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Die nächste Stunde verbrachten Irmi und Kathi damit, die Abteilungsleiter des Unternehmens mit den Daunenträumen einzeln zu befragen. Den Ingenieur aus der Fertigung. Den Leiter Design. Die Leiterin der Schnittabteilung. Den Lagerleiter. Den Mann, der den Gänsebetrieb unter sich hatte.
Alle waren voll des Lobes für Kilian Stowasser, ließen aber auch durchblicken, dass Frau Rosenthal nicht ganz einfach in der Zusammenarbeit sei. Je enger man mit ihr zusammenarbeiten musste, desto stärker war die Kritik. Der Ingenieur hatte sich am neutralsten geäußert, der Leiter Design hatte sich über ihre starke Einmischung beklagt. Von Krün wollten sie aber alle nichts gewusst haben.
Allenthalben wurde Kilian Stowasser als begnadeter Golfer bezeichnet, mit einem Handicap im einstelligen Bereich. Dass die verstorbene Frau Stowasser sehr tierlieb gewesen sei, ja, auch das war bekannt. Die Tierliebe von Frau Rosenthal hingegen war niemandem so richtig präsent. Bei den Befragungen brachen ohnehin einige Brocken aus der heilen Fassade des Unternehmens, denn Frau Rosenthal schien das Klima tatsächlich ziemlich zu vergiften.
Nach Alibis zu fragen, war momentan ziemlich sinnlos, so lange sie nicht wussten, wann der gute Kilian von Daunentraum genau verstorben war. Und zumindest Frau Rosenthal mit ihrem Trip nach Karlsruhe schien aus dem Kreis der Verdächtigen auszuscheiden.
Es war wärmer geworden, der Himmel changierte in hellgrauen Tönen.
»Außen hui, innen pfui«, kommentierte Irmi auf dem Rückweg im Auto. »Nach außen heile Geschäftswelt, und hinter den Fassaden eine Alkoholikerin und ein Arbeitsklima, das alles andere als idyllisch ist. Schad um die schönen Dirndl.«
Kathi nickte. »Schade auch, dass wir mit Kilian Stowasser nicht mehr reden können. Der hätt sicher schöne Geschichten erzählen können.«
»Vielleicht wurde er deshalb ermordet? Weil er nichts mehr erzählen sollte?«
»Von einer Kröte oder einem Pfeilgiftfrosch? Kann man die vielleicht als Mörder anheuern, indem man ihnen zehntausend Euro oder mehr Mäuse verspricht?«
»Ja, ja, ich weiß, das ist unlogisch. Da passt gar nichts zusammen.«
»Oder es war halt doch ein Unfall mit seinen giftigen Spielzeugen«, meinte Kathi.
»Jetzt hören wir uns erst mal an, was die Kollegen so zu berichten haben.«
Die Kollegen im Büro hatten einiges zu erzählen, Andrea hatte ganze Arbeit geleistet.
»Der Daunensaubermann hatte im Spätherbst 2008 eine ganz schöne Schmutzweste. Da hatte ihn eine Tierschutzorganisation schwer unter Beschuss«, berichtete sie. »KS-Outdoors muss ziemlich gelogen haben. Von wegen, alle Daunen kämen von glücklichen Gänsen und so.«
»Sondern?«, fragte Irmi.
»Also, da gibt es eine Tierschutzorganisation. FUF e.V. steht für ›Fell und Federn‹ und wurde 1990 gegründet. Der Hauptsitz ist Hannover, die Landesgruppe Bayern hat ihren Sitz in Garmisch, und der 1. Vorsitzende heißt Max Trenkle.«
Irmi nickte Andrea zu. »Sauber recherchiert, und was hat der FUF nun rausgefunden?«
»Dass KS-Outdoors sehr wohl Daunen aus Qualzuchten in Ungarn zugekauft hat. Auf der Homepage von FUF sind echt eklige Bilder.«
»Danke, nicht noch mehr solche Viechereien«, rief Kathi.
Auch Irmi war nicht unbedingt erpicht auf weitere Gräuelbilder. »Also, so ganz versteh ich das alles nicht. Die PR-Dame, die Schwägerin des Chefs, hatte heute eine Pressegruppe da und hat von einem Speziallabor gefaselt, das Federn und Daunen und die tierschutzgerechte Haltung prüft. Ich muss gestehen, das Innenleben von Schlafsäcken und Daunenanoraks hat mich bisher nicht wirklich interessiert.«
»Mir war das auch alles etwas zu kompliziert, und da hab ich mir gedacht, ich lad den Herrn Trenkle mal zu uns ein.« Sie unterbrach sich mit einem unsicheren Blick zu Kathi und Irmi. »Ich hab bei euch angerufen, aber Kathis Handy war aus. Deins hat geläutet, es ging aber keiner dran.«
Irmi lächelte. Andrea verfiel immer wieder in diese Obrigkeitsangst. Während Kathi zu sehr voranpreschte, nahm sich Andrea zu stark zurück und dachte zu viel nach.
»Andrea, du hast Herrn Trenkle hergebeten? Ja, wunderbar, das hätte ich auch getan. Wann kommt er denn?«
»Er sagte, wir sollen anrufen, er könne innerhalb von fünf Minuten da sein.«
»Gut, Andrea, dann lass den Mann antanzen. Wenn jemand schon mal erpicht darauf ist, mit uns zu reden, müssen wir das doch ausnutzen.« Irmi nickte ihr aufmunternd zu und wandte sich dann an Sepp Gschwandtner, dem sie eher eine längere Rede zutraute als Sailer.
»Irgendwas von den Nachbarn?«
»Oiso, es gibt ja ned bloß de eine Nachbarin, die direkt angrenzt. Es gibt noch zwei andere in der Stroß.«
Ja, das hatte sie zwar nicht wissen wollen, aber Sepp musste wohl erst in Fahrt kommen. Irmi wartete.
»Oiso, des Gelände is erscht im Frühling 2009 bezogen worden. Verkauft hat des a Bauer, der wo 2007 aufgeben hot. Er hot aber so an horrenden Preis verlangt, dass koaner des kauft hot. Erst 2009 hot sich do was bewegt, und dann is des aa ganz schnell ganga, sagen die Nachbarn. Dass sie des kaum richtig mitkriegt ham und dass da glei des Mordstor war.« Er atmete durch, Reden war für ihn offenbar anstrengend.
»De ham sich mehrfach beschwert, weil’s eben immer so laut is. Einer, der wo Herr Mühlbauer hoaßt, hot amol a Frau im Cabrio aufg’halten und sie g’fragt, was da oben los sei. Die hot ihm fünfhundert Euro gebn.«
»Wie bitte?«
»Ja, er hot g’sagt, sie hot g’sagt, sie tät halt Hunderl züchten, und da wär’s halt lauter, und des wär dann so eine Art Entschädigung. Er hot dann nimmer mehr bei uns ang’rufn.«
Das war ein starkes Stück. »Haben Sie gefragt, wie die Frau aussah?«
Sailer mischte sich ein. »Sicher, Frau Irmengard. Groß, hot er g’moant. Gepflegt, eine Dame eben. Er hot das Kennzeichen notiert.«
»Das Sie schon überprüft haben, Sailer?«
»Sicher.«
»Und von dem Sie den Halter ermittelt haben?«
»Sicher.«
»Der wie heißt?« Irgendwann würde Irmi mal Jod-S11-Sprechperlen an Sailer ausgeben.
»Des is aa de Frau.«
»Aber die hat doch auch einen Namen?«
»Sicher.«
Zum Glück schaltete sich Sepp ein: »Isabella Rosenthal.«
Was zu erwarten gewesen war: Frau Rosenthal, die mal eben kleine Geldgeschenke verteilt hatte.
Auch die Anwohner weiter unten, ein älteres Ehepaar, das allerdings nur zeitweise in Krün lebte und zeitweise in München, hatten Geld erhalten, erzählte Sepp. Nur die direkte Anwohnerin, Frau Sanktjohanser, die Sailer ja bereits von seinem ersten Besuch des Krüner Anwesens kannte, hatte behauptet, weder Geld angeboten bekommen noch welches angenommen zu haben.
»Des glaub i der aber ned«, hatte Sailer kommentiert.
Irmi glaubte das auch nicht, aber sei es drum. Frau Sanktjohanser hatte zu Protokoll gegeben, dass alle zwei Wochen nachts ein Lkw vorgefahren sei. Das Tor sei dann aufgegangen und gleich wieder zu. Ein Kennzeichen hatte sie sich nicht gemerkt, es sei ja dunkel gewesen, sie sei sich aber sicher, es sei »was Ausländisches« gewesen.
Ansonsten hatte Frau Sanktjohanser fünf Autos benennen können, die die Straße hinaufgefahren waren: Stowassers Hummer, ein Firmen-Kleinbus von KS-Outdoors, Frau Rosenthals Cabrio, ein Mazda MX-5 und ein Mercedes Jeep, der sei allerdings schon länger nicht mehr gekommen. Irmi nahm an, dass es sich dabei um den Wagen von Stowassers verstorbener Gattin handelte.
Ab und zu wäre auch ein Heutransporter gekommen, hatte Frau Sanktjohanser erzählt. Sicher nicht allzu häufig, dachte Irmi, sonst wären die Tiere nicht bis auf die Knochen abgemagert gewesen.
Irmi blickte in die Runde. »Gut, vielen Dank. Wir können also davon ausgehen, dass die Tiersammelei sozusagen in der Familie geblieben ist.«
»Was aber auch bedeutet«, sagte Kathi, die bekanntlich keine Probleme damit hatte, Unangenehmes anzusprechen, »dass wir keinerlei Hinweise auf einen Mörder oder eine Mörderin haben. Damit geht uns das Ganze eigentlich nichts an, oder?«
»Bis ich nichts aus der Rechtsmedizin habe, sind wir von der Kriminalpolizei im Boot«, erwiderte Irmi. »Wie sieht es eigentlich mit der KTU aus? Hat Hasi schon Laut gegeben?«
»Die sichern gerade die Spuren im Auto und vor Ort. Schade, dass kein Handy zu finden war«, meinte Andrea.
Ehe Kathi noch einmal aufbegehren konnte, klopfte es. Andrea ließ einen Mann herein, der sich als Max Trenkle vorstellte. Irmi bat ihn, schon mal in den Nebenraum zu gehen. Bevor sie ihm folgten, zischte sie Kathi zu, sie solle sich beim folgenden Gespräch bitte im Zaum halten.
Dieser Max Trenkle gefiel Irmi. Er war groß, schlank und trug die Haare sehr kurz. Ein bisschen erinnerte er sie an Reinhard May. Seine Nickelbrille mochte etwas öko wirken, seine Outdoorhose dagegen gar nicht. Sicher Baumwolle aus fairem Handel, dachte Irmi. Insgesamt wirkte Trenkle sehr gepflegt und sympathisch.
Sie dankte ihm für sein Kommen und erklärte ihm, dass sie sich für Kilian Stowasser interessierten. Im Zuge von Internetrecherchen seien sie darauf gestoßen, dass der Tierschutzverein FUF Herrn Stowasser im Visier gehabt habe.
»Herr Trenkle, ich muss gestehen, dass ich bisher eher selten über Schlafsäcke nachgedacht habe. Ich weiß nur, dass Hersteller von Daunenbetten und Daunenkissen Öko-Zertifizierungen haben.«
Eigentlich sollte man viel bewusster und informierter leben, dachte Irmi – wenn der Tag nur mehr als vierundzwanzig Stunden hätte und ihr Kopf nicht immer wieder an die Grenze seiner Aufnahmefähigkeit geraten würde. Gleichzeitig rügte sie sich innerlich, dass das ja eigentlich keine Entschuldigung war.
Max Trenkle nickte. »Ich hole jetzt etwas aus«, kündigte er an. »Unterbrechen Sie mich, wenn Ihnen das zu weit geht.«
Irmi lächelte ihn an. »Nur zu!«
»Gänse werden hauptsächlich des Fleisches wegen als Weihnachts- oder Martinsgans gezüchtet – und schon bleibt einem das Gänsefleisch im Halse stecken. Eine frei laufende Biogans hat zur Schlachtreife nach etwa sieben Monaten ein Gewicht von vier bis sechs Kilo, aber von den rund zehn Millionen Gänsen, die in Deutschland zwischen November und Weihnachten auf den Tellern landen, stammen die meisten aus Polen und Ungarn. Dort werden Gänse in nur neun Wochen unter Kunstlicht und in größter Enge auf ihr Verkaufsgewicht von drei Kilo gemästet. Dabei ist die Gans eher der Abfall, denn das Kostbare an ihnen ist die Stopfleber. Die Stopfleber-Mast ist perfide Tierquälerei: Durch das sogenannte Stopfen wird das Gewicht der Gänseleber von normalerweise hundertzwanzig Gramm auf über ein Kilo gequält. Folgen der brutalen Zwangsernährung sind zerrissene Speiseröhren und geplatzte Mägen. Als Quasi-Abfallprodukt verwendet die profitorientierte Fleischindustrie auch noch die Daunen, die in Betten und Outdoorprodukten landen.«
Immerhin musste sie kein schlechtes Gewissen wegen der Weihnachtsgans haben. Sie konnte nämlich Gänsebraten gar nichts abgewinnen, und ihr Bruder Bernhard gottlob auch nicht.
Max Trenkle sah sie fragend an.
»Nur weiter, Herr Trenkle!«
»Dabei haben die Fleischgänse vielleicht sogar noch Glück, Frau Mangold, denn manche Gänse werden auch rein für die Daunen gezüchtet und bei lebendigem Leibe gerupft. Das nennt man übrigens beschönigend Mauserrupf – mit der Begründung, die Tiere würden in der Mauser ja eh ihre Federn verlieren. Manchmal liest man auch das Wort Harvesting, weil das auf Englisch ja eh keiner versteht. Dieses Verfahren führt bei den Tieren zu schweren Wunden, die sogar genäht werden, auch ohne Betäubung! Der Stress für die Tiere ist so gewaltig, dass sie sich vor Panik in den Stallecken gegenseitig erdrücken. Nach der grausamen Tortur bleiben sterbende Gänse mit gebrochenen Flügeln zurück.«
Kaum hatte Irmi sich etwas erholt von den Bildern der Nebelnacht in Krün, kamen schon wieder neue Albtraumszenarien auf sie zu. Warum war sie auch mit der Gabe gesegnet, sich alles immer so bildlich und plastisch vorzustellen!
»Und von Höfen mit solchen Praktiken hat KS-Outdoors ihre Daunen bezogen?«, fragte Kathi.
»Junge Frau, Sie klingen ungläubig, aber genau das konnten wir denen nachweisen.«
»Wie denn?«
»Wir haben ein paar Schafsäcke aufgeschnitten und den Inhalt testen lassen. Wir haben einen Zulieferer zum Sprechen gebracht, ich will Sie da jetzt gar nicht langweilen. Jedenfalls konnte der Bezug von Daunen aus Ungarn aus einem Stopfleber- und Lebendrupf-Betrieb nachgewiesen werden.«
»Ja, und KS-Outdoors? Was haben die gemacht?«
»Die konnten sich rausreden, dass sie nicht wissentlich Daunen aus tierquälerischer Haltung bezogen hätten.«
»Und damit sind die durchgekommen? Oder anders gefragt: Warum bezweifeln Sie die Richtigkeit dieser Aussage?«, fragte Irmi.
»Das kann ich Ihnen sagen, Frau Mangold. Kilian Stowasser hat sich darauf versteift, dass er nun mal nicht den gesamten Weg kontrollieren könne. Er hat darauf verwiesen, dass der Zwischenhändler, der die Federn reinigt, einfach welche aus Lebendrupf dazwischengemengt habe.«
»Das kann aber doch sein, oder?«, warf Kathi ein.
»Ja, das kann schon sein. Allerdings hatte der Zulieferer uns gegenüber ausgesagt, dass Kilian Stowasser sehr wohl gewusst habe, was er da einkauft. Dass Stowasser die Farm in Ungarn sogar einmal besucht hätte.« Er stieß Luft aus. »Wir hätten ihn als Zeugen gebraucht, er hat seine Aussage aber leider revidiert, weil wir ihn angeblich unter Druck gesetzt hätten.«
Es war still im Raum. Sehr still. Nach einer Weile sagte Irmi leise: »Haben Sie das getan?«
»Nein, haben wir nicht.« Er ließ sich nicht provozieren.
»Stowasser hat sich also aus der Affäre gezogen. Das war Ende 2008. Zwei Jahre später wird er bayerischer Unternehmer des Jahres. Wie passt das zusammen? Ist kein Schatten auf seiner weißen Weste geblieben?«, wollte Kathi wissen.
»Kilian Stowasser ist clever. Sein Marketing auch.«
»Frau Rosenthal?«
»Ja, genau die. So sehr ich Felltiere schätze, aber Haare auf den Zähnen mag ich bei Frauen nicht. Stowasser und seiner Marketingchefin ist es gelungen, die negative Publicity in eine positive umzumünzen. Er gab den reuigen Sünder und ließ klare Richtlinien definieren, die auch an die Daunenlieferanten kommuniziert wurden. Mit Unterstützung eines unabhängigen Partners wurde anschließend ein so genannter Auditierungsprozess gestartet. An dieser Stelle kommt das Labor ins Spiel. Es ist ein seriöses und unabhängiges Institut, gar keine Frage. Mit dieser Transparenz geht KS-Outdoors nun hausieren und Rattenfangen bei den Journalisten.«
Irmi fiel auf, dass auch Trenkle das Bild vom Rattenfänger gewählt hatte.
»KS prescht sehr forsch nach vorne«, fuhr Trenkle fort. »Die Richtlinien für Daunen stammen alle aus der Nahrungsmittelindustrie und sind auf die Outdoorbranche eigentlich nicht übertragbar. Da sind wir uns mit KS sogar ausnahmsweise einmal einig. In der Nahrungsmittelindustrie geht man von einem sehr kurzen Leben der Tiere aus. Deshalb sind diese Standards eigentlich immer noch absolut lebensverachtend für die Tiere. Und darum hat sich KS aufs Banner geschrieben, dass sie von ihren Zulieferern die Einhaltung der Richtlinien der englischen Tierschutzorganisation RSPCA erwarten. Marketingtechnisch ist das brillant!«
»Und Sie glauben ihm das immer noch nicht?«, fragte Irmi nach einer Weile.
»Nein, Frau Mangold, aber wir werden weiter gegen Windmühlen kämpfen, werden weiter unter chronischem Geldmangel leiden und hoffen, dass uns eine nette ältere Dame eine Wohnung vererbt, die wir dann veräußern können.«
Kathi funkelte ihn böse an.
»Junge Frau, das ist unsere einzige Chance. Mitgliedsbeiträge sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Und falls Sie nun befürchten, dass ich alte Gönnerinnen meucheln könnte: Nein, das tue ich nicht, all unseren Mitgliedern sei ein langes Leben vergönnt.«
Er war gut. Eloquent und souverän.
»Vielleicht keine Gönnerin, aber Kilian Stowasser?«
»Was, Kilian Stowasser?«
»Vielleicht meucheln Sie keine alten Damen, aber den Widersacher? Wie wäre das, Herr Trenkle?« Irmi klang freundlich und aufgeräumt, obwohl ihr längst schon wieder die Magensäure aufstieß. Sie musste dringend etwas dagegen unternehmen.
»Stowasser ist tot?«
»Genau.«
»Ermordet?«
»Sagen Sie es mir.«
»Also, ich habe ihn nicht getötet. Wenn Sie mich jetzt nach Feinden fragen, da hatte er sicher aus unseren Reihen eine ganze Menge. Er hatte aber auch Feinde in seiner Branche …«
»Halt, das ist mir zu ungenau. Wen?«
»Liebe Frau Mangold, das vermag ich Ihnen auch nicht zu sagen. Aber seine Marketinglady geht sehr clever vor. Ich weiß nur, dass auch andere gern diesen Unternehmerpreis bekommen hätten.«
»Herr Trenkle, Sie und Ihre Organisation hatten doch nicht bloß KS im Visier, oder? Da gibt es doch sicher noch mehr schwarze Schafe?«
»Natürlich, fast alle. Wenn der Konsument für einen Schlafsack keine hundert Euro zahlen will, dann müssen halt die ungarischen Gänse dran glauben. FUF ist im Übrigen eine Organisation, die regional wirkt. Wir haben Landesgruppen und betreiben ganz bewusst Tierschutz in der Region. Und nur da.«
»Dann bleibt der Schwarze Peter derer, die Stowasser nicht mochten, aber an Ihnen kleben«, kommentierte Irmi.
»Damit kann ich leben. Ich nehme an, Sie wollen eine Mitgliederliste des FUF. Die maile ich Ihnen natürlich. Außerdem kann ich Ihnen Tina Bruckmann empfehlen, die eventuell mehr weiß.«
»Tina Bruckmann?«
»Eine rührige und fähige Lokaljournalistin. Sie hat sich mal intensiver mit Stowasser beschäftigt, soweit ich weiß. Mehr kann ich Ihnen aber auch nicht sagen. Sie ist sehr verschwiegen und redet und schreibt erst, wenn sie wasserdichte Fakten zusammen hat.« Er lachte. »Wenn Sie mir jetzt sagen, ich soll die Gegend nicht verlassen, ist das kein Problem. Ich bin ohnehin in der Nähe. Wir machen gerade ein groß angelegtes Katzenkastrationsprojekt, aber das ist eine andere Geschichte.«
Trenkle war nicht nur klug und ziemlich gut informiert in Polizeidingen, er war auch überraschend kooperativ, wenn er von sich aus anbot, eine Mitgliederliste zu mailen.
»Schön, Herr Trenkle, dann schicken Sie mal die Liste!«
»Mach ich. Jetzt haben Sie mir aber immer noch nicht gesagt, was mit Stowasser passiert ist.«
»Das hab ich auch nicht vor«, schoss Irmi den Ball zurück.
Er lachte. »Ach, vielleicht hätte ich doch dabeibleiben sollen, bei solch netten Kolleginnen wie Ihnen. Wissen Sie, ich hab mal bei der Polizei begonnen.«
Aha, daher wehte der Wind, daher sein Fachwissen. »Vom Gesetzeshüter zum Tierschützer?«, meinte Irmi mit einem gewissen Unterton in der Stimme.
»Sie wollen sagen, vom staatstragenden Beamten zu einem renitenten Störer?«
»Na, das haben Sie gesagt«, gab Irmi zurück.
»Schauen Sie, Frau Mangold, ich fand eine Polizeiausbildung anfangs gar nicht so falsch, aber dann kam Wackersdorf, und plötzlich stand ich meinen Kumpels gegenüber. Ich hätte Wasserwerfer auf die richten sollen, mit denen ich am Abend zuvor noch gekifft hatte. Ich für meinen Teil hab diese Demos unter dem Einsatzfahrzeug verbracht und zugesehen, wie windige Kollegen im Schutz der Uniform und der Staatsmacht zu fiesen Schlägern wurden. Ich hab das dann abgebrochen, so gespalten war und ist meine Persönlichkeit nicht.« Er machte eine Pause und lächelte Irmi an – mit einem Ich-bin-zwar-über-fünfzig-aber-meinen-Lausbubencharme-hab-ich-mir-bewahrt-Lachen.
Zur Schizophrenie im Polizeidienst, zum Machtmissbrauch hätte Irmi einiges beitragen können, aber das wäre eher ein Gespräch für eine Kneipe gewesen, ein Gespräch am Holztisch mit Bier und Schmalzbroten. Deshalb fragte sie recht unvermittelt: »Was sagt Ihnen Krün?«
»Die Perle des Karwendels?«
Er war nicht so leicht zu erschüttern. Irmi wartete.
»Wenn Sie auf Stowasser abheben, so weiß ich, dass er da ein Grundstück hat, und ich nehme an, dass die Daunen aus den Qualzuchthöfen da angeliefert werden. Ich war zweimal mit Tina Bruckmann vor Ort. Es gibt hohe Tore, Hecken, Mauern und viel Strom, der eifrige Kraxler abhält.«
»Sie waren also nie drin?«
»Nein, wie denn auch?«
Er schien wirklich nicht zu wissen, was für ein unsagbares Tierelend da verborgen gewesen war.
»Sie hätten sich einfach vors Tor stellen können!«, rief Kathi. »Wir sind doch nicht blöd.«
»Sie sind sicher auch nicht blöd, junge Frau. Sie sind attraktiv und klug, und deshalb denken Sie bitte nach: Ich baue mich also vor dem Tor auf. Oder ich baue mich mit mehreren meiner Mitglieder vor dem Tor auf. Was passiert dann? Stowasser fährt mitnichten jemand über den Haufen oder lässt sich provozieren. Dazu ist er viel zu clever. Wenn, dann ruft so einer die Polizei und den Landrat gleich dazu, wahrscheinlich auch den Ministerpräsidenten. Die einzige Chance, das Gelände zu betreten, wäre illegal gewesen. Ich habe auch mit dem Gedanken gespielt, einfach loszurennen. Aber er hat das geschickt gelöst. Er fährt mit quietschenden Reifen durch das erste Tor, das sich sofort wieder schließt. Dann fährt er durch das zweite. Selbst wenn es jemandem gelänge, durch das erste Tor zu kommen, wäre er anschließend zwischen den beiden Mauerringen gefangen. Das ist so ähnlich wie die Zugbrücke einer mittelalterlichen Festung, nur moderner.«
Umso ungewöhnlicher war es, dass dieses Mal das Tor offen gestanden hatte, dachte Irmi. Sie hatten im Herrenhandtäschchen den Türöffner gefunden – warum hatte Stowasser nicht wieder zugemacht?
»Sonst ist Ihnen in Krün nichts aufgefallen?«, hakte sie nach.
»Hundegebell, wenn Sie das meinen. Wachhunde, nehme ich an. Auch ich lass mich ungern von einem Pitbull, Staffordshire oder Dobermann zerfetzen.«
»Hätten Sie nicht so einen armen Kettenhund befreien wollen?« Irmi ließ noch einen Versuchsballon steigen.
»Oh, da könnte ich Ihnen ad hoc an die zehn Bauernhöfe aufzählen, wo ich ebenfalls tätig werden könnte. Wahlweise können Sie einen Hund für horrendes Geld freikaufen, und der Mann holt dann sofort einen neuen, oder Sie lassen sich vom Hof schießen.« Trenkle erhob sich. »Ich geh dann mal wieder Katzen einfangen. Die Liste kriegen Sie. Und noch eins: Schad war es um Stowasser nicht.«
Sobald er draußen war, begann Kathi auf Irmi einzureden. »Sag mal, Irmi, der hat ja wohl voll mit dir geflirtet. Und du mit ihm. Mir ist der mehr als suspekt. Und dann dieses ständige Beim-Namen-Nennen, Frau Mangold hier, Frau Mangold da. Das hat der mal bei einem Rhetorikseminar gelernt oder so. Voll nervig, oder?«
Irmi hätte jetzt viel sagen können, zog es aber vor zu schweigen. Kathi war eine komplett andere Generation als sie und wusste nichts von Wackersdorf, nichts von besetzten Häusern. Irmi hatte Anfang der Achtziger einen Typen kennengelernt, der in Freiburg in einer besetzten Bruchbude gelebt hatte, schaurig-schön war das gewesen und abenteuerlich, doch schon bald hatte Irmi bemerkt, dass sie auch in alter Jeans und Schlabber-Sweatshirt immer noch ausgesehen hatte wie das nette Mädel von nebenan. So abenteuerlich ihr der Typ anfangs erschienen war – irgendwann wusste sie, dass sein nonkonformes Leben auch nichts anderes war als ein Ritual. Zwar hing der Aufkleber »Atomkraft – nein danke« am Kühlschrank, aber das Licht brannte, auch wenn niemand zu Hause war. Klar, sie bezahlten den irgendwo angezapften Strom ja auch nicht. Als dann auch noch eine Gasleitung angezapft wurde, war Irmi aus Sicherheitserwägungen wieder ausgezogen und zurück ins Werdenfels gegangen.
Zum ersten Mal hatte sie gespürt, dass sie unpassend war: unpassend für polemische Gruppierungen jeder Art. Unpassend für Verbände und Vereine, weil deren Zielrichtung war, Profilneurotikern eine Plattform zu geben. Was am Land gar nicht so einfach gewesen war, denn eine konsequente Vermeidung von allen Trachten-, Gartenbau- oder Schützenvereinen war den Leuten dort mehr als suspekt. »Is die was Besseres?«, war immer die Frage in der Nachbarschaft gewesen. Irmi rettete da nur, dass ihr Bruder bei der Feuerwehr und in gefühlt hundert anderen Vereinen tätig war. Außerdem konnte sie jede Vereinsabstinenz auf ihre unmöglichen Arbeitszeiten schieben.
Irmi war unpassend für diese Welt, denn sie konnte mit vielen, sie war umgänglich und offen. Aber sie konnte mit den wenigsten länger und tiefer, weil die wenigsten Tiefe und Souveränität besaßen. Darum sah das Kapitel Männer eben auch so düster aus. Wen konnte sie wirklich ernst nehmen und lieben? Ihn womöglich, aber er war ja nie da. Und dann war auch nicht sicher, ob sie ihn würde lieben können, mitten in der Realität des Alltags. Sie hatten sich nie länger als eine Woche am Stück gesehen.
Irmi sah ihre Kollegin kurz an – Kathi, gerade dreißig Jahre jung, laut und fordernd und im Prinzip viel spießiger, als sie es je werden würde. Klar, Kathi war der Kindsvater abhandengekommen, bevor das Kind noch auf der Welt gewesen war, aber sie lebte mit ihrer Mutter und ihrer Tochter ein Idyll dort oben in Lähn unter der Zugspitze. Was hätte sie Kathi über Zerrissenheit sagen sollen?
Also sagte sie: »Na ja, flirten würd ich jetzt nicht sagen. Er hat dir doch ausdrücklich attestiert, dass du attraktiv bist.«
Kathi schüttelte den Kopf. »Echt, Irmi!«
»Echt was?«
»Manchmal bist du verblendet, oder. Der will was von dir. Wahrscheinlich hast du deshalb keinen Typen oder bloß deinen Teilzeitlover, weil du gar nicht merkst, wenn einer was von dir will.«
Rums, Kathi sprang mal wieder kopfüber ins Fettnäpfchen. Eigentlich hätte Irmi jetzt nicht nur was sagen können, sondern auch müssen, aber sie überging Kathis Attacke und wechselte das Thema. »Dann sollten wir in jedem Fall diese Tina Bruckmann mal kontaktieren.«
»Hm«, murmelte Kathi zustimmend. Wie immer hatte sie keinerlei Schuldbewusstsein.
Irmi rief Andrea dazu, berichtete vom Gespräch mit Trenkle und bat Andrea, die Mitbewerber von KS-Outdoors genauer unter die Lupe zu nehmen.
»Wer sagt dir denn, dass dieser Trenkle sich nicht einfach in Hirngespinste verstrickt?«, rief Kathi. »Tierschützer sind doch meistens Halbirre. Oder Profilneurotiker. Oder sie kompensieren ihre eigenen Unzulänglichkeiten mit Tierschutz. Die tun das doch nicht für die Viecher, sondern für sich selber!«
Irmi hielt die Luft an. Ein Teil in ihr gab Kathi recht. Diese Prominententierschützer mit hoher Medienpräsenz waren auch ihr suspekt. Aber Kathi würde wahrscheinlich nie lernen, etwas diplomatischer zu formulieren.
Andrea starrte Kathi an. »Aber du hast diese armen Tiere doch auch gesehen, du hast gesehen, was die Tierschutzleute geleistet haben!«
»Von diesen FUFs war da aber niemand dabei!«, insistierte Kathi.
Andrea war aufgesprungen. »Und ich hab gedacht, du hättest dich geändert, du hättest mal was kapiert. Dass du nicht immer auf allen rumtrampeln kannst. Aber du hast gar nichts kapiert!« Schluchzend stürzte Andrea hinaus.
Kathi sah ihr nach. »So eine Mimose.«
Diesmal sagte Irmi sehr kühl: »Du bist so verletzend in deiner taktlosen Selbstherrlichkeit, dass es dir kaum zusteht, über die Motive anderer zu urteilen. Wir werden überprüfen, was Trenkle gesagt hat. Ob da was dran ist an den vielen Feinden des Gutmenschen Stowasser. Genau deshalb sind wir bei der Kripo. Wir schauen von außen auf die Menschen.«
Schöner Satz und schon wieder gelogen: Niemand von ihnen blickte von außen auf die Dinge, weil sie alle nur Menschen waren.
Immerhin: Kathi schwieg ausnahmsweise.