schusslinie der Kolleginnen geraten? Und dann war ja immer noch die Frage, ob sie sich da völlig umsonst reinkniete, denn bei einem Reptilienunfall konnte ihr Stowasser völlig am Allerwertesten vorbeigehen. Es gab Kollegen, die sich mit Wirtschaftskriminalität beschäftigten, und es gab auch Urteile bei Verstößen gegen das Tierschutzgesetz. Es gab Staatsanwälte und andere Ankläger, und sie sagte auch gerne als Zeugin in einem Tierschutzprozess aus – aber wenn das kein sauberer Mord war, dann waren sie alle nicht zuständig.
Sie griff zum Telefon und erreichte die Rechtsmedizin.
»Ich muss schon sagen, von euch da draußen wird uns was geboten«, meinte der Mediziner.
»Wir bemühen uns redlich.«
»Danke!« Er lachte. »Also, wir haben Todeszeitpunkt und den Übeltäter. Der Tod ist gegen Mittag eingetreten. Zwischen elf und zwölf. High Noon sozusagen, liebe Frau Mangold!«
»Und wer ist der Übeltäter? Diese Kröte?«
»Nein, und auch nicht die pfeilgiftigen Fröschlein. Ich war wegen der Sache extra mit den Kollegen der Toxikologischen Klinik Rechts der Isar in Kontakt. Der Mörder heißt Dendroaspis.«
»Was?«
»Dendroaspis, besser bekannt als Schwarze Mamba.«
»Eine Schlange?«
»Ja, und eine besonders giftige dazu. Das Gift der Schwarzen Mamba ist ein Neurotoxin, ein Nervengift, sozusagen eine explosive Mischung mehrerer Peptide unterschiedlicher Länge, die das zentrale Nervensystem lähmen. Zu dieser neurotoxischen Wirkung kommen Kardiotoxine, das sind Gifte, die auf den Herzmuskel wirken. Die nur im Mambagift enthaltenen Dendrotoxine blockieren die Kaliumkanäle in den Zellmembranen des Opfers, was eine Störung der elektrischen Reizausbreitung im Herzen zur Folge hat. Es kommt zu Herzrhythmusstörungen bis zum Atemstillstand. Wir haben 160 Milligramm Gift gefunden, schon 120 Milligramm reichen aus, um bei einem erwachsenen Menschen tödlich zu wirken.«
Irmi war für den Moment sprachlos und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. »Ist es denn sicher, dass die Schlange selbst zugebissen hat?«
»Na, Sie sind mir eine! Hätten Sie lieber einen menschlichen Mörder, der dem Toten Gift injiziert?«
»Lieber nicht, aber ich hab mir so einen seltsamen Beruf erwählt. Sie ja auch! Ginge das denn rein theoretisch? Ich meine, jemandem Mambagift zu spritzen?«
»Das ist in der Tat etwas kompliziert. Ich bin mir nicht sicher, wo die Bisswunde liegt oder liegen könnte.«
»Wieso das denn?«
»Also man sieht kein klassisches Erythem.«
»Was für ein Ding?«
»Eine Hautrötung, die normalerweise auftritt. Es ist auch kein Ödem zu sehen. Der Mann hatte mehrere große offene Wunden an Unterarm und Oberarm, die wohl durch Hundebisse verursacht sind. Viele Zähnchen, größer, kleiner, zerstörtes Gewebe, zerstörte Blutgefäße. Die Wunde war unzureichend verbunden. Jemand scheint den Verband heruntergerissen zu haben. Die Schlange könnte auch in diesem Bereich zugebissen haben, aber das ist eben sehr schwer zu verorten. Insofern könnten Sie die Schlange des Mordes anklagen. Oder eben nicht.« Er stockte kurz, ehe er fortfuhr: »Der Mann hatte übrigens auch Kokain im Blut, aber daran ist er nicht gestorben. Sie ahnen ja gar nicht, in wie vielen der Leichen, die auf meinen Tisch kommen, ich Spuren von Koks entdecke. Das ist mittlerweile eine richtige Modedroge.«
Neben der trinkenden PR-Dame also noch ein Drogenabhängiger bei KS? »Koksender Tierquäler von Schlange eliminiert« – das würde eine großartige Schlagzeile ergeben.
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es ist keine Einstichstelle zu finden, in dem zerstörten Gewebe wäre das auch schwer zu verorten. Allerdings könnte Schlangengift auch in die Wunde eingebracht worden sein.«
Irmi hatte langsam das Gefühl, in einem üblen Film gelandet zu sein, und diese Sprachlosigkeit, die sie in letzter Zeit immer wieder attackierte, war wirklich bedrohlich.
»Sehen Sie, Schlangengift kann zentrifugiert und getrocknet werden. Diese Kristalle könnte man in die Wunde einlegen, verbinden, wirken lassen. Das Prinzip eines Nikotinpflasters, wenn Sie so wollen. Beim einen gewöhnt man sich das Rauchen ab, beim anderen das Leben.«
»Wenn ich dieser Theorie folgen würde, müsste ich aber eine Person suchen, die sehr intim oder freundschaftlich mit dem Toten umgegangen ist, oder?«, fragte Irmi.
»Im Prinzip ja. Gut, man könnte ihm das Pflaster – nennen wir es mal so – auch unter Zwang angelegt haben. Und natürlich kann man einem Kokser das Gift auch in seine Hallo-wach-Droge mischen. Ich lass Ihnen alles zukommen, mein Piepser ruft, grüß Sie!« Grüß Sie. Dieser fröhliche Tonfall mit dem leichten österreichischen Akzent – der Mann hatte wirklich ein sonniges Gemüt.
Irmi sank noch tiefer in ihren Stuhl. Mambagift, Hilfe! Eine Schlange, die zugebissen hatte? Ein Mambamörder, der mit Giftkristallen hantierte? Und überhaupt: Wer hielt sich schon eine Schwarze Mamba?
Plötzlich schoss Irmi ein Gedanke in den Kopf. Sie suchte hektisch nach der Inventarliste des sogenannten Gnadenhofs. Schließlich hatte sie die Aufstellung der Reptilien in der Hand. Doch eine Mamba war nicht dabei. Sie blickte auf die Uhr. Es war vier. Da sie keinerlei Lust hatte, mit Kathi zu diskutieren, griff sie nach dem Autoschlüssel und rief nur schnell über den Gang: »Ich fahr nach Oberammergau. Wenn ihr noch etwas erfahrt, ruft mich bitte an.«
Vor der Tür traf sie auf Frau Reindl mit ihrer Enkelin Sophia, die offenbar Kathi besuchen wollten. Na, vielleicht würde der nette Besuch ihre aufgebrachte junge Kollegin etwas besänftigen.
»Hallo, wie schön, euch zu sehen«, sagte Irmi.
Frau Reindl lächelte. Mit ihrer Präsenz zog sie einen sofort in den Bann. Dabei ruhte sie in sich und strahlte Gütigkeit aus. Immer wenn Irmi das Soferl sah, hoffte sie inständig, dass die Kleine von der Oma lernte. Die Chancen standen gut. Kathi war wenig zu Hause. Als Wochenend-Action-Mama war sie für die Zuckerl im Leben zuständig, für Ausflüge, für Party und Eisessen. Für coole Klamotten. Für den Alltag hingegen war die Oma zuständig. Sie wusste, dass Schulbusse auf verschlafene junge Damen nun mal nicht warteten. Sie war es, die dem Soferl vermittelte, dass man von Gummibärchen allein nicht leben konnte und dass es nun mal leider keine Heinzelmännchen gab, die die Hausaufgaben über Nacht erledigten. Die Oma lebte den Alltag, und auf den kam es im Leben vor allem an. Der Rest war Kür.
Kathi kam eher nach ihrem Vater, der jähzornig gewesen war, unbeherrscht und ungeduldig. Frau Reindl sprach wenig über ihren Mann, der früh gestorben war. Aber das wenige reichte, um herauszuhören, dass sie durch die Hölle gegangen war.
Das Soferl war clever. Wo Kathi tobte, agierte das Soferl mit charmanten Manipulationen. Sie gelangte lächelnd ans Ziel. Vielleicht kam sie auch nach ihrem Vater, von dem man gar nichts wusste. Ein damals achtzehnjähriger Bursche aus dem Dorf war das gewesen, der sich längst aus dem Staub gemacht hatte. Irgendwo in Österreich war er, das hatte Frau Reindl mal erzählt. Irmi war sich fast sicher, dass dieses Kapitel noch nicht vorbei war. Das Soferl würde ihn irgendwann einmal suchen, würde ihn sehen wollen. Omas Wurzeln hin oder her, für die ganz gewaltigen Orkanstürme bedurfte es weiterer Wurzeln.
Sophia war hübsch. Sie hatte Kathis große Augen, die vollen braunen Haare, sie war aber kein kantiger, überschlanker Typ, sie würde weicher werden, weiblicher. Schon jetzt war sie für ihr Alter ziemlich groß und gut entwickelt.
»Sophia, ich sag jetzt nicht: Bist du aber groß geworden.« Irmi lachte. »Aber es würde schon stimmen.«
»Das sagst du bloß nicht, weil das alte Tanten sagen würden. Und wer will schon eine alte Tante sein!« Das Soferl lachte und legte den Kopf schräg. Der gleiche Satz aus Kathis Mund wäre verletzend gewesen. Aus Sophias Mund klang das ganz reizend und wohlwollend.
Sophia duzte konsequent alle Menschen, die sie kannte. Das war im Gebirge auch so üblich, und wenn sie es tat, fühlte man sich fast auserwählt.
»Da hast du recht. Und wie geht’s dir so?«
»Och, wenn du die Schule meinst, ganz gut. Oder, Oma?«
»Na ja, ein bisschen besser könnten die Noten schon sein.«
»Mein Lehrer hat gesagt, er sei beruhigt, dass bei mir noch Luft nach oben sei. Das heißt, wenn’s echt knapp wird, lern ich mehr.« Und nur dann, besagte ihr Blick.
Frau Reindl rollte mit den Augen. »Bloß beim Chatten läuft die junge Dame nicht auf Sparflamme. Da reicht die Beharrlichkeit für Stunden.«
»Oma«, das klang tadelnd, »heutzutage musst du einfach bei Facebook sein, sonst bist du echt uncool. Ich muss doch mit meinen Freundinnen reden.«
Irmi verkniff sich einen Kommentar. Es galt ja schon als antik, wenn man »live« mit Menschen kommunizierte. Im Social Web konnten die Kids zu echten Plaudertaschen werden. Trafen sie sich aber draußen in der echten Welt, brachten sie die Zähne nicht auseinander. Bei ihrer Nachbarin Lissi war das mit den Buben so gewesen, totale Stockfische im Leben, im Web aber ausgesprochen eloquent.
Irmi verabschiedete sich von den beiden und wünschte dem Soferl noch viel Spaß am Wochenende, da sie wusste, dass Kathi mit ihr einen Ausflug zu einem Ritterturnier plante.
Während sie langsam aus Garmisch hinausrollte, ließ sie sich das Gespräch mit dem Gerichtsmediziner durch den Kopf gehen. Der Arzt hatte recht: Die Nobeldroge Kokain war auf dem Vormarsch und wurde immer raffinierter nach Europa eingeschleust, auf Trägersubstanzen wie Bienenwachs, Plastikabfällen oder Düngemitteln zum Beispiel, um anschließend in geheimen Labors vor Ort wieder ausgewaschen und zu reinem Kokain verarbeitet zu werden.
Sie glaubte sich zu erinnern, dass die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht von vier Millionen regelmäßig koksenden Europäern gesprochen hatte. Einer davon war wohl Kilian Stowasser gewesen. Im schönen harmlosen Eschenlohe. Und der hatte mit Sicherheit genug Möglichkeiten gehabt, an Drogen zu kommen. Vielleicht hatte die Nachbarin zufällig den Nagel auf den Kopf getroffen. Was war denn in den nächtlichen Lkw gewesen? Tiere, Daunen, Drogen?
Irmi rief Hasibärchen an und bat ihn, das Areal auf Spuren von Kokain zu untersuchen und nach einem blutigen Verband. Ja, sie bat ihn, denn drängen dufte man ihn nicht. Sonst hätte der kapriziöse Kriminaltechniker, der ebenso brillant wie mimosenhaft war, wieder am Rande eines Nervenzusammenbruchs gestanden.
Gerade kurvte sie den Ettaler Berg hinauf. Das Kloster versank in den tief hängenden Wolken, diffus war das Licht, ebenso diffus wie der Umgang der katholischen Kirche mit der Missbrauchsproblematik. Klöster waren wie Irrgärten, es gab so viele geheime Gänge und Schlupflöcher – baulich gesprochen und im übertragenen Sinne. Doch genauso hatte die Kirche seit Jahrhunderten agiert, und so würde sie sich auch weiter retten, dachte Irmi.
Als sie in Oberammergau in das kleine Sträßchen am Lüftlmalereck einbog, empfand sie den Standort irgendwie als skurril. Wer erwartete hier inmitten von Schnürlkasperl und anderem Schnitzwerk Reptilien?
Der Schlangenflüsterer war gerade dabei, eine Schulklasse zu verabschieden. Ein kleiner Junge sagte hochwichtig und stolz: »Des sag i meiner Mama, dass Ringelnattern gar ned gefährlich san und dass ma von der Kreuzotter aa ned glei stirbt.«
»Nein, da müssten schon fünf Stück gleichzeitig herzhaft zubeißen«, meinte der Experte und nickte Irmi zu.
»Aber do wo mein Onkel wohnt, in Australien, is alles giftig!«, rief ein anderer Knirps.
»Ja, der Inlandtaipan zum Beispiel wird bis zu 2,5 Meter lang, und das Gift kann über 100 Menschen oder 250000 Mäuse töten. Diese Schlange ist zwar die giftigste Landschlange der Welt, aber extrem scheu.«
Unter Geplapper und Gelächter zogen die Zwerge ab.
»Na, da werden die Mamas, die jetzt gerade das Abendessen vorbereiten, aber ihre Freude an den Tischgesprächen haben«, bemerkte Irmi lächelnd.
»Wissen Sie, Frau Mangold, die meisten Kinder sind Schlangen gegenüber sehr offen. Die Angst wird ihnen von den Eltern eingeimpft. Kinder lieben Dinos, und da sind unsere Echsen natürlich besonders attraktiv. Wobei einem die Tiere leidtun können.«
Irmi sah ihn fragend an.
»Wir leben in einer seltsamen Welt. Reptilien werden illegal auf Börsen gehandelt, und ich kann sie mir im Internet bestellen, die kommen dann mit der Post.«
»Was?«
»Ja. Das ist leider Realität. Reptilien können bis zu achtundvierzig Stunden mit sehr wenig Sauerstoff überleben, die kommen wirklich in ganz normalen Postpaketen. Es gibt natürlich seriöse Tierlogistikfirmen, die sind aber nicht ganz billig und stehen im Fokus der Behörden. Manche Tiere werden auch über Tschechien eingeschmuggelt.« Er machte eine Pause. »Drogen, Menschen, Waffen, Tiere – kommt alles über den ehemaligen Ostblock. Und Reptilien haben einen Vorteil. Sie sind stumm. Totenstill. Der Zoll hat erst kürzlich wieder einen Lkw mit über zweihundert Schlangen erwischt, und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Reptilien haben keine Lobby in der Bevölkerung.«
»Aber das scheint ja ein riesiger Markt zu sein?«
»O ja, aber da geht es vor allem ums Prestige. Bei Kindern kommt der Wunsch nach Echsen und Schlangen noch von der Begeisterung für Dinos. Die sind ja auch faszinierend. Es gibt kleinere Echsenarten, die sich für Anfänger gut eignen, aber dann geht’s schon los: Die wenigsten Neulinge wissen, dass man Echsen immer als Pärchen halten sollte, dass Schlangen hingegen Einzelgänger sind.«
»Aber es muss doch Beratung geben?«
»Ja, aber nur, wenn ich von einem seriösen privaten Züchter kaufe, wo man sich selbst oder zusammen mit einem Fachmann ein Bild vom Zustand der Tiere macht. Tierhandlungen beziehen über Großhändler, da ist der Weg schwer nachzuvollziehen, und dann gibt es leider diese Börsen im Internet. Schlange auf Knopfdruck. Und wie wir im Falle des Daunenkönigs gesehen haben, entgleist das Ganze sehr schnell. Die Haltung ist extrem aufwändig. Wechselwarme Tiere benötigen meist schon eine relativ hohe Grundtemperatur in ihrem Heim plus einen UV-bestrahlten Sonnenplatz. Das kostet Energie, und auch die Fütterung ist sehr aufwändig. Reptilien kosten Geld, viele Reptilien kosten viel Geld.«
»Und bei Stowasser saßen sie in Gitterkäfigen!«
»Dabei ist die Größe gar nicht so sehr das Problem, aber es fehlen Sand, ein Sonnenplatz und ein Unterschlupf. Aber ich bin abgeschweift, was kann ich für Sie denn tun?«
Irmi zögerte. »Ich habe das Ergebnis aus der Pathologie. Kilian Stowasser ist am Gift einer Schwarzen Mamba gestorben.«
Der Reptilienexperte pfiff durch die Zähne, überlegte etwas und stockte plötzlich. »Wir haben aber keine Mamba sichergestellt!« Er wirkte auf einmal alarmiert.
»Deswegen bin ich da. Wo ist die Mamba? Oder anders gefragt: Hätte auch jemand Stowasser Mambagift injizieren können? Und ihn dann inmitten all der anderen Tiere liegen lassen, damit es so aussieht, als hätte ihn eins seiner eigenen Tiere erwischt?« Sie berichtete kurz von den Erkenntnissen des Rechtsmediziners.
»Nun ja, man kann eine Schlange melken. Das heißt, dass man sie in eine Membran beißen lässt. Das Gift läuft in ein Glas. Man könnte dieses Gift direkt in einer Spritze aufziehen, aber Sie haben ja gesagt, es gab keine Einstichstelle. Es ist durchaus Usus, das Gift gefrierzutrocknen. Und wie Ihnen der Mediziner auch schon gesagt hat, kann man Giftkristalle gut in eine Wunde einbringen.«
»Wer hätte denn Zugang zu Schlangengift?«, fragte Irmi.
»Apotheken, die Pharmaindustrie, Ärzte, auch Homöopathen, die ja gerne mit Schlangengift arbeiten. Dieser Inlandtaipan, von dem ich gerade gesprochen habe, ist nicht nur die giftigste Schlange der Welt, sein Gift wird auch zur Vorbeugung bei Herzinsuffizienz eingesetzt.«
Irmi schüttelte den Kopf. »Damit hab ich mich tatsächlich noch nie befasst.«
»Schlangengifte, natürlich hoch verdünnt und in geringen homöopathischen Dosen, sind sehr wirksam bei entzündlichen chronischen Krankheiten.«
»Und wo kriegen die das her?«, fragte Irmi verblüfft.
»Wir haben eine deutsche Schlangenfarm, die zu pharmazeutischen Zwecken bis zu sechs Mal pro Jahr diese Schlangen melken lässt.«
Irmi schwieg eine Weile und blickte in eine Vitrine, in der eine Gabunviper herumlungerte, die fünf Zentimeter lange Giftzähnchen hatte. Scheußlich!
»Und wo kriegt man Schlangengift her, wenn man keine solchen Giftmischer kennt?«, fragte Irmi.
»Nun, es gäbe die Möglichkeit, die eigene Schlange zu melken. Da müsste natürlich eine leibhaftige Mamba im Spiel sein.«
»Aber Sie haben in Krün doch keine gefunden!«, rief Irmi.
»Richtig. Sie könnte noch da sein. Irgendwo. Ganz abwegig ist das nicht, so schlecht, wie die Käfige gesichert waren. Wir könnten sie übersehen haben in all den Gebäuden. Mambas hängen gerne über Kopf in Bäumen oder eben dort, wo sich ihnen eine Möglichkeit bietet, nach oben zu gelangen.« Er sah Irmi an. »Oder aber sie ist nicht mehr auf dem Gelände und stattdessen irgendwo unterwegs.«
Irmi hatte plötzlich ein Bild vor Augen. War da nicht letztens eine Schlange aus dem Klo gekrochen gekommen und hatte ein kleines Mädchen fast zu Tode erschreckt?
»Ist das bei wechselwarmen Tieren nicht problematisch?«, wollte sie wissen. »Gerade nachts kann es doch schon richtig kalt werden?«
»Natürlich brauchen Reptilien eine gewisse Umgebungstemperatur. Die ständigen Gewitter und Kälteeinbrüche derzeit sind für ihr Überleben sicher wenig hilfreich. Aber man kann ja nie wissen, wo die Schlange gelandet ist.«
Wo die Schlange gelandet war. Irmi wollte sich gar nicht ausmalen, dass die sich in diesem Augenblick irgendwo durch Krün schlängelte. »Und das Mambagift ist sehr gefährlich, wie man sieht«, konstatierte sie.
»O ja, mit einem einzigen Biss kann die Schwarze Mamba weit mehr Gift freisetzen, als nötig wäre, um zu töten. So ein Tod durch einen Mambabiss ist wirklich sehr unschön. Wenn Sie gebissen werden, haben Sie je nach Konstitution etwa zwei Minuten, um sich zu bewegen und eventuell noch zu einem Telefon zu greifen. Nach zwei Minuten wird der Arm taub, dann die anderen Extremitäten. Nach circa fünf Minuten brechen Sie zusammen. Das Perfide ist, dass das Gehirn alles noch verarbeitet. Sie nehmen sich selber wahr, auch was Ihnen widerfahren ist, können aber nichts mehr tun, geschweige denn sich artikulieren! Ziemlich grausam, und dann dauert es noch weitere fünfzehn Minuten, bis das Herz-Lungen-System aussetzt und es zum Erstickungstod kommt.«
Irmi lief ein Schauer den Rücken hinunter. Das wünschte man ja nicht mal seinem schlimmsten Feind. Wie sehr musste man jemanden hassen, um ihn auf diese Weise umzubringen? Reichte es, dass man zum Beispiel Tierschützer war und gegen Windmühlen kämpfte? Dass man Kilian Stowasser immer wieder gewinnen sah und man selber einen Rückschlag nach dem anderen einstecken musste? So sympathisch ihr Max Trenkle auch war, der Ex-Polizist war trotzdem Irmis Hauptverdächtiger. Sie musste auf der Hut sein.
»Ich müsste aber ein gewisses Fachwissen haben, um so zu morden, oder?«, fragte sie zögernd.
»Ja, sicher. Auf so eine Idee kommt ja nur ein Fachmann.« Er stockte kurz. »Ich war es aber nicht!«
»Das hätte ich auch nicht vermutet. Andererseits: Haben Sie ein Alibi?«
Er lachte. »Ein wasserdichtes. Ich war hier bei einer Führung. Neun Zeugen könnte ich benennen. Dann haben Sie angerufen, und ich bin Ihnen zu Hilfe geeilt.«
»Wenn diese Lähmung so schnell einsetzt, dann tue ich doch alles, um noch Hilfe zu holen, oder?«
»Ja, aber wie gesagt, da haben Sie gerade noch Zeit, zum Handy zu greifen und einen Notruf abzusetzen«, meinte der Schlangenmann.
»Sein Handy wurde nicht gefunden«, sagte Irmi leise.
»Dann hatte er keine Chance. Er wird höchstens noch eine kurze Strecke zurückgelegt haben. Vielleicht ist er im letzten der drei Räume attackiert worden und im zweiten Raum niedergegangen. Man reagiert dann ja meist auch panisch und verliert wertvolle Sekunden.«
»Kann ich davon ausgehen, dass sich Kilian Stowasser der Gefahr sofort bewusst war?«
»Wenn das Gift über einen Verband eingedrungen ist, sicher nicht. Und auch nicht, wenn ihm das Gift ins Koks gemischt wurde. Aber wenn er wirklich von einer Schlange gebissen wurde, sollte er wissen, welche Stunde geschlagen hatte. Aber selbst da bin ich pessimistisch. Menschen halten solche Tiere und haben kaum Fachwissen.«
Irmi überlegte. »Koks oder Pflaster würde aber die Anwesenheit einer zweiten Person bedeuten. Denn wenn das so schnell geht …«
»Ja, klar. Eine vertraute Person müsste zum Beispiel den Verband angelegt haben. Sozusagen vordergründig die barmherzige Krankenschwester oder der gute Krankenpfleger, in Wirklichkeit aber die Giftmischerin oder der Giftmischer.« Er verzog den Mund. »Aber um das herauszufinden, haben Sie ja Ihre Leute. Es gibt doch eh keinen perfekten Mord.«
»Sagen wir mal so: Wenn ein Mord perfekt war, erfahren wir ja nie davon. Insofern kann man Statistiken nicht trauen.«
»Auch wieder wahr. Aber im Fernsehen wirkt das immer so, als wäre die Kriminalpolizei allwissend.«
Die Realität sah leider anders aus. Irmi kannte keinen einzigen Rechtsmediziner wie Liefers als Professor Karl-Friedrich Boerne. Ein Kollege wie Kopper, der ihr Pasta kochte, würde ihr gefallen. Und für einen wie Mick Brisgau, den »Letzten Bullen«, hätte sie sich sogar nach Essen versetzen lassen: dieses Lächeln, dieser Hüftschwung, diese Sprüche – eine herrliche Filmfigur.
Irmi sah auf die Uhr. »Sie werden jetzt schließen, oder?«
»Ja, die Tiere versorgen und dann heimfahren.«
»Dürfte ich Sie morgen früh noch mal nach Krün bitten? Ich muss wissen, ob da eine Schlange war oder immer noch ist.«
»Sicher. Ist acht Uhr zu zeitig? Ich müsste im Anschluss gleich wieder hierher.«
»Nein, das ist wunderbar. Ich steh oft früh auf und helf meinem Bruder im Stall. Schlafen ist Luxus. Ich bin aber kein Luxusweibchen.« Sie lachte etwas angestrengt. »Ich danke Ihnen.«
Als sie wieder im Auto saß, rief sie Kathi an. »Bitte sieh zu, dass wir von Frau Rosenthal eine DNA-Probe bekommen. Wie du das machst, ist mir egal, nur legal sollte es sein. Der Hase soll morgen um neun in Krün sein, du bitte auch. Und wenn’s irgendwie geht, probier’s mal mit Professionalität, das gilt auch für den Umgang mit Andrea.« Bevor Kathi noch etwas sagen konnte, legte sie auf.
Es dämmerte, eigentlich viel zu früh für diese Jahreszeit, aber der ganze Tag war so gewesen, als hätte jemand ganz da oben vergessen, das Licht anzuschalten.
Als sie das Haus betrat und in der Küche Licht machte, hatte jemand Konfetti ausgestreut. Keine richtigen Konfettis, farblich waren sie nämlich eher eintönig: weiß nämlich und nicht besonders formschön. Sie folgte der Spur und traf zwei Räume weiter auf den kleinen Kater, der den Rest der Klorolle triumphierend hochschleuderte. Kater lag mit elegant eingeschlagenen Pfoten daneben und betrachtete seinen Schützling. In seinen Augen lagen Milde und Wärme.
Irmi musste grinsen. Sie vermenschlichte Tiere, hätte Bernhard jetzt gesagt. Doch sie liebte die beiden Kater in diesem Moment aus tiefstem Herzen, denn sie schickten Licht in diesen tiefgrauen Tag und brachten sie zum Lachen.
Langsam begann sie die Deko wieder aufzusammeln. Als sie wieder vorne an der Eingangstür war, kam aus der Küche ein schauerlich berstendes Geräusch. Der Neue hatte es irgendwie geschafft, zwischen Decke und Bauernschrank zu springen, und dabei einen Bierkrug zu Boden befördert. Kater war geflüchtet, der Kleine hingegen hieb mit seiner dünnen rabenschwarzen Pfote über die Kante des Schranks.
»Du Giftzwerg!« Irmi lachte.
Er hakelte mit der Pfote nach ihr und hing dann über der Kante, um genau zu beobachten, wie das Frauchen die Scherben aufkehrte. Als sie fertig war, sprang er herunter und rollte sich augenblicklich auf der Eckbank zusammen. Die Show war beendet!
Lasst uns sein wie die Katzen, dachte Irmi, nahm sich ein Bier und setzte sich dazu. Kater kam retour und fläzte sich mitten auf den Tisch. Gut, dass Bernhard mal wieder vereinsmeiern war, er hätte Kater sofort hinunterkatapultiert.