6
Der Experte stand schon da, als Irmi vorfuhr. Es war kühl, aber klar. Die Wolken des Vortags hatten sich verzogen. Die Sonne hatte noch gegen die Berghänge verloren, das Anwesen lag im Schatten. Am Gegenhang aber malte sie bereits Flecken in die Wiese, vielleicht würde ihnen der Restsommer und der Herbst ja noch schöne Tage gönnen und dann übergangslos der Schneezeit weichen. Schnee war besser als Schmuddelwetter. Heller und reiner.
Der Schlangenmann trug eine seltsame Schutzhaube und einen Haken bei sich. Irmi hatte sich das eingeprägt: Mambas kamen von oben. Sie fühlte sich unwohl.
Nachdem sie am Tor das Dienstsiegel gelöst hatte, gingen sie zum Gebäude, in dem der tote Stowasser aufgefunden worden war. Irmi verscheuchte die Bilder, die in ihr aufstiegen, so gut sie konnte. Die Mamba blieb. Sie würde nicht herabfahren aus dem Himmelsgewölbe, dennoch hatte Irmi das Gefühl, als müsse sie die Schultern einziehen und den Kopf in den Nacken legen. Aber ob es besser war, sehenden Auges der Gefahr zu begegnen?
»Ich geh mal rein«, sagte er. »Ich schau mich um.«
Es kam Irmi wie eine Ewigkeit vor, bis er wieder herauskam. In den Händen hielt er ein Fläschchen.
»Afrikaserum, ein Serum gegen Mambabisse«, erklärte er. »Das Präparat ist längst abgelaufen, inzwischen dürfen diese Seren nur noch in ausgewählten Kliniken vorrätig sein. Sie werden kaum mehr hergestellt.«
Irmi sah ihn fragend an.
»Wissen Sie, Frau Mangold, wir Europäer haben alle keine Kolonien mehr. Da stellen wir auch kein Serum mehr her. Sie bekommen es gerade noch aus den Niederlanden, fragen Sie mich aber nicht, ob die mit einer Neuauflage ihrer Kolonialgeschichte rechnen.« Er lachte wieder, der Mann hatte wirklich ein sonniges Gemüt. Oder er war ein Meister des Galgenhumors.
»Und was hilft uns das nun?«
»Also, ich gehe von der Existenz einer Mamba aus. Sonst hätte er dieses Serum nicht gebraucht. Wann die Schlange allerdings hier gelebt hat, kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich bin ja erst am Anfang.« Er zog wieder ab, und Irmi wartete.
Sie hasste Warten. Sie hasste Untätigkeit. Sie ruhte sich nie aus. Sie machte nie Urlaub, zumindest keine Urlaube im klassischen Sinne mit Flugreise und Strand. Mit Handtuchkrieg am Pool und den fett aufgehäuften Tellern, weil man am Büfett ja zuschlagen musste, wenn alles inklusive war. Sie waren immer Landwirte gewesen, da machte man nicht Urlaub.
»Ausruhen kann ich, wenn ich tot bin«, hatte ihre Mutter immer gesagt und spitzbübisch gelacht. Ihre Mutter war immer unterwegs gewesen, geistig und körperlich, und hatte immer Pläne gehabt. Kleine Pläne, kleine Schritte, nichts Hochfliegendes, aber doch eben Pläne. »Sei amoi z’frieden«, hatte ihr Vater sie gerügt, doch da hatte ihre Mutter einen weiteren Satz parat gehabt: »Zufriedenheit ist der erste Schritt in die Lethargie.« Ihr Vater hatte sich dann an den Kopf gefasst und war weggeschlurft.
Irmi atmete tief durch. Es war schwer, ohne solche Sätze zu leben. Es gab sie als Kalendersprüchlein oder auf Postkarten, aber sie ersetzten niemals die Art, wie ihre Mutter sie gesagt hatte.
Ihr Grübeln wurde von zwei Polizeifahrzeugen unterbrochen, die gerade vorfuhren. Kathi hatte einen kühlen Blick aufgesetzt, der Hase seine Arbeit-ist-schlimmer-als-Zahnweh-Attitüde. Kathi berichtete, dass sie persönlich eine DNA-Probe genommen und Frau Rosenthal eingewilligt hätte. Richtig aufgeräumt sei sie gewesen. »Also, ich sag mal stockbesoffen«, endete Kathi.
Irmi erläuterte dem Kollegen Hase, dass er die ehemaligen Reptilienräume auf die Anwesenheit weiterer Personen hin untersuchen sollte, doch noch ehe er ein leidendes Ja von sich geben konnte, kam der Experte schon wieder zurück. In einer Plastikwanne trug er etwas vor sich her. War das etwa die Mamba?, durchfuhr es Irmi. Nein, es war eine Haut.
»Mambas häuten sich alle vier bis sechs Wochen«, sagte der Schlangenmann leise.
Es war still. Alle blickten auf diese seltsame Haut.
»Das heißt, diese Schlange ist noch da?«, fragte Kathi nach einer endlosen Weile.
»Als sie sich gehäutet hat, war sie auf jeden Fall da, nur wo sie nun ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Wir suchen eine wendige, pfeilschnelle Schlange, keinen Elefanten. Ich habe neben dem Kühlschrank mit den Seren übrigens eine Klappe entdeckt, die in einen Keller führt. Anscheinend verzweigt der sich in eine Art Tunnelsystem. Keine Ahnung, was das hier mal war. Die Haut lag jedenfalls im ersten Keller.«
»Also ist die Schlange in diesen Kellerkatakomben, oder?« Irmi war froh, dass Kathi das Fragen übernahm. Ihre Gedanken liefen schon wieder Amok, und ihr inneres Kino spielte wirre, düstere Filme ab mit viel zu schnellen Bildschnitten.
»Zumindest ist sie definitiv nicht in den oberen drei Räumen. Aber da unten? Keine Ahnung, zumal ich nicht weiß, wie weit diese Gänge gehen. Es ist relativ warm da unten, sie würde dort überleben können.«
»Ich geh da nicht rein!«, kam es vom Hasen.
»Davon würde ich auch abraten«, erwiderte der Schlangenmann. »Ich sehe mich weiter um, ich mach Ihnen aber wenig Hoffnung …«
Er verschwand wieder im Gebäude.
»Hasibärchen, bitte die drei oberen Räume durchfieseln«, sagte Irmi. »Fingerabdrücke, Hautreste, Kokainreste würden mich interessieren. Na, du weißt schon.«
Hasi schenkte ihr einen angewiderten Blick, einen sehr angewiderten Blick, und ging ebenfalls.
Weil Kathi ihm nachstarrte und ausnahmsweise mal schwieg, erzählte Irmi ihr von den diversen Möglichkeiten, wie das Gift in den Körper von Stowasser hätte gelangen können. Sie merkte, dass sie fast flüsterte. Warum nur? Weil die Schlange sie hätte hören können?
»Aber wenn es doch eine Schlange gibt, ist es doch auch mehr als wahrscheinlich, dass diese Schlange Stowasser gebissen hat«, meinte Kathi. »Ein Mamba-Unfall, das gerechte Ende eines Tierquälers, oder?«
Irmi starrte auf den Eingang des Gebäudes, in dem der Schlangenmann und der Hase verschwunden waren. So als käme von dort Rettung oder gar Erleuchtung.
»Man kann eine Mamba ja wohl nicht als Waffe einsetzen, oder?«, fuhr Kathi fort. »Dann wäre man ja selbst in höchster Gefahr! Das würde sich nicht mal der Schlangenflüsterer da drin trauen. Du hast gesagt, man könnte sie melken. Na gut, aber auch da muss sich jemand auskennen. Ich sag dir, das Vieh hat einfach zugebissen. Ich kann der Schlange wirklich nur gratulieren.« Kathi lachte ein wenig gekünstelt. »Das war ein Unfall, sag ich dir. Du weißt doch: Die schlimmsten Verbrechen geschehen aus Liebe und verletzten Gefühlen. So was haben wir hier aber nicht.«
»Was wir aber immer noch haben, sind ein ungeklärter Todesfall, ein Kokser, illegal eingeschleuste Tiere und dieser ganze Daunenbetrug … Wenn’s denn einer ist«, schickte Irmi noch hinterher.
»Diesen ganzen Scheiß soll sich doch reinziehen, wer will«, murmelte Kathi. »Zoll, Drogen, Tierschutz, Wirtschaftskriminalität – irgendwelche Kollegen werden diesem Vollpfosten Stowasser schon was nachweisen können.«
Irmi zog es vor zu schweigen.
Als der Schlangenmann plötzlich hinter ihr stand, erschrak sie. Er wirkte enttäuscht und müde. »Nichts. Ich habe keine Ahnung, ob und wie das Tier entfleucht ist. Die Mamba ist vom Erdboden verschluckt. Was Sie aber interessieren könnte: Das Gebäude hat einen zweiten Ausgang. Ich bin gut fünfhundert Meter Kellergang marschiert und bin dann über eine Treppe da drüben rausgekommen.« Er wies auf einen Stadl. »Dort gibt es eine Klapptür im Boden, die konnte man leicht hochdrücken. Ich glaube fast, dass Stowasser oder wer auch sonst diesen Weg genommen hat. Ihre Leute haben doch auch gesagt, sie hätten die Tür erst aufbrechen müssen.«
Das stimmte, Stowasser war wohl über eine Art Geheimgang in sein Reptilienrefugium gelangt.
»Sind da unten noch mehr Räume?«
»Ja, einige verschlossene Stahltüren, ich kann natürlich nicht ausschließen, dass die Schlange da noch drin ist. Irgendwo. Man weiß ja nicht, wann diese Türen verschlossen wurden.«
»Und was tun wir jetzt?« Irmi klang verzweifelter, als sie es beabsichtigt hatte.
»Das kann ich nicht entscheiden. Die Nachbarn informieren. Ganz Krün informieren. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie weit die Schlange gekommen ist. Wenn sie denn noch da ist.«
»Sie sind doch der Experte!«, maulte Kathi.
»Ja, aber ich kann nur von Wahrscheinlichkeiten ausgehen. Bei der momentan vorherrschenden Kühle würde ich sagen, die Schlange ist noch nicht bis Garmisch oder Scharnitz vorgerückt. Auch nicht übers Estergebirge gepilgert. Aber just dieses spezielle Tierchen kenne ich nicht persönlich, und es hat mir seine Absichten nicht durch Schwanzschlagen oder Züngeln mitgeteilt.«
Immerhin hatte er Kathi mundtot gemacht. Sie schwieg und funkelte ihn böse an.
»Ihr Gefühl?«, fragte Irmi leise.
»Ich weiß es wirklich nicht. Sie könnte hier noch irgendwo im Keller oder auf dem Grundstück sein. Die Frage ist auch, wann sie zuletzt gefressen hat. Mambas jagen aus der Bewegung etwas Bewegtes und werden dabei bis zu fünfundzwanzig Stundenkilometer schnell.«
»Können Sie morgen weitersuchen?«, fragte Irmi. »Ich kann die Räume momentan auch nicht aufbrechen lassen, das Risiko ist mir zu hoch. Das geht nur in Ihrem Beisein!«
»Ja, das erachte ich für vernünftig. Ich bringe morgen einen Kollegen mit.«
»Dann halten wir das so lange unterm Deckel, damit keine Panik ausbricht oder selbsternannte Mambajäger auf den Plan treten«, sagte Irmi und versuchte, die souveräne Chefin zu geben.
»Das nimmst du aber auf deine Kappe!«, rief Kathi.
»Ja, das tue ich, und du, liebe Kathi entschwindest in dein verlängertes Wochenende und fährst wie versprochen mit dem Soferl nach Reutte zur Zeitreise Ehrenberg.«
Irmi war mal mit ihm in Ehrenberg gewesen, wo ein paar Tage lang das Mittelalter wieder auferstand. Es gab genug neuzeitliche Menschen, die es liebten, in eine Zeit abzutauchen, in der verrottete Zähne ebenso an der Tagesordnung gewesen waren wie Syphilis und die Leibeigenschaft. Die heutigen Mittelalterfreaks lebten sich natürlich in die Rolle der Reichen ein, und da gab es genug Vorbilder, was Verschwendung und Dekadenz betraf. Sigmund der Münzreiche war der erste der Tiroler Herrscher gewesen, der am Heiterwanger See pompöse Hofjagden und Fischerfeste veranstaltete. Erzherzog Ferdinand II. hatte Mitte des 16. Jahrhunderts exaltierte Seefeste gefeiert und riesige Schiffe nach venezianischem Vorbild bauen lassen. Die Reichen hatten in Saus und Braus im Fürstenhaus gelebt, während die einfachen Bauern dem Treiben mit Entsetzen zugesehen hatten, vor allem wegen des achtlosen Umgangs mit den Fisch- und Wildressourcen.
Irmi bezweifelte allerdings, dass sich die heutige Mittelaltergemeinde mit ihren reich gefüllten Trinkhörnern ernsthaft für die Geschichte interessierte. Das Soferl hatte immerhin größten Wert darauf gelegt, dass das Mittelaltergewand, das die Oma ihr genäht hatte, »keine doofe Prinzessin wird, sondern eine Gänsemagd«. Sophia wollte wegen der »Autizitat« – der Himmel wusste, wo sie dieses leicht verstümmelte Wort her hatte – barfuß gehen, was Kathi ihr sicher verbieten würde. Irmi hätte dem Kampf der beiden gerne zugesehen und wirklich nicht gewusst, auf wen sie hätte setzen sollen.
Kathi beäugte Irmi skeptisch, sagte aber nichts weiter und zog schließlich ab.
Irmi hatte keine Ahnung, wie sie jetzt am besten vorgehen sollten. Sie waren in der prekären Situation, dass sie nicht wussten, wie das Mambagift in den Körper von Kilian Stowasser gelangt war. Nachdem der Kollege Hase seine Untersuchungen abgeschlossen und losgefahren war, versiegelte sie das Gebäude. Dabei hatte sie ständig das Gefühl, den Kopf einziehen zu müssen, weil diese Mamba auf sie herabfahren könnte. Sie rief sich zur Räson und startete ihr Auto.
Es war auf einmal richtig warm geworden, die Sonne schickte stechende Lanzenstrahlen zur Erde, die Luftfeuchtigkeit war tropisch – kein Wunder nach den Wassermassen, die aus den himmlischen Schleusen geprasselt waren. Bernhard hatte längst mähen wollen, er saß auf glühenden Kohlen. Das Heu hatte schon viel zu lange gestanden, aber die feuchten Wiesen waren immer noch zu nass, um hineinzufahren – vor allem bei ihnen in Schwaigen, wo es eh schon moorig war. Dabei sehnte sie sich danach, zu kreiseln. Sie nahm dazu immer den alten Eicher Königstiger. Effizient war der fast schon antike Traktor nicht, aber für Irmi war die Arbeit mit ihm meditativ und entspannend. Das monotone Geräusch, der Geruch des trocknenden Grases – herrlich. Aber der Wetterbericht versprach nur weitere Gewitter.
Irmi quälte sich in einer Kolonne von Urlaubern durch Klais und Kaltenbrunn. Der Verkehr in Höhe des Klinikums lief dann so zäh, dass sie stattdessen kurz darauf eine Abkürzung durch Partenkirchen probierte. Eine schlechte Idee, wie sich herausstellte, denn ein Umzugs-Lkw blockierte die Straße. Ein junger Mann versuchte verzweifelt, den 7,5-Tonner rückwärts zu manövrieren, während die junge Frau, die ihn einweisen sollte, schimpfte und tobte.
Umzüge waren emotionale Ausnahmezustände. Wenn die Ehe den Umzug überstand, hatte sie Chancen, dachte Irmi. Menschen waren wie Zugvögel. Kaum hatten sie ihre Kisten im Keller ausgepackt, zogen sie wieder los. Zu neuen Ufern, neuen Männern, neuen Leben. Doch sie selber blieben dieselben, nahmen all ihre Unzulänglichkeiten und Hoffnungen mit.
Irmi selbst war von exzessivem Umziehen zum Glück verschont geblieben. Wozu hätte sie wegziehen sollen, wenn daheim die frühmorgendlichen Nebelschwaden aus den Feldern traten, wenn die Kater ihre erste Show im taufeuchten Gras abzogen, sich überkugelten, drohten und auf Tiger machten, wo sie doch maximal Bauernstubentiger waren. Wohin hätte sie umziehen sollen, wenn abends eine große Stille aus den Wäldern langsam bis zum Haus wanderte und es sanft einhüllte. Und was wäre besser als ihr brummiger Bruder und Lissi, ihre Nachbarin, die so viel Sonnenschein in ihrem Herzen trug?
Umziehen wegen jenes Nachbarn, der mit Gewalt und Gewehr drohte, wenn Bernhard Reifenspuren in dessen Feldrand machte, bloß weil er einem noch größeren Ladewagen eben jenes Bauern ausweichen musste? Wegen der Grantlhuberin zwei Höfe weiter, die nie grüßte und Irmi für eine höchst gefährliche Kreatur hielt, weil sie arbeitete und keine Hausfrau war? Wegen der Kampftrachtler-Familie Mair, die seit fünfhundert Jahren mit den Mangolds zerstritten war, wobei niemand den eigentlichen Grund für den Zwist kannte? Nein, umziehen war sinnlos. Es gab nirgendwo bessere Menschen, höchstens andere.
Sie hatte lediglich den kurzen Abstecher in die WG gewagt und war später mit ihrem Exmann Martin zusammen nach Garmisch gegangen. Eine schöne Wohnung war das gewesen, aber eben eine Wohnung, und zwar unterm Dach. Wahrscheinlich war sie ein wenig seltsam, aber eine Wohnstatt, von der aus man nicht ebenerdig hinauskonnte, verursachte Irmi Unwohlsein. Der Umzug war Stress pur gewesen, weil Martin bei jedem Bohrloch für Lampen und Bilder ausgeflippt war, weil mal ein Brocken Wand mitkam, mal der Bohrer brach. Man hätte lachen können und auf den Parkettboden sinken und sich dort womöglich lieben … So was gab es aber nur in amerikanischen Liebesfilmen. In der Realität zofften sich Paare bis hin zu Handgreiflichkeiten, dabei waren sie doch eigentlich nur bestrebt, sich eine schöne neue Heimat zu schaffen.
Draußen auf der Straße war die junge Frau inzwischen losgerannt. »Mach deinen Scheiß alleine, wenn ich dich falsch einweise!«, schrie sie. »Verreck doch in deinem Lkw und deinem blöden neuen Haus. Ich wollte das eh nie.« Nein, Umzüge förderten in den allerwenigsten Fällen die positive Paarbildung. »Umzugskommunikation bei Paaren« – das wäre ein toller Kurs für die Volkshochschule. Wie erkläre ich etwas so, dass meine Frau mich versteht? Wie dirigiere ich das sperrige Möbelstück so, dass zwei Träger in dieselbe Richtung streben?
Martin hatte ihr in der Umzugsphase eine Ohrfeige gegeben. Am besten wäre sie damals schon gerannt! Mit ihren noch unausgepackten Koffern hätte sie nach Hause zurückkehren sollen. Das hatte sie dann fünf Jahre später getan, und das war kein Rennen gewesen, sondern eher ein Schleichen. Martin hatte sich mit ein paar wenigen Gegenständen aus dem Staub gemacht. Es war dann an Irmi gewesen, die komplette Wohnung zu räumen. Dieses Verpacken von Erinnerungen war grausam. Man betrachtete die Scherben seines Lebens und steckte sie in Kisten. Warf den Deckel zu. Sie hatte sich nicht getraut, das Album mit den Hochzeitsfotos zu öffnen. Sie hatte über ihren Kinderbüchern geheult, dabei waren die Fünf Freunde, Hanni und Nanni oder Burg Schreckenstein doch gar nicht zum Heulen. Sie hatte mit Wehmut ihre alten Platten betrachtet. Sie hatte eine LP von Greg Lake aufgelegt. Lauter Lieblingsstücke, die vor Melancholie nur so trieften. »You think you’re the devil, but with those angel eyes you’re just a slave to love tonight.«
Noch immer sah Irmi der jungen Frau hinterher, die längst hinter einer Hausecke verschwunden war. Sie erfasste auch, warum der junge Mann nicht hatte weiterfahren können. Die Straße war gesperrt, weil es dort ein Straßenfest gab. In zweiter Linie schien es ein Fest der Olympiagegner zu sein, die Transparente mit Aufschriften wie »Danke, IOC! Danke, Pyeongchang!« oder »Hurra, Samsung, wir lieben die Macht des Geldes!« zwischen die Häuser gehängt hatten.
Irmi nahm an, dass diese kleine Festivität genehmigt war.
Gerade als sie mit ihrem Auto umdrehen wollte, entdeckte sie die Journalistin Tina Bruckmann. Die beiden kannten sich vom Sehen. Irmi las ihre Artikel sehr gern, weil sie differenziert und klug geschrieben waren. Sie stellte ihr Auto ab und schlenderte zu ihr hinüber. Die Journalistin machte sich gerade ein paar Notizen und sah dann hoch. Sie lächelte.
»Erwarten Sie hier etwa einen Mord, Frau Mangold?«
Irmi lachte. »Der Kas is erst mal bissn, würd ich sagen. Wer wollte da noch morden? Höchstens könnte sich ein Olympia-Befürworter so veräppelt fühlen über diese Veranstaltung hier, dass er ausrastet. Wie wäre das?«
»Eine Art Bauernopfer, meinen Sie? Ein Ventil für den ganzen Frust, abgelehnt worden zu sein? Um die Schmach zu verarbeiten, dass putzige Dirndl, die Hausmacht Neureuther und eine Ossi-Eisprinzessin einfach zu wenig waren?«
»Klar, es wurde schon wegen weniger gemordet. Verletzte Gefühle sind oft hochexplosiv. Wer wird schon gerne vorgeführt?«
»Gut, der Punkt geht an Sie, Frau Mangold. Was denken Sie denn?«
»Ich denke, es geht um das Erschließen neuer Wintersportmärkte. Die Topsponsoren heißen Samsung und Hyundai. Deutschland ist doch kein Markt mehr, hier hat doch jeder ein Paar Ski oder ein Snowboard im Schrank stehen. Außer mir.« Irmi lachte. »Ich bin keine Wirtschaftsfachfrau, aber in einem Wachstumsmarkt wie Asien gibt es doch Milliarden zu verdienen. Und dann glaub ich auch, dass Deutschland international als recht problematisch wahrgenommen wird: Wir wollen den Atomausstieg, wir haben ein nicht mehr finanzierbares Sozialsystem. Draußen glauben die sicher, dass Deutschland so ein Projekt gar nicht stemmen kann.«
»Das ist wirklich ein guter Aspekt!«, meinte Tina Bruckmann anerkennend.
»Na ja, das sagt mir halt mein Menschenverstand.« Irmi verzog den Mund.
»Ihnen vielleicht. In Südkorea sind die Aktien für Bauunternehmen und Betreiber von Kasinos und Ferienanlagen gleich mal in die Höhe geschossen. Wir reden hier von der viertgrößten Volkswirtschaft Asiens.«
»Frau Bruckmann, es trifft sich im Übrigen gut, dass wir uns hier zufällig über den Weg laufen. Könnte ich Sie irgendwo auf einen Kaffee einladen? Ins Rathauscafé?«
»Sicher, ich habe ungefähr eine Dreiviertelstunde Zeit.«
»Prima, bis gleich! Treffen wir uns dort.«
Als im Rathauscafé der Cappuccino mit einem Schokopuder-Herz im Milchschaum serviert wurde, schüttelte Irmi den Kopf. »Stellen Sie sich vor, da kommt jemand vom Scheidungstermin im Amtsgericht nebenan und trinkt mit dem Ex oder dem Anwalt so einen Herzerl-Kaffee!«
Tina Bruckmann lachte. »Na, meistens wird man ja wohl eher mit dem Anwalt einen heben wollen. Jetzt bin ich aber neugierig. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«
»Kennen Sie Max Trenkle?«
»Den FUF-Vorsitzenden? Ein bisschen, ich habe beruflich mehrfach mit ihm zu tun gehabt.«
Irmi nickte. »Und was halten Sie von ihm?«
Tina Bruckmann dachte kurz nach, ehe sie schließlich sagte: »Ich nehme ihm sein Anliegen ab. Er ist keiner von diesen VIP-Tierschützern, denen es doch längst nicht nur oder gar nicht um die Sache geht. Allerdings beneide ich ihn wirklich nicht darum, dass er ständig von einem Haufen Weiber umgeben ist. Allein unter Frauen! Und zwar nicht irgendwelchen, sondern Tierschützerinnen mit massivem Sendungsbewusstsein.« Sie lachte.
Irmi musterte die Journalistin unauffällig. Sie fand diese Frau sehr apart. Nicht im landläufigen Sinn schön, aber sie faszinierte sicher viele Menschen.
»Meine Kollegin war der Meinung, er würde schnell mal flirten. Ist er manipulativ?«
»Nun ja, ich würde ihm einen gewissen Charme attestieren. Ich glaube, er bewegt sich auf dünnem Eis sehr gut. Und dann hat ein Mann, der Tiere mag, bei Frauen ja eh sofort Bonuspunkte.« Tina Bruckmann zögerte kurz und fragte dann: »Darf ich wissen, warum Sie sich für ihn interessieren?«
»Max Trenkle war der Meinung, dass Sie eine ganze Menge über Kilian Stowasser wüssten. Sie sagten vorhin, Sie hätten mit Trenkle beruflich zu tun gehabt. Dann haben Sie wohl auch Stowasser gekannt, oder?«
Tina Bruckmann rührte in ihrem Cappuccino, vom Herz war keine Spur mehr zu sehen. »Es geht also um Stowasser?«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich nehme an, Sie wissen den Grund«, sagte Irmi.
»Stowasser ist tot?«
»Ja.«
»Ermordet?«
»Das wissen wir nicht. Ich gebe morgen eine Pressekonferenz. Die Todesursache ist bislang ungeklärt. Ich würde Sie auch dringend bitten, heute nichts mehr zu schreiben.«
Dankenswerterweise hatte bisher nur eine kurze Meldung in der Zeitung gestanden, sie und ihre Kollegen hatten die Journalisten noch abwehren können. Und es schien so, als wären KS-Outdoors auch nicht sonderlich auskunftsfreudig gewesen.
»Ich komme gerade aus dem Urlaub«, sagte Tina Bruckmann. »Ich war noch gar nicht in der Redaktion, sondern bin direkt zu diesem Termin gefahren. Eigentlich wollte ich erst am Sonntag wieder anfangen, aber bei den freien Mitarbeitern ist Land unter, deshalb bin ich früher zurückgekommen. Und Stowasser ist wirklich tot?«
»Ja, wir haben ihn in Krün gefunden. Sagt Ihnen das etwas?«
»Ja, natürlich.« Eine Weile schwieg Tina Bruckmann, dann fragte sie: »Was wissen Sie denn bisher über Stowasser?«
»Dass er in Misskredit geraten ist mit seinen reinen Daunen, die offenbar gar nicht so rein sind. Dass er sich da sehr geschickt aus der Affäre gezogen und dabei sein kriminelles Tun sogar als Marketinginstrument eingesetzt hat.«
»Das haben Sie schön zusammengefasst, Frau Mangold.«
Eigentlich war ihr Tina Bruckmann sehr sympathisch, aber seit der Erwähnung von Stowassers Namen war die Journalistin wortkarg geworden, sie wirkte auf einmal fahrig und weniger kooperativ.
»Danke, dass Sie meine Qualitäten die deutsche Sprache betreffend schätzen, aber ich würde nun doch gerne wissen, was Sie in Bezug auf Stowasser so umtreibt. Max Trenkle war der Meinung, Sie hätten so einiges recherchiert. Und dass sie ziemlich verschwiegen seien.«
Nun huschte ein Lächeln über Tina Bruckmanns attraktives Gesicht. »In dem Punkt hat er zumindest recht.«
»Sie waren mit Max Trenkle mal in Krün?«
»Also gut, ich habe viel und lange recherchiert und bin dabei Kilian Stowasser mehrmals nach Krün gefolgt. Das Tor des Anwesens ging auf wie durch Zauberhand und war auch gleich wieder zu. Ich konnte gerade noch den Blick auf ein zweites Tor erhaschen, das sich ebenso schnell wieder schloss. Stowasser kam meistens erst nach mehreren Stunden wieder raus. Außerdem habe ich beobachtet, dass alle zwei Wochen tschechische Lkw gekommen sind, immer im Schutze der frühen Morgenstunden. Einmal habe ich Max Trenkle gebeten mitzukommen, als Zeuge oder so. Auch er war der Meinung, dass man nicht durch die beiden Tore kommt. Da hätten wir Stowasser schon niederschlagen müssen. Ich habe ein paar verschwommene Fotos, das ist alles.«
Irmi überlegte. »Hätten Sie die Lkw-Fahrer nicht anhalten können?«
»Das hat Max Trenkle mal versucht. Hat sich sogar am Führerhaus festgeklammert. Der Fahrer ist einfach weitergefahren und hat ihn an der Hecke wie ein lästiges Insekt abgestreift.«
»Sie hätten doch dem Lkw folgen können.«
»Hab ich auch gemacht. Bis zum Rastplatz Holledau. Als der Fahrer zum Kaffeetrinken gegangen ist, hab ich unter die Plane gesehen. Schmutzleer das Ganze. Was hätte ich tun sollen?«
»Haben Sie die Nummer notiert?«
»Ja, natürlich. Aber ich kann keine Nummern überprüfen. Es war ein tschechischer Lkw älterer Bauart ohne jeden Aufdruck. Frau Mangold, ich hätte stichhaltige Beweise gebraucht!«
»Dafür, dass er Daunen aus tschechischen Qualzuchten verarbeitete?«
»Genau, ich bin mir nämlich sicher, dass er sich die Daunen nach Krün liefern lässt, der lässt die doch nicht in die Firma kommen!«
»Aber irgendwie musste er sie dann doch in die normale Produktion einschleusen, oder?«
»Tat er auch. Es fuhr auch immer mal wieder ein Firmentransporter nach Krün. Verdunkelte Scheiben, es war nicht mal zu erkennen, wer der Fahrer war. Wahrscheinlich Stowasser selbst«, mutmaßte Tina Bruckmann. »Letztlich bin ich nicht weitergekommen.«
»Und was ist mit Max Trenkle und dem Verein FUF?«
»Die haben auch was anderes zu tun. Momentan führen sie ein groß angelegtes Katzenkastrationsprojekt durch. Wir sind halt alle an Stowassers Mauern gescheitert. Aber das Leben geht weiter. Wer hat das mal gesagt? Das ganze Leben ist ein ewiges Wiederanfangen. Ich glaube, das war Hugo von Hofmannsthal.«
»Um nochmals auf diesen ganzen Unterschleif zurückzukommen: Das schafft doch nie einer alleine, oder? Da muss doch in der Produktion jemand Bescheid wissen?«
»Ja, das war auch mein Gedanke. Der Produktionsleiter vielleicht? Sie können leichter überprüfen, ob der zum Beispiel zusätzliches Geld erhält. Und ich könnte mir vorstellen, dass diese Rosenthal Bescheid weiß. Frau Mangold, ich spekuliere, ich kann einfach nichts beweisen.« Das klang nun doch frustriert.
»Sind Sie denn wie Trenkle überzeugt, dass er immer noch betrog?«
»Ja, natürlich. Seine eigenen Daunen reichten für seinen Ausstoß niemals, er gab ja auch zu, dass er zukaufte, aber eben nur saubere Ware. Angeblich kann man auf seiner Website über die Seriennummer den genauen Produktionsverlauf nachvollziehen und sogar den Testbericht des Testlabors lesen. Seine Schlafsäcke sind natürlich nicht billig, aber sie sind zu preiswert dafür, dass er angeblich so einen Aufwand treibt.«
»Hat ihn darauf denn noch keiner angesprochen?«
»Doch natürlich. Ich übrigens auch. In einem Interview, das ich mit ihm gemacht habe, hat er seinen Preis damit begründet, dass er eben günstig einkauft. Warten Sie mal.«
Tina Bruckmann nestelte in ihrem Rucksack und holte ein Smartphone heraus. Sie fingerte ein wenig daran herum, lud dann einen Artikel hoch und hielt Irmi das Gerät hin.
Die begann gleich zu lesen. Tatsächlich hatte Stowasser auf jede Frage aalglatte Antworten.
»Sie werden mir nicht glauben, dass Enten in China viel glücklicher sind als ungarische Gänse. Ich weiß schon, beim Stichwort China drängen sofort Bilder heran von schlecht gehaltenen Tieren, dabei geht es dem Geflügel in Europa tatsächlich oft viel schlechter. In China werden Tiere meist in kleinen Familienunternehmen gehalten, aufgrund von Geldmangel werden hier keine Tier-KZs gebaut, sondern die Tiere einfach auf dem eigenen Grund und Boden laufen gelassen. Unsere Daune mit 675 CUIN – das ist der Wert für die Bauschkraft, in Kubikzoll gemessen – stammt aus Nordchina, und zwar von freilaufenden Enten, die in erster Linie der Eierproduktion dienen. Da diese Enten in einer kälteren Klimazone leben, produzieren sie Daunen mit phantastischen Eigenschaften. Wenn die Enten nach zwei Jahren keine Eier mehr legen, werden sie geschlachtet und anschließend erst gerupft. Die Daune wird an anderer Stelle gereinigt und sortiert. Auch hier erfolgt die Reinigung auf Wasserbasis ohne den Zusatz von Lösungsmitteln. Wir kaufen diese Daunen sehr günstig ein und geben den Preis an unsere Kunden weiter.«
Irmi unterbrach ihre Lektüre. »Klingt alles sehr griffig«, kommentierte sie.
»Ja, klar, aber Stowasser produziert auch Schlafsäcke mit 750 CUIN Daunen. Das sind die für die extremen Temperaturen, echte Expeditionsschlafsäcke. Und diese Daunen stammen aus Osteuropa und werden in Taiwan gereinigt. Und da stimmt irgendwas nicht. Solche Schlafsäcke müssten mindestens sechshundert Euro kosten, seine kosten dreihundertfünfzig oder noch weniger.«
Irmi las weiter.
»KS-Outdoors verwendet nur Daunen höchster Qualität, sie stammen alle von Tieren aus der Nahrungsgewinnung, die ethisch korrekt getötet worden sind. Lebendrupf oder Harvesting sind absolut ausgeschlossen. Die Tiere werden nicht zwangsgemästet, sondern leben artgerecht mit Freilauf, haben einen Unterschlupf und Zugang zu Wasser und frischer Nahrung. Die Menge der Tiere pro Quadratmeter liegt unter der empfohlenen Anzahl. Jede einzelne Daunencharge wird von internationalen Labors getestet.«
»Bis auf die, die er illegal druntermengt, wenn ich Ihrem Gedankengang folgen darf«, sagte Irmi. »Aber ist das nicht riskant, was er da treibt?«
»Ach, seien wir doch mal realistisch.« Tina Bruckmann klang müde, und Irmi war fast versucht, sich zu entschuldigen, dass sie die Urlaubslaune der Journalistin so rüde zerstört hatte. »Wen interessiert denn wirklich das Innenleben des eigenen Schlafsacks? Wenn da so ein herrliches Büchlein mit großartigen Fotos von glücklich grasendem Federvieh beiliegt, wer forscht denn da noch nach? Mensch, wir leben in einer Welt, wo wir für neunundsechzig Cent zweihundert Gramm eingeschweißten Schinken im Supermarkt kaufen, wer wollte denn da im Schlafsack wühlen? Der deutsche Verbraucher ist doch insgesamt total desinteressiert. Mal kommt ein Skandal, schwappt kurz hoch, keiner frisst mehr Salat wegen EHEC – und zwei Wochen später ist alles vergessen.«
Sie hatte sich in Rage geredet.
»Und einer wie Stowasser profitierte davon?«
»Na sicher.«
»Sie mochten ihn nicht, oder?«
»Sie werden das sicher schon von anderer Seite gehört haben oder noch hören: Stowasser hatte die Connections, mich überall unmöglich zu machen. Er hat … äh … hatte einen sehr guten Draht zu meinem Chef. Ich wurde zeitweise richtiggehend degradiert, durfte nur noch über weichgespülte Themen schreiben: Kindergartenfest, die besten Abiturienten vom Irmengard-Gymnasium – so was eben. Über den Geflügelzuchtverein schon nicht mehr, da hätte ich ja einen Schlenker zu Stowasser machen können.«
Sie lachte bitter. Ja, diese Frau war wirklich frustriert. Irmi gab ihr das Smartphone zurück, ihre Blicke trafen sich.
»Bin ich nun auch verdächtig? Brauche ich ein Alibi?«, wollte Tina Bruckmann wissen.
»Wo waren Sie denn am Dienstag?«
»Im Urlaub, allerdings nur am Ledrosee, ich hätte ja leicht mal über den Alpenhauptkamm jetten können.«
»Hätten Sie, ja.« Irmi lächelte. »Und darf ich Sie noch mal bitten, bis zur PK morgen zu warten?«
»Keine Sorge, die Welt erfährt noch früh genug, dass der bayerische Unternehmer des Jahres 2010 das Zeitliche gesegnet hat! Entschwebt in einen watteweichen Daunenhimmel, ich bezweifle aber, dass der in den Himmel kommt.«
Tina Bruckmann spielte auf seine Daunenschiebereien an. Irmi war sich ziemlich sicher, dass sie weder etwas vom Kokain wusste noch von seinen illegal gehaltenen Tieren. Aber sie musste trotzdem weiterhin auf der Hut bleiben, zu viel Vertrauensvorschuss hatte sich oft schon als arger Fehler erwiesen. Im Privatleben und in den Ermittlungen.
»Frau Bruckmann, kannten Sie denn seine Frau?«
»Nein, ich glaube, die haben in ziemlichen Parallelwelten gelebt. Sie war in irgendeinem Reitstall engagiert, und da ist sie wohl auch die Treppe runtergefallen. Ich glaube, wir hatten auch nur den Polizeibericht. Ehrlich gesagt, hat mich das auch nicht interessiert. Und dann war das auch schon vor zwei Jahren, glaub ich. Sie wissen ja: Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern.«
»Um auf Herrn Stowasser zurückzukommen: Max Trenkle meinte, dass Sie auch etwas über Zoff mit Mitbewerbern wüssten?«
Tina Bruckmann zögerte wieder eine Weile, ehe sie erzählte: »Als er zum Unternehmer des Jahres gekürt wurde, gab es zu diesem Anlass ein Golfturnier in Burgrain, und da kam die gesamte Wirtschaftsprominenz: unser Landrat, der Bundestagsabgeordnete und alles an Adabeis, was wir so aufzubieten haben. Ich war auch da, den triumphierenden Blick, den Stowasser mir zugeworfen hat, werd ich nie vergessen. Jedenfalls war es der Wunsch meines Chefs, auf den Greens Stimmen zum Event einzufangen. Eine dämliche Idee! Ich zog also mit dem Fotografen von Hole zu Hole, ziemlich albern. An Loch zehn war Stowasser gerade dabei, aufs Green zu pitchen, als ihn ein Mann einfach mal schubste. Die beiden haben sich richtig angebrüllt, und erst als sie uns gesehen haben, vor allem die Kamera, war Schluss. Ich glaube, sonst hätte der Mann Stowasser seinen Golfschläger übergezogen. Ich habe natürlich nachgeforscht, wer der andere war: Veit Hundegger, der macht auch in Outdoor, wobei er eher Bikewear fabriziert, also Bikepants, Softshells und so weiter – aber auch Daunenjacken. Der wäre sicher ebenso gern bayerischer Unternehmer des Jahres geworden, der war auch nominiert.«
»Das wäre doch journalistisch für Sie interessant gewesen, oder nicht? ›Kampf der Aspiranten‹, ›Der Geschlagene schlägt zurück‹ oder so!«
»Frau Mangold, die Aufgabe war, glückliche bayerische Unternehmer zu zeigen, die sich alle begeistert über das liebevolle Miteinander einer großen bayerischen Familie aus Mir-san-mir-Freunden äußern. Sie kennen das doch zu Genüge: Wenn so ein ganzer bayerischer Kerl mal zuschlägt, ist das doch bloß urig. Archaisch eben! Festzeltromantik, Holzhackerbuam-Tradition. Was weiß denn ich!«
»Klar, wenn ein Mann zuschlägt, ist das archaisch, wenn eine Frau das tut, gehört sie in die Klapse.«
Sie schwiegen beide eine Weile, bis Irmi sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit und dafür, dass Sie bis morgen dichthalten.«
»Gerne, es genügt auch mir persönlich, morgen zu erfahren, wie Stowasser ums Leben kam. Ich hoffe allerdings, es war kein schöner Tod.«
Das klang nun aber doch sehr bissig, dachte Irmi. »Nein, das war es nicht.«
Die Journalistin spürte, dass sie übers Ziel hinausgeschossen hatte, und ruderte zurück. »Ich meine, ich wünsch keinem was wirklich Böses, aber dieser Kampf gegen Windmühlen macht einen so müde und mürbe.«
»Kampf gegen Windmühlen, das hat Max Trenkle auch gesagt.« Irmi sah die Journalistin prüfend an.
»Ja, Tierschutz ist wahrscheinlich auch so eine Sisyphosarbeit. Aber ich glaube, Trenkle ist gut darin, Niederlagen wegzustecken. Er ist ein ganz anderer Mensch als ich. Ich wollte immer Journalistin werden, schon als kleines Mädchen – Prinzessin oder Tierärztin wollte ich nie werden. Ich bin eben vom alten Schlag und mache einen Job, bis ich tot umfall. Trenkle hingegen orientiert sich dann eben neu, bricht zu anderen Aufgaben auf. Ich glaube, er ist einfach ein bisschen skrupelloser als wir beide. Ihn hält nichts wirklich.«
»Sie wissen, dass er mal Polizist war?«, fragte Irmi.
»Ja, aber das war nur eine seiner vielen Karrieren. Recht vielseitig, der Mann.«
Irmi sagte nichts. Wartete.
»Er hat mir mal einen kurzen Abriss seines Lebens gegeben. Realschule, Polizeiausbildung, Abbruch derselben, Abi nachgemacht, Lehrerstudium Englisch und Biologie. Schuldienst nur kurz. Wieder zu viele Hierarchien. Er war dann auch mal länger in Australien und Südafrika. Eine größere Erbschaft und nun sein Ehrenamt. Geld muss der keins mehr verdienen.«
»Tja, das kann ich von mir leider nicht behaupten!« Irmi lachte. »Gut, morgen in der Pressekonferenz gibt’s dann mehr, aber Sie haben mir schon mal sehr geholfen.«
Inwieweit ihr die Aussagen von Tina Bruckmann tatsächlich halfen, wusste sie nicht. Warum hätte ihr Trenkle seine ganze Lebensgeschichte erzählen sollen? Verdammt, das war alles so vertrackt, und außerdem war da womöglich immer noch diese verdammte Mamba unterwegs. Irmi war eigentlich ganz froh, dass sie Kathi in Urlaub geschickt hatte, das gab ihr etwas Zeit, die Gedanken zu ordnen. Morgen war auch noch ein Tag, ein entscheidender dazu, und Irmi machte etwas, was sie selten tat: Sie trödelte. Fuhr langsamer als sonst aus Garmisch hinaus. Stellte sich beim Tanken in Oberau extra so in die Schlange, dass es länger dauern würde. Zahlte in Zeitlupe.
Als sie an Lissis Hof vorbeifuhr, war alles dunkel. Schade drum, sonst hätte sie der Nachbarin einen Besuch abgestattet, aber heute war Lissis Landfrauentag. Bernhard war bei den Schützen, alle hatten ihre Rituale, ihre Fixsterne – nur ihre Lebensuhr tickte irgendwie anders.
Sie warf einen Blick in den Stall, wo gefräßiges Schweigen oder besser das monotone Kauen der Kühe herrschte, das Irmi so liebte. Bernhard hatte frisches Gras eingemäht, er war mit der Heuernte aber völlig aus dem Zeitplan. Drei trockene Tage am Stück, wann hatte es die denn gegeben? Im April, aber da war nun mal gerade Winterende und keine Erntezeit. Es grummelte auch schon wieder im Hintergrund. Irgendwo machte sich wieder ein Gewitter auf den Weg. Allmählich setzten die gewaltigen Entladungen Irmi richtig zu.
Als sie in die Küche kam, war heute mal nicht Konfetti-Tag, sondern Nudel-Reisauflauf-Tag. Es war ihr völlig schleierhaft, wie der Jungspund das nun wieder geschafft hatte, aber es war ihm gelungen, aus einem alten Küchenbüfett die Glasschubladen herauszuziehen und anschließend Reis und Nudeln auf dem Boden zu verteilen. Die Schubladen waren wie durch ein Wunder ganz geblieben, und der kleine schwarze Panther trieb gerade eine Nudel durch die Mitte. Fusilli hießen die und ließen sich sehr gut kicken. Unterm Tisch saß Kater und ließ sich von seinem Stürmer ab und zu mal eine Nudel hinkicken, die er dann retournierte. Ein tolles Team, die zwei, vor allem der Kleine, der in seinem raschen Dribbling natürlich auch den Reis flächendeckend verteilte. Sie musste lachen. Auch in ihrem Leben gab es Rituale: diesen beiden Wildfängen hinterherzuräumen.
Nachdem sie das Chaos beseitigt hatte, zappte sie lustlos im Fernsehen herum. Es gab schon wieder eine Castingshow, bei der sich junge Leute zu Affen machten, die zum einen wohl keinen Spiegel daheim hatten und zum zweiten einen Hörschaden, denn singen konnten die alle nicht.
Irgendwann war sie mal bei DSDS hängen geblieben und hatte wie gebannt zugesehen. Am Ende hatte sie sogar das Voting abgewartet. Damals war dann ein netter Junge, der tatsächlich hatte singen können, rausgeflogen, und sie war gar nicht verwundert gewesen. Es war doch ganz klar, wie die amorphe Masse Fernsehmensch dachte: Der ist eh gut, der kommt weiter, ich stimm für einen, der den Mitleidsbonus hat oder den Der-kann-noch-weniger-als-ich-Zuschlag bekommen hatte. Diese ganze Sendung war eine kollektive Massenmanipulation, perfide in dieser Perfektion. Zwar ging es hier nur um die fehlenden Sangeskünste von Teenagern, aber Irmi war sich sicher, dass diese Art von Manipulation sicher auch bei der Einführung der Todesstrafe für Kinderschänder funktionieren würde. Was für eine verdrehte Welt! Einerseits war so vieles absolut vorhersehbar, so abziehbildhaft, dass sie sich ärgerte, weil man ihre Intelligenz so gering schätzte. Andererseits war das Leben verwirrender geworden, und einer wie Trenkle verwirrte sie noch mehr. War er der Mambamörder?
Ihr Handy läutete, er war es. Da er Bernhards Abendtermine kannte, rief er häufig dann an, wenn er Irmi allein wähnte. Und wer hätte schon da sein können? Ein Lover? Was für ein schlechter Witz. Irmi hatte es sich immer zur Maxime gemacht, ihre Fälle nicht im Privaten breitzutreten, sie unterlag der Schweigepflicht, das war das eine, aber sie wollte auch nicht während der gesamten freien Zeit in Mord und Totschlag wühlen. Auch sie brauchte ein paar Stunden Abstand.
Er war gerade in Vancouver und schwärmte ihr vom Restaurant Sandbar auf Granville Island vor.
»Du hast gefehlt, zu zweit hätten wir viel schöner in den Regen sehen können. Die Perle am Pazifik ist ganz schön nass«, meinte er und lachte.
»Schwaigen, die Perle des Voralpenlands, auch«, sagte Irmi und erzählte von den dauernden Gewittern. Himmel, nun redete sie mit dem Mann, den sie liebte, also übers Wetter? Es war so schwer, aus dieser Entfernung Nähe aufzubauen, und wie aufs Stichwort setzte der liebe Himmelpapa wieder dazu an, zu kegeln. So hatte ihre Mutter ihr den Donner immer erklärt: »Der Himmelpapa kegelt!«
»O ja, ich hör es, ganz schön heftig.«
»Ich hasse es!«, sagte Irmi inbrünstiger als geplant.
»Ach, komm, Gewitter sind doch höchst faszinierend.«
»Was ist daran faszinierend? Mich macht das ganz kirre. Wenn mich mal der Blitz erwischt, findest du das sicher nicht mehr faszinierend.«
»Du wirst ja nicht übers freie Feld laufen oder allein auf einem Berggipfel stehen. Und Benjamin Franklin bist du auch nicht!«
»Wer?«
»Im Sommer 1752 hat Benjamin Franklin ein Experiment gewagt. Er ließ einen Drachen in den Gewitterhimmel aufsteigen, um Elektrizität aus der Luft einzufangen. Ein Funke sprang vom Ende der Drachenleine auf seine Hand über. Das war der Beweis, dass eine elektrische Spannung zwischen den Wolken und der Erde besteht. Hätte ein Blitz in den Drachen eingeschlagen, gälte Benjamin Franklin zwar immer noch als der Blitz-Beweiser, wäre aber selber Geschichte gewesen. Hast du das gewusst?«
Nein, hatte sie nicht. Sie wusste sowieso viel zu wenig. Er wusste viel, sie bewunderte seine Allgemeinbildung. Und wenn er erzählte, tat er das nie, um zu protzen, sondern weil er einfach ein hervorragender Erzähler war. Er hätte Lehrer werden sollen oder Uniprofessor.
»Nein«, sagte sie und wusste plötzlich nicht, was sie sonst noch hätte sagen sollen, als wieder ein gewaltiger Donner niederfuhr und der Blitz den Nachthimmel taghell beleuchtete. »Puh, das war ganz nah! Wie rechnet man das aus?«
»Der Schall hat im Gegensatz zum Licht, das etwa dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde schnell ist, nur eine Geschwindigkeit von dreihundertzweiunddreißig Metern in der Sekunde. Bei null Grad Celsius, wohlgemerkt. Und drum kann man aus der Zeit zwischen dem Blitz und dem Donner die Entfernung des Blitzes berechnen. Drei Sekunden sind recht genau ein Kilometer.«
Bevor Irmi noch etwas sagen konnte, kamen Donner und Blitz fast gleichzeitig. Rums, die beiden Kater hechteten von der Eckbank und sausten hinaus. Draußen war es dunkel, allein das Display ihres Handys leuchtete.
»Bei euch geht’s ja schiach zu«, sagte er, und Irmi musste lachen. Er übte bayerische Ausdrücke, aber über »Obacht!«, »schiach« und »Obatzda« war er noch nicht hinausgelangt, und auch das klang alles ein wenig zu preußen-bayerisch.
»Furchtbar, ich hasse das. Der Strom ist auch weg.«
»Das ist doch romantisch«, sagte er.
Natürlich hätte sie nun etwas antworten müssen von wegen Kerzenschein und Sehnsucht, aber irgendwie fanden die Gefühle in ihrem Inneren keinen Weg in ihre Sprache. Sie schwieg.
»Ich muss in zwei Wochen in die Schweiz«, sagte er plötzlich. »Kannst du dir nicht ein paar Tage freinehmen?«
Wieder ein Blitzschlag, diesmal in ihrem Inneren. Er kam, er würde ganz in der Nähe sein! Sie müsste sich freuen. Freudig erregt sein. Doch was fiel ihr als Erstes ein? Sie fragte sich, ob der Fall dann schon abgeschlossen sein würde und wer sich um die Kater kümmern sollte. Bernhard vergaß doch immer, die Katzen zu füttern.
Es war nicht so einfach, aus der täglichen Realität heraus, aus der gewitterigen Dunkelheit nun auf einmal in Urlaubs- oder sogar Liebeslaune zu kommen. Sie hatte so oft Sehnsucht nach ihm, aber jetzt fühlte sie gar nichts.
»Meldest du dich, wenn du aus Kanada zurück bist?«, fragte Irmi. Das kam ihr irgendwie angebracht vor. Und neutral. Auf ihren Fall zu verweisen, hätte er ja womöglich als Ablehnung interpretiert.
»Sicher, und denk an mich in der stromlosen Nacht.« Er schickte ein Küsschen und legte auf.
Irmi atmete tief durch und trat ans Fenster. Noch immer blieb die Euphorie aus, und noch immer zuckten die Blitze, nun schon weiter weg überm Estergebirge. Sie tapste ins Bad und zog im Dunkeln ihr Schlaf-T-Shirt an.
Morgen war auch noch ein Tag.
Wieder einer, der sich um eine Mamba ranken würde.