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Der Bus fuhr davon. Irmi blickte sich nach ihrer Kollegin um. Erst nach einer Weile entdeckte sie Andrea und Kathi beim Notarztwagen und ging auf sie zu.
»Tut mir leid. Ich bin zusammengeklappt«, erklärte Andrea, die auf einem Stuhl vor dem Wagen saß. »Das war unprofessionell, aber …«
»Das war eine normale Reaktion. Ich mach mir nichts aus Tieren, aber das … das …« Kathi schossen Tränen in die Augen.
Kathi tröstete Andrea! Das Leben war ein fortwährendes Mysterium. Mitten im Wahnsinn gab es Lichtblitze, gab es Hoffnung, seltsame Wendungen. War der Mensch so? Musste es immer erst zu Katastrophen kommen, damit man zusammenrückte und milder wurde?
»Andrea, du musst dir keine Vorwürfe machen. Wir alle haben so etwas noch nicht gesehen«, meinte Irmi. »Aber hör mal, vielleicht könnte deine Familie zwei oder drei der Pferde unterbringen? Ihr habt doch leere Boxen. Die sind hier sicher froh um jeden Stallplatz.«
Andreas Eltern hatten eine Landwirtschaft, und erst kürzlich hatte ihre Cousine geheiratet und drei Pferde mitgenommen. »Bis auf Raisting aussi« hatte sie geheiratet, das war für die Traditionalisten in Andreas Umfeld fast schon eine Weltreise. Eine Weltreise von etwa dreißig Kilometern.
Raisting lag in einem ganz anderen Einzugsgebiet. Von hier war es viel näher zur Landeshauptstadt und zum Starnberger See, wo schicke Münchenpendler zu Mietpreisen lebten, die sittenwidrig waren. Wo man sich fortwährend darüber unterhielt, ob man auf der richtigen oder der falschen Seite des Sees lebte, und wie eine Sinuskurve war mal die Feldafinger Seite die angesagte, mal die Berger Seite.
Solche Fragen stellte man sich in Andreas Familie nicht, sondern eher die, wie man den Nachbarn ärgern konnte, der immer mit seinem viel zu großen Bulldog die Kante des Feldes zu Matsch zerfuhr. Das waren die wichtigen Werdenfelser Lebensfragen.
»Meinst du?« Andrea klang wie ein Schulmädchen. Normalerweise hätte Kathi sie deshalb veralbert, aber diesmal blieb Kathi stumm.
»Ruf an! Red mal mit der Amtstierärztin«, schlug Irmi vor.
Andrea lief davon, und Kathi murmelte: »Wenn man selber Pferde hat, ist das wahrscheinlich noch viel schlimmer.«
Aktion, selbst blinder Aktionismus war besser als Verharren. So lange der Mensch noch irgendetwas tun konnte, blieben Panikattacken weitgehend aus. Aber sie lauerten ganz knapp unter der Oberfläche, bereit, jederzeit auszubrechen.
Bevor Irmi ihre eigenen nächsten Schritte überlegen konnte, kam Sailer. Zusammen mit dem Kollegen Sepp.
»Mir ham da noch so a Gebäude aufbrochn«, sagte Sailer, und noch immer klang seine Stimme ganz anders als sonst. Auch ein Sailer war zu erschüttern, oder gerade jemand wie er, dessen Weltbild so fest gezimmert war.
»Mir ham es sofort wieder zug’macht«, schickte Sepp hinterher.
Noch mehr Elend? Noch mehr Hölle? Was hatten sie entdeckt, was Angstflackern in ihren Augen erzeugt hatte?
»Was ist denn in dem Raum?«, fragte Irmi und wollte die Antwort am liebsten gar nicht hören.
»Des glauben Sie ned«, kam es von Sailer.
»Wo die armen Karnickel waren …« Sepp stockte kurz. »Do is noch a Nebengebäude. Verrammelt wie a Hochsicherheitstrakt. Also, i moan, des is a Hochsicherheitstrakt, weil da san Monster drin.«
Es war Kathi, die allmählich wieder zu ihrer gewohnten Form fand. »Könnten zwoa g’standene Mannsbilder amoi de Zähn auseinanderbringa?« Kathi konnte ein sehr gepflegtes Hochtirolerisch sprechen, wenn es sein musste, und nach einigen weiteren Nachfragen war den Herren zu entlocken, dass sie einen weiteren Raum gefunden hatten. Dass die Damen vom Tierschutz sie gebeten hätten, den Raum aufzubrechen. Dass das eine Weile gedauert hätte und dass sie als Erstes fast auf ein Krokodil getreten wären. Oder einen Leguan oder »so a Urviech mit Monsterzähn«, wie Sailer sich ausgedrückt hatte.
Jedenfalls waren ihnen noch offene Gitterboxen aufgefallen, und sie hatten die Tür wieder zugeworfen. Was völlig korrekt war, denn jeder Polizeischüler lernte, dass da Fachleute hermussten.
»Was habts gmacht, Burschn?«, fragte Kathi.
»Die Frau Tessy vom Tierschutz g’suacht, aber de is grad auf Garmisch abi«, meinte Sailer und sah Irmi hoffnungsfroh an.
Die Frau Irmengard, die würde es schon richten. »Sailer! Sepp! Was machen wir in so einem Fall? Erst denken, dann lenken! Also?«
»Den Schlangenbeschwörer anrufen?«, kam es von Sepp.
»Genau, gut erkannt. Anrufen! Auf geht’s!« Manchmal half nur die Flucht in den Zynismus und in sehr knappe Befehle.
In dem Moment kamen Tierschutzchefin und Amtstierärztin wieder vorgefahren. Die Scheinwerfer zerschnitten den Nebel, es war dunkel geworden. Zappenduster. Sie kurbelten die Scheiben runter, und Irmi setzte sie ins Bild, auch darüber, dass sie ihre Leute angewiesen hatte, den »Schlangenbeschwörer« zu rufen. So nannten sie den Inhaber des Reptilienhauses in Oberammergau, ein Experte für all diese dubiosen Kriechtiere. Er trat mit seinen Schlangen sogar in Filmen auf.
»Das fehlt ja grad noch!«, rief Doris Blume. »Auch noch Reptilien! Die kriegst du ja nirgends unter! Die Reptilienauffangstation in München wird uns lieben, wenn wir denen ein paar Hundert kranke Schlangen und Krokos bringen.«
»Ein paar hundert?«, fragte Kathi nach.
»Ja, bei den Terrarianern ist die Sammelleidenschaft meistens noch schlimmer. Da kommen leicht mal zwei- bis dreihundert Viecher zusammen. Gut, dann warten wir mal.«
Eigentlich hätten Irmi und Kathi jetzt von diesem unwirtlichen Ort verschwinden können, für sie gab es nichts zu tun, aber Irmi wollte auf jeden Fall noch nach Andrea sehen, und da Kathi nicht meuterte, gingen sie zusammen zu einem Stadl, unter dessen Dachüberstand sich sogar eine schiefe alte Biergartengarnitur befand, auf der man einigermaßen trocken sitzen konnte. Die Amtstierärztin hatte Kathi eine Decke mitgegeben, die sie sich um die Schultern hängte. Irmi fror komischerweise überhaupt nicht, obwohl ihre Fleecejacke nicht sonderlich warm war. Dann warteten sie.
Der Schlangenbeschwörer hatte sich beeilt, schien es. Schon bald traf er ein und wünschte ihnen mit fröhlicher Stimme einen guten Abend.
Irmi hatte ihn ein paar Mal erlebt. Er war ein Mann in den Vierzigern, mit einem leichten Allgäuer Dialekt und einem lakonischen Humor gesegnet, der Situationen entkrampfte. Seine Präsenz wirkte auf sie alle irgendwie beruhigend.
»Es war also bisher niemand drin?«, wollte er wissen.
»Nein, meine Kollegen haben die Tür sofort geschlossen. Ein Untier läuft offenbar auch frei da drin herum«, sagte Irmi.
Der Reptilienspezialist begann sein Auto zu entladen. Er hatte verschließbare Plastikbehälter dabei, Nylonsäcke, Styroporkisten, einen Schlangenhaken, Greifzange, Handschuhe und eine Gesichtsmaske. »Falls eine Speikobra dabei ist«, erklärte er.
Sie folgten ihm mit den Utensilien beladen zu besagtem Gebäude. Der Schlangenbeschwörer hatte eine Taschenlampe dabei, die einen ersten vorsichtigen Lichtstrahl in den Raum schickte. Schon bald fand er einen Lichtschalter, und augenblicklich war der Raum taghell. Blendend hell.
»Sie bleiben draußen! Ich seh schon von hier, dass die Viecher hier in Gitterkäfigen gehalten werden. Ist in Deutschland offiziell verboten. Hat auch den Nachteil, dass da leichter Tiere abhandenkommen. Ein vernünftiges Terrarium ist an sich ein- und ausbruchssicher. Wie Alcatraz.« Er lächelte. »Ich verschaff mir erst mal einen Überblick.«
Er verschwand im Inneren und war relativ schnell wieder draußen. »Das Untier ist ein Waran. Abgemagert und unterkühlt. Den hab ich schon mal in eine Styroporkiste gepackt. Ist völlig harmlos. Die allermeisten Echsen sind nämlich ungiftig. Trotzdem wird das hier ziemlich uferlos. Rufen Sie bitte die Münchner an, ich brauch Hilfe«, sagte er an die Amtstierärztin gewandt. »Dabei war ich nur im vorderen Raum, es gibt aber mindestens noch einen zweiten. Zumindest ist da eine Tür.«
Irmi stellte sich vor, wie er – sobald er die zweite Tür öffnete – von Schlangen attackiert wurde. Es war ein apokalyptisches Bild, auf dem schwarze Schlangen niederfuhren. Woher hatte sie solche Weltuntergangsbilder?
Ihre Gedanken schweiften umher wie Scheinwerfer im Nebel. Diffus. Thor und die Midgardschlange hatten sich gegenseitig getötet, war das so gewesen? Dabei wusste sie, dass Schlangen so ziemlich alles taten, um vor den Menschen zu flüchten. Sie hatte im Laufe ihres Lebens genug harmlose Ringelnattern angetroffen, die sich schnell aus dem Staub gemacht hatten. Und sie wusste, dass die Kreuzotter den trampeligen Menschen scheute und schon fünf von ihnen gleichzeitig zubeißen müssten, um für den Menschen eine akute Lebensgefahr zu bedeuten. Aber Schlangenangst hatte nichts Rationales, und die Situation hier war einfach gespenstisch.
»Warum haben wir bloß solche Furcht vor Schlangen?«, fragte Irmi laut.
»Wissen Sie, Schlangenangst ist heute eher eine Erziehungsfrage. Früher war das anders: Als die Bauern bei uns noch mit der Sense mähten, war der Respekt vor Schlangen oft lebensnotwendig. Und in Australien zum Beispiel tut man sich schwer, eine Schlange zu finden, die nicht giftig ist.« Er zuckte mit den Schultern und ging wieder hinein. Irmi sah ihm nach, heftete ihre Augen an die Tür.
Nach einer Weile kam der Schlangenmann wieder. Sein Gesichtsausdruck war ernst. »Das ist jetzt allerdings … ich meine, das ist jetzt ungut«. Er suchte Irmis Blick. »Da drin liegt ein Mann. Tot. Und ich befürchte, er ist umgeben von ganzen Scharen von Mordverdächtigen: nicht nur Schlangen, sondern auch Spinnen, Schwarzen Witwen zum Beispiel. Ihren Biss merkt man kaum, aber sie verfügen über ein Nervengift, auf das manche mit extrem starken Unterleibsschmerzen reagieren. Und natürlich gibt es Skorpione da drinnen. Den Arabikus beispielsweise, der ungleich giftiger ist als der schwarze Skorpion. Pfeilgiftfrösche sind auch dabei.«
Irmi fühlte sich überfordert und müde. »Sie meinen, irgend so ein giftiges Tierchen hat den Mann ins Jenseits befördert?«
»Die Vermutung liegt nahe. Ich habe auch keine Schussverletzung oder irgendwas anderes Auffälliges gesehen. Recht unversehrt der Mann, man könnt meinen, die Pupillen sind etwas kleiner. Ich bin ja kein Profi, aber …« Er brach ab.
Irmi wurde klar, was das bedeutete: Erstens war sie nun schlagartig zuständig, und zweitens würde sich die Sache auch ermittlungstechnisch zur Hölle ausweiten. Sie konnten schließlich nicht einfach so ins Gebäude marschieren. Die potenziellen Mörder waren alle noch vor Ort – lauter hochgiftige Tiere wie Klapperschlangen, Vipern, Cobras, Spinnen und Skorpione.
»Sie können wahrscheinlich nicht ausschließen, dass da irgendwelche Tiere noch immer frei rumlaufen, oder?«, fragte Kathi.
»Es wäre am sinnvollsten, auf die Münchner Kollegen zu warten, erst mal die Tiere sicherzustellen und dann den Mann herauszuholen. Tot ist er ja schon.« Er zuckte bedauernd die Schultern. »Da bin ich mir zumindest sicher.«
Wenn die Reptilienpatrouille gleich überall herumkroch, war es nahezu aussichtslos, hinterher noch verwertbare Spuren zu sichern. Der Schlangenbeschwörer mochte zwar die Kriechtiere verdächtigen, dennoch mussten sie damit rechnen, dass der Mann auch aus anderen Gründen das Zeitliche gesegnet haben konnte.
Allein dieser Ort! »Tod in der Tierhölle. Mord im Viecher-KZ« – sie sah schon die Schlagzeilen vor sich. Irmi seufzte. Natürlich wollte sie weder die Kollegen noch die Spurensicherung oder den Notarzt gefährden. Eine Schlangenattacke auf einen Polizisten oder den Arzt würde mit Sicherheit noch schönere Schlagzeilen einbringen. Und sie konnte sich schon vorstellen, wie Kollege Hase vom Kriminaltechnischen Dienst auf ihren Vorschlag reagieren würde, inmitten von derartigen Giftspritzen Spuren zu sichern. Aber es half alles nichts.
Irmi sah Kathi an. Die hatte die Stirn gerunzelt.
»Versteh ich Sie richtig? Wir müssen erst mal den Raum von den Tieren befreien, oder?«, fragte sie nach.
»Ganz genau, und wir brauchen die Experten von der Reptilienauffangstation in München«, sagte Irmi und sah den Schlangenmann an.
»Die werden eine Freude haben, Sie glauben ja gar nicht, was die alles erleben. Eines Tages hingen bei denen Kaiman-Babys in einer mit Wasser gefüllten Tüte an der Tür. Jedes Jahr landen ungefähr achthundert Tiere in der Auffangstation. Reptilien sind derzeit im Trend, spätestens seit der Dinomode. Und mit der Zunahme der Minihaushalte hätte man dann doch gerne ein Tier. Eins, das nicht bellt und jault. Oder eins, das keine Allergien auslöst.« Er holte Luft. »Außerdem kriegen die jede Menge ungeliebte Erbschaften rein. Da stirbt die Oma und hinterlässt die Schildkröte, die noch gute fünfzig Jahre Lebenserwartung hat. Und es gibt jede Menge Scheidungswaisen aus dem modernen Beziehungswirrwarr und Tiere aus einer eher unangenehmen Ecke, die mit der Kampfhundeszene vergleichbar ist, wo Menschen ihr Ego mit besonders gefährlichen Tiere aufwerten wollen.«
Irmi hatte sich noch nie mit solchen Fragen beschäftigt, aber ihr wurde klar, dass sie sich da gerade in eine Nebenwelt hineinbegab, die undurchsichtig war und in der sie sich mehr als unwohl fühlte.
Der Schlangenmann verzog den Mund und sagte: »In den Beständen solcher Tiersammler befinden sich häufig Riesenschlangen, Giftschlangen und Exoten, die unter Artenschutz stehen und keine Papiere haben. Zwei Drittel der beschlagnahmten Tiere sind behandlungsbedürftig. Sie brauchen ein Leben lang Medikamente, und da müssen erst einmal Adoptiveltern gefunden werden, die mit so etwas umgehen können.«
»Und manchmal wird’s offenbar auch gefährlich«, meinte Irmi. »Sie haben den Toten nicht zufällig erkannt, oder?« Blöde Frage, das wusste sie selber.
Der Schlangenmann lächelte. »Bedaure. Ein Mann von normaler Statur, um die fünfzig. Eher teuer gekleidet. Darüber trug er einen blauen Arbeitsmantel.«
Der letzte Satz alarmierte Irmi. Hier inmitten des Drecks und Kots war der Mann so teuer gekleidet herumgelaufen?
»Gut«, sagte Irmi, doch sobald sie das Wort ausgesprochen hatte, wusste sie, dass hier gar nichts gut war. Man redete einfach so daher, sagte »gut«, wenn man »schlecht« meinte. Sagte »versteh ich« zum Chef, der einen gerade entlassen hatte, wo man eigentlich »du dummes Arschloch« dachte. Sie riss sich zusammen. »Dann warten wir also auf diese Reptilien … äh … spezialisten aus München.« Eigentlich hatte sie »Reptilienfuzzis« sagen wollen. Sprache war eigentlich etwas Gemeines. Menschen konnten damit taktieren und manipulieren. Tiere hingegen waren ehrlich – und ausgeliefert.
Sie wandte sich an Kathi. »Kannst du zusammen mit Andrea herausfinden, wem das hier gehört?« An einem Tag wie diesem konnte sie sogar auf Kooperation der beiden Damen im Zickenduell hoffen. Kathi nickte und ging davon.
Selbst Doris Blume, die ja sonst immer von ansteckend guter Laune war, wirkte bedrückt, müde und frustriert. »Ich kann Ihnen leider auch nicht sagen, wem das hier gehört. Erstaunlicherweise wurden wir bisher noch nicht hierhergerufen. Das liegt vermutlich daran, dass das Anwesen so abgeschottet liegt. Aufmerksame Tierfreunde können sich nur dann melden, wenn sie etwas sehen. Und dann, Frau Mangold, Sie wissen das, sind uns auch erst mal die Hände gebunden.«
Erst wenn Nachbarn aufmerksam wurden – durch Lärm oder Gestank –, ging eventuell eine Meldung ein. Häuften sich die Meldungen bei der Polizei, informierte diese das Veterinäramt, aber ein Amtstierarzt konnte erst dann in eine Wohnung oder ein Anwesen eindringen, wenn die Staatsanwaltschaft das befürwortete. Das tat sie natürlich nur bei handfesten Beweisen, aber wie sollte man an solche gelangen, wenn sich der Tierhalter abschottete? Ein Teufelskreis und eine nicht endende Tierhölle, während die Zeit nutzlos ins Land ging, in der weitere Tiere elend verrecken mussten.
»Was geht denn in solchen Menschen vor, um Himmels willen?«
»Wir wissen, dass Tiersammler, Animal Hoarder genannt, psychisch krank sind. Eine Mehrheit von ihnen liebt ihre Tiere zu Tode. Es ist ein Krankheitsbild, bei dem Menschen Tiere in einer großen Anzahl halten, sie aber nicht mehr angemessen versorgen. Es fehlt an Futter, Wasser, Hygiene, Pflege. Die Halter erkennen nicht, dass es den Tieren in ihrer Obhut schlecht geht.«
»Aber das muss man doch merken!«
»Frau Mangold, es gibt auch andere Lebenssituationen, in denen man sich die Realität schönlügt und offensichtliche Tatsachen ausblendet. Diese Tiersammler machen das geschickt, die leben gut in ihrer kompletten Wahrnehmungsverzerrung.«
Sie hatte natürlich recht, es fiel Irmi nur so schwer, diese Quälerei als Krankheit zu sehen.
»Aber ich kann das doch nicht entschuldigen und sagen, das seien eigentlich gute Menschen mit einem hehren Ziel. Nach dem Motto: Eigentlich wollte ich ja Tiere retten, nur leider ist mir das irgendwie entglitten! Verdammt!«
Die Amtstierärztin lächelte müde. »Es gibt eine Studie aus den USA, die vier Typen unterscheidet. Der erste ist der übertriebene Pflegertyp, der sich tatsächlich in die Fürsorge verrennt und dem das Problem irgendwann über den Kopf wächst. Der Rettertyp hingegen glaubt, nur er könne Tiere richtig pflegen. Er rettet alles, aber irgendwann reichen Platz und Geld nicht mehr aus. Der Züchtertyp gibt vor, zu züchten. Er verliert aber den Überblick, es fehlen ihm auch der Geschäftssinn und die Logistik. Am Ende vermehren sich Tiere unkontrolliert, ohne verkauft zu werden. Und schließlich gibt es noch den Ausbeuter. Der schafft Tiere aus eigennützigen Zwecken an. Er hat keinerlei Mitgefühl, ist ein narzisstisch gestörter Mensch, der es zudem schafft, nach außen lange die Maske zu wahren. Er ist nämlich sehr manipulativ.«
Das klang alles nicht gut. Das klang nach vielen Mauern. »Und hier?«, fragte Irmi.
»Ach, wissen Sie, es gibt auch Mischformen. Hier handelt es sich wohl um jemanden, der sich sehr gut verstecken konnte. Ein Retter mit narzisstischer Störung? Keine Ahnung.«
In dem Moment kam Kathi wieder. »Was wir auf die Schnelle herausfinden konnten, ist Folgendes: Das Grundstück gehört einer Isabella Rosenthal. Gemeldet in Karlsruhe. Andrea ist ins Büro gefahren und will mehr herausfinden. Ihr Vater war übrigens gerade da mit dem Viechwagen und hat zwei Pferde mitgenommen. Er hat gesagt, dass er den, der das getan hat, persönlich an den Eiern aufknüpft.«
Von Doris Blume kam ein müdes Lächeln. »Bei so was denkt man öfter an Selbstjustiz. Am liebsten will man doch solchen Menschen das Gleiche antun. Tun wir aber nicht, wir schöpfen unsere legalen Möglichkeiten aus. Kämpfen gegen Windmühlen. Sie genau wie ich.« Sie zuckte die Achseln und ging zu einem Kleinbus hinüber, der eben gekommen war.
Die Experten von der Reptilienauffangstation in München begannen mit der Ärztin und dem lokalen Schlangenmann Kisten zu entladen. Irmi und Kathi konnten momentan nichts tun außer warten. Scheinwerfer leuchteten inzwischen das ganze Gelände aus, die erbarmungswürdigen Pferde waren alle weg, nur die fünf Erhebungen unter den Planen waren noch da – wie Mahnmale.
Es war merkwürdig still geworden, kein Gebell mehr, auch die Hunde waren einer besseren Zukunft entgegengereist. Wie es wohl Mama und Schoko ging? Sie sei eine Kämpferin, hatte Doris Blume gesagt. Doch genau das war das Perfide: Mit Tieren konnte man so quälerisch umgehen, weil sie nie haderten oder etwas infrage stellten. Weil sie nicht über ihr Schicksal nachdachten. Sie konnten nur versuchen zu überleben. Sie kannten es gar nicht anders. Nur in Filmen rotteten sich Tiere zusammen, nur dort befreiten clevere Katzen eine ganze Hundemeute.
Hier hatten sie alle bis auf die Hunde geschwiegen, und jetzt waren nur noch die leisen Jäger übrig – und einer von denen hatte einen Mann erlegt, wenn man dem Schlangenmann Glauben schenken wollte. Eigentlich war Irmi ganz froh, dass sie momentan nichts tun durfte. Ihr graute vor dem Moment, in dem sie sich mit dem Toten auseinandersetzen musste.
Dieser Moment kam zwei Stunden später. Mittlerweile war es nach Mitternacht, und sie hatte Kathi längst heimgeschickt. Die Reptilienexperten hatten geschuftet, unterkühlte Tiere notversorgt, manche hatten sie sofort einschläfern müssen. Und wieder würde es eine gigantische Anstrengung werden, diese Tiere gesund zu pflegen. Reptilien waren noch schwerer vermittelbar als pelzige Kuscheltiere. Kein Fell zu haben, war in der Liebhabeskala ganz unten angesiedelt.
Schließlich erhielt Irmi Zutritt zu dem Gebäude. Leere Gitterkäfige empfingen sie, das Schlimmste aber war eine Kühltruhe, in der tote Tiere eingefroren waren. Rasch warf Irmi den Deckel zu, um die Dämonen wieder wegzusperren.
Der Arzt konnte nur den Tod des Mannes feststellen. Irmi beschloss, die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen zu lassen, denn es gab keine klar ersichtliche Todesursache.
Als sie wieder draußen in der feuchten Nebelnacht stand und frische Luft in ihre Lungen strömte, fühlte sie sich wie hundert. Mindestens. Auch der Schlangenmann sah im Scheinwerferlicht um Jahre gealtert aus. Das Tierelend ging ihm an die Nieren, man spürte seine unterdrückte Wut, seine Hilflosigkeit.
»Und was meinen Sie?«, fragte Irmi. »Könnte der Mann an irgendeinem Gift gestorben sein?«
»Könnte, klar. Ich habe dem Toten so eine Art Beipackzettel für die Pathologie mitgegeben, auf welche Substanzen man ihn testen sollte. Es waren einige Tiere nicht ordnungsgemäß gesichert. Mein Hauptverdacht gilt der Coloradokröte.«
»Wem?«
»Der Coloradokröte. Wissen Sie, Frau Mangold, das klingt in Ihren Ohren jetzt vielleicht merkwürdig, aber das Tierchen ist in den USA und auch andernorts sehr beliebt. Wenn man an ihr leckt, wird man high, die Coloradokröte setzt halluzinogene Substanzen frei.«
Irmi starrte ihn an: »Sie meinen, da leckt jemand allen Ernstes freiwillig an einer Kröte?«
»Durchaus, der Mensch ist findig! Das Sekret der Kröte dient eigentlich der Abwehr von Fressfeinden und verhindert den Befall von Parasiten. Im Sekret ist einiges Leckeres drin, unter anderem O-Methyl-bufotenin, ein halluzinogenes Alkaloid. Bei Fressfeinden, die nicht allzu groß sind, kann dieses Gift auch zum Tod führen.«
»Der Mann war aber doch kein Fressfeind!«
»Das nicht, aber wenn man zu viel an der Kröte leckt, kann das zu Gefäßverengung führen mit daraus resultierender Atemlähmung.« Er machte eine kurze Pause. »Wenn der Mann da drin der Verursacher des ganzen Elends ist, dann kann man der Kröte nur gratulieren.«
Irmi hatte in ihrer Karriere wahrlich genug erlebt. Jenseits der fünfzig konnte man mit Verlaub von einer gewissen Erfahrung sprechen. Schussverletzungen, Würgemale, sogar ein Insulinmord – aber Tod durch Krötenlecken? Sie wollte sich das gar nicht so genau vorstellen …
In diesem Moment wurde ihre Aufmerksamkeit auf Sailer gelenkt. Sie hatte ihn mit dem Autoschlüssel losgeschickt, der sich in der Jacke des Toten befunden hatte. Sailer hatte wahrscheinlich den Hummer in tiefer Ehrfurcht geöffnet, war sicher Probe gesessen – und hatte Spuren vernichtet. Deshalb hatte es so lange gedauert, bis Sailer auf seinen Säbelbeinen zurückkam. In der Hand hielt er ein Fundstück aus dem Wagen: ein albernes Herrenhandtäschchen. Warum wunderte es Irmi schon gar nicht mehr, dass es aus Krokoleder war?
»Haben Sie schon reingesehen?«, wollte Irmi wissen.
»Nia ned! Sie san doch de Chefin.«
Irmi zog Handschuhe über und fingerte einen Ausweis heraus. Kilian Stowasser war fünfundfünfzig Jahre alt und in Buenos Aires geboren. Das hatte Klang. Anders als geboren in Garmisch-Partenkirchen. Oder Schongau. Oder Weilheim. Geboren in Buenos Aires, gestorben in Krün. Das allerdings hatte keinen guten Klang.
»Warum sagt mir der Name was?«, fragte Irmi.
»Is des ned der Schlafsackmo?«, vermutete Sailer.
Irmi überlegte kurz. Der Schlafsackmann? Doch auf einmal hatte sie ein Bild vor Augen. Ein Mann neben dem Landrat. Ein Mann auf Rednerbühnen. Ein Mann im Fernsehen. Kilian Stowasser, den sie für seine Schlafsackproduktion zum Bayerischen Unternehmer 2010 gekürt hatten. Einen Tierschutzpreis hatte er auch erhalten, weil er konsequent Daunen aus Lebendrupf ablehnte. Weil er selbst auf einer riesigen Gänsefarm glückliche Gänse hielt, die grasen durften und schwimmen. Ein Vorzeigeunternehmer, der auch jede Menge Arbeitsplätze geschaffen hatte. Was hatte der hier verloren? Hatte er Tiere befreien wollen? Oder an der Kröte lecken?
Auch der Schlangenmann kannte Stowasser aus Funk und Fernsehen. »Der Stowasser? Ist das nicht der mit der Fabrik in Eschenlohe? Mit den Gänsen?«
Irmi musterte das Bild im Ausweis. Das war der Tote, ganz eindeutig.
»Den hab ich echt nicht erkannt«, sagte der Schlangenmann verblüfft.
Wer bitte schön erwartete denn auch den bayerischen Unternehmer das Jahres 2010 inmitten gefrosteter Schlangen, unterkühlter Leguane oder mit der Zunge im Nacken einer Kröte?
Irmi hatte Mühe, sich zu konzentrieren. »Man erkennt Leute ja öfter nicht, wenn sie quasi aus dem Zusammenhang gerissen sind, wenn sie … Wissen Sie was, ich komm nicht über diese Kröte hinweg, die …« Wieder beendete sie den Satz nicht.
»Frau Mangold, das wäre nur eine Option. Es befanden sich mehrere Tiere außerhalb der Käfige. Vielleicht käme auch einer der Pfeilgiftfrösche infrage. Sie sind klein, aber oho – null Komma null zwei Milligramm ihres Gifts sind tödlich, es muss nur etwas in eine offene Wunde geraten. Der Mann hat einen zerkratzten Unterarm. Das hab ich dem Arzt aber auch gesagt. In jedem Fall wird die Rechtsmedizin viel Spaß haben, und Sie auch: Kann man Reptilien eigentlich des Mordes anklagen?«
O ja, Spaß würde sie haben. Irmi straffte ihre Schultern. »Ihnen schon mal herzlichen Dank, bitte auch an die Kollegen von der Auffangstation. Ich befürchte, unsere Wege werden sich in nächster Zeit noch öfter kreuzen. Also ich mein, nicht dass mir das unrecht wäre, aber ohne den Herrn Stowasser …« Sie litt unter akuten Wortfindungsstörungen, unter einer Satzbildungsneurose.
Doch der Experte hatte sie schon richtig verstanden. »Frau Mangold, ich glaube, wir alle brauchen erst mal ein großes Bier und ein bisschen Schlaf. Ich stehe natürlich gern zur Verfügung. Würde mich auch interessieren, woran er gestorben ist.«
»Ich halt Sie auf dem Laufenden«, versprach Irmi und wandte sich dann an Sailer und Sepp. »Den Wagen zur KTU, das Täschchen auch. Es ist leider kein Handy drin. Die sollen aber trotzdem mal das gesamte Programm fahren.«
Dann verabschiedete sie sich von ihren Leuten und von den Tierschützern.
Es war eine rabenschwarze Nacht. Kein Mond, keine Sterne standen am Himmel. Sie würden heute Nacht keine Angehörigen mehr informieren. Zwar war es üblich, das so schnell wie möglich zu erledigen und gleich das Kriseninterventionsteam mitzunehmen, aber es war nach ein Uhr, und es lag keine Vermisstenanzeige vor.
Es war fast zwei Uhr, als sie zu Hause war. Noch immer versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich, wenn ihr Blick auf den leeren Korb ihrer Hündin fiel. Es war eine stille Übereinkunft zwischen ihr und ihrem Bruder Bernhard, dass der leere Korb stehen blieb. Nicht einmal ihr Kater hatte davon Besitz ergriffen.
Der Kater namens Kater kam angeschlendert, gefolgt von einem zweiten Kater, der aus dem Nichts gekommen war. Ein rabenschwarzes Tier mit wenigen weißen Haaren an der Brust und weißen Barthaaren. Er hatte gelbe Augen wie ein Panther und das Temperament eines Quirls. Ständig in Bewegung. Dass Kater einen Artgenossen akzeptieren würde, hätte sie sich nicht träumen lassen. Aber Katzen waren unergründlich. Kater sah in dem Jungspund, den ihre Tierärztin auf ein knappes Jahr geschätzt hatte, wohl eine Aufgabe. Er war Vorbild und Erziehungsberechtigter zugleich. Deshalb hatte er wohl seinem jungen Freund eine Wühlmaus gefangen, die der Kleine nun stolz in die Luft warf. Das Ding war rattengroß, hatte bloß keinen so langen Schwanz. Irmi war sich sicher, dass Kater es gefangen hatte, nicht der kleine Hektiker. Der gab nämlich ständig pfeifende Geräusche von sich, die auch das letzte Beutetier in die Flucht geschlagen hätten.
Als sie ihr zweites Bier ausgetrunken hatte, war es halb drei. Sie entsorgte das Pelzding und ging ins Bett. Wie gut ging es doch ihren beiden Katern, dachte sie noch, ehe sie einschlief.