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Als Irmi einige Stunden später ins Büro kam, war Andrea schon da. Sie setzte an, sich noch mal zu entschuldigen, was Irmi aber gleich mit einer Handbewegung abwürgte.
»Wie geht es den Pferden?«
»Papa hat ihnen gestern Nacht noch die Hufe ausgeschnitten. Wahnsinn, wie die dagestanden sind! Das Horn war voll nach vorne aufgebogen, die Gelenke natürlich total dick. Die armen Tiere haben erst mal gar nicht begriffen, was richtiges Heu ist. Wir geben auch lauwarmes Mash, denn denen ihr Darmtrakt ist mit Sicherheit nicht in Ordnung.«
»Das freut mich. Bei euch sind die bestens aufgehoben. Können sie denn bleiben?«
»Papa sagt nein, Mama sagt ja.« Andrea lachte bedeutungsvoll.
»Was sind’s denn für welche?«, fragte Irmi.
»Das eine ist ein Wallach, bei dem ich mal auf schweres Warmblut tippen würde, wenn der mal zunimmt. Das andere ist eine Stute. Die hat sogar einen Oberländer Brand und ist sicher noch nicht alt«, meinte Andrea.
Na, eine Kaltblutstute würde ihr Vater sicher nicht mehr vor die Tür setzen, und für den Wallach würde sich die Mama starkmachen.
»Ich hab auch schon recherchiert«, sagte Andrea und wechselte das Thema. »Also diese Isabella Rosenthal hat das Grundstück vor drei Jahren gekauft. Sie ist die Schwester einer Liliana Rosenthal, das ist aber nur der ihr Mädchenname. Ihr Ehename lautet …«
»Stowasser?«, vermutete Irmi, einem Impuls folgend.
»Ganz genau. Woher weißt du das denn?«
»Der Tote ist ein gewisser Kilian Stowasser. Das haben wir gestern Nacht noch anhand seines Ausweises herausgefunden. Da keine Vermisstenanzeige vorlag, dachte ich mir, es genügt, wenn wir gleich heute früh die Angehörigen informieren.«
»Von denen es wenige gibt. Die Frau ist tot. Keine Kinder. Ein Bruder irgendwo. Und eben diese Schwester der Frau. Ich versuche da gerade mehr rauszufinden.« Andrea machte eine Pause. »Du weißt also auch schon, wer dieser Stowasser ist?«
»Ja, was ich aber immer noch nicht glauben kann, ist, dass er für diese Schweinerei zuständig ist. Ausgerechnet der.«
Andrea nickte. »Ja, das find ich auch unglaublich. Der macht ja ganz massiv PR für seine tierschutzgerechte Produktion. Ich war auf seiner Homepage, da laufen oben am Rand glückliche Gänse durch oberbayerische Wiesen. So einer quält doch keine Tiere. Vielleicht wusste er ja nicht, was die Schwester seiner Frau da treibt?«
»Und warum war er dann dort?«, fragte Irmi.
»Vielleicht hat er’s eben erst entdeckt?«
»Glaubst du das?«
»Nein«, sagte Andrea zögernd.
»Wir haben eine Soko gebildet«, berichtete Irmi. »Nachher ruf ich alle zusammen. Um zehn kommt außerdem ein Psychologe. Ich glaube, wir müssen alle erst mal begreifen, was Animal Hoarding eigentlich bedeutet.«
Um zehn Uhr saßen Kathi, Andrea, Sailer, Sepp Gschwandtner und Irmi im Besprechungszimmer.
»Wir waren ja gestern alle vor Ort«, begann Irmi. »Ich weiß nicht, wie ihr geschlafen habt. Ich hatte jedenfalls Albträume.« Sie erzählte von den neuesten Erkenntnissen, und als sie den Namen des Toten nannte, weckte das ungläubiges Staunen.
Dann nickte sie ihrem Besucher zu. »Ich habe Herrn Dr. Bindl dazugebeten, weil wir alle zum ersten Mal mit Animal Hoarding konfrontiert sind. Ich mein, wir waren alle schon mal in einer Messie-Wohnung, ich hatte aber noch nie das Vergnügen mit Schlangen in der Tiefkühltruhe, und Hasen mit abgefressenen Ohren hab ich auch noch nie gesehen.« Sie stockte kurz. »Herr Dr. Bindl, wir klären gerade erst die Besitzverhältnisse, aber kann es theoretisch sein, dass jemand nach außen ein ganz normaler Bürger ist und in Wirklichkeit hinter den hohen Hecken seines Anwesens Tiere hortet?«
»Genau, wie kann so was denn sein? Einerseits ist der Typ ein Tier- und Menschenfreund, andererseits liegen da lauter verelendete Kreaturen auf seinem Hof?« Andrea klang verzweifelt.
»Genau das ist das Perfide am Animal Hoarding, dass man diese Menschen eben nicht auf den ersten Blick erkennt«, erklärte Herr Bindl. »Wir hatten mal einen Fall von zwei Schwestern, die mit einer unendlichen Anzahl von armen Meerschweinchen in einer total vermüllten Wohnung lebten. Nach außen aber waren diese beiden Damen wie aus dem Ei gepellt.«
Weil keiner etwas sagte, fuhr er fort: »Die meisten Tierhorter igeln sich ein, und so dringt lange nichts nach außen. Der Deutsche Tierschutzbund hat gemeinsam mit Amtstierärzten und Psychologen 2008 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe gegründet, der ich auch angehöre. Wir wollen alle, die sich beruflich mit diesem Krankheitsbild auseinandersetzen müssen, umfassend informieren. Häufig sind Tierhorter einsame Menschen, die psychisch massiv verletzt worden sind und sich daher von den Menschen abwenden und stattdessen den Tieren zuwenden. Kommt dann ein Auslöser wie Scheidung, Tod oder Verlust des Arbeitsplatzes hinzu, kann das der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Tiersammler haben kein stabiles Selbstbewusstsein. Sie können sich selber keine Grenzen und Strukturen setzen. So entwickelt das Sammeln eine Eigendynamik und wächst den Betroffenen über den Kopf.«
»Die Rolle von Kilian Stowasser bei dem Ganzen steht zwar noch nicht fest, aber der war doch ein erfolgreicher Machertyp. Der hatte sicher kein Selbstwertproblem!«, rief Irmi.
»Das mag sein, aber Sie müssen auch sein Umfeld berücksichtigen. Die Frau, die Schwägerin, auf die offensichtlich das Grundstück läuft. Society Ladys versuchen sich gerne im Tierschutz. Der bisher spektakulärste Fall für den Deutschen Tierschutz war eine wohlhabende Unternehmerfamilie in Hessen, auf deren Grundstück sich jahrelang Hunderte von Pferden, Hängebauchschweinen, Gänsen, Rindern und Ziegen aufhielten. Verwahrlost, krank, die Tiere vermehrten sich unkontrolliert, und die Jungen starben. Als das zuständige Veterinäramt ein Tierhalteverbot erwirkt hatte, schrieb die Familie den restlichen Tierbestand kurzerhand auf die Schwester um und zog nach Rheinland-Pfalz, wo das Veterinäramt weniger rührig war. Das könnte doch in Ihrem Fall so ähnlich sein: Stowasser überschreibt das Grundstück auf die Schwester seiner Frau und ist erst mal aus der Schusslinie.«
Anschließend erklärte er ihnen die Typologie der Tierhorter, die Irmi schon von der Amtstierärztin kannte. Wie gebannt lauschten sie alle seinen Ausführungen. Die vielen Informationen machten sie erst mal sprachlos. Sailer starrte Herrn Dr. Bindl mit offenem Mund an, Sepp schaute zu Boden, und Andrea kaute an ihren Fingernägeln.
»Offenbar haben wir hier aber einen, der nicht so recht ins Raster passt«, sagte Irmi schließlich.
»Passen Verbrecher denn je in ein Raster?«, fragte Dr. Bindl lächelnd.
»Da haben Sie recht, der böse Russe ist gar nicht immer böse, dafür aber die nette Hausfrau von nebenan.« Irmi spielte damit auf ihren letzten Fall an, bei dem ihr ganzes Team sich auf einen angeblich mafiösen Russen eingeschossen hatte. Es hatte unschöne Szenen gegeben, fast war der offene Krieg ausgebrochen, und nur Irmi hatte eine andere Spur verfolgt, die am Ende zum Ziel geführt hatte.
Dabei ging es ihr nie ums Rechthaben, auch jetzt nicht. Ihr war nur aufgefallen, dass es ihr häufig nicht gelang, ihre Mitarbeiter mitzuziehen und zu überzeugen. Wahrscheinlich fällte sie einsame Entscheidungen, tickte einfach anders und erklärte sich schlecht. Ob sie eine schlechte Chefin war? Diesmal wollte sie es besser machen, wusste aber nicht, wie.
»Gut, Herr Dr. Bindl, ich danke Ihnen für die hilfreichen Informationen.« Sie wandte sich an Kathi. »Wir beide fahren zu Stowassers Fabrik in Eschenlohe. Und du, Andrea, suchst du mir bitte alles raus, was du im Zusammenhang mit Stowasser findest? Du bist ja in Google deutlich kreativer als ich.«
Andrea lächelte verschämt.
»So, und der gute Sailer und der Gschwandtner Sepp fahren noch mal nach Krün. Ich will wissen, wer da wann und wie oft rein- und rausgefahren ist. Fragt am besten die Nachbarn. Ich bin sicher, die haben Tagebuch geführt. Alles kann wichtig sein! Gut, dann sehen wir uns wieder um sechzehn Uhr.«
Kathi und Irmi fuhren los. Hingen ihren Gedanken nach. Irmi war dankbar, dass auch ihre Kollegin nicht in Redelaune war. Sie konzentrierte sich, fokussierte ihre Gedanken auf das anstehende Gespräch.
Stowassers Fabrik war tatsächlich imposant zu nennen. Man fuhr durch ein gewaltiges schmiedeeisernes Tor, das einem englischen Landsitz zur Ehre gereicht hätte. Rechts lag eine Tuffsteinvilla im Stil der Gründerzeit, links ein etwas weniger spektakuläres Gebäude, das aus derselben Zeit zu stammen schien. Eine Zufahrt, breit wie eine Flugzeuglandebahn, führte auf eine moderne Halle zu.
Irmi parkte auf dem Besucherparkplatz. Ein Schild lenkte den Besucher in alle Himmelsrichtungen: Büro/Empfang, Fertigungshalle, Anlieferung, Abholung, Gänsefarm.
Der Empfang lag in dem etwas schlichteren Steinhaus. Ein findiger Architekt schien einige Mauern durch Glas ersetzt zu haben, was dem Ganzen Helligkeit und Modernität verlieh. Der Tresen bestand aus hellem Holz, ebenso wie die Sitzgruppe in der Ecke – und alles signalisierte: Seht her, wir vereinen Ökologie mit Ökonomie!
Irmi fand das Ambiente durchaus ansprechend, doch ihr kam das alles hier zu perfekt vor. Auch das Mädchen am Empfang war so eine Symbiose aus Tradition und Moderne, gewandet in ein Designerdirndl, geschmackvoll und schlicht, kein Oktoberfest-Aufreißkleidchen. Die junge Frau war dezent geschminkt und trug das Haar im Nacken zusammengebunden. Lässig und doch gepflegt. Selbst wenn es das Dirndl in Irmis Größe gegeben hätte, was sie bezweifelte, hätte sie es nie mit dieser Noblesse tragen können. Auch die schlanke Kathi nicht – deren trampeliger Gang hätte das Gesamtbild empfindlich gestört.
Das Mädchen begrüßte die Damen mit einem freundlichen »Willkommen bei KS-Outdoors – Daunenträume werden wahr«. Irmi fragte sich, ob sie wohl jedes Mal diesen Sermon von sich geben musste, auch am Telefon.
»Wir würden gerne mit Herrn Stowasser sprechen.«
»Haben Sie einen Termin?«
Irmi zeigte ihre Polizeimarke. Sie hätte auch einen Kronkorken hochhalten können, meistens schauten die Leute gar nicht richtig hin. Nur selten wollte jemand auch noch den Dienstausweis sehen, den Irmi meist im Auto hatte statt im Geldbeutel.
»Oh, ich bedaure. Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.« Die junge Frau blickte aus dem Fenster. »Sein Wagen steht auch nicht drüben. Moment …« Sie führte ein kurzes Telefonat und erklärte dann: »Frau Faschinger, seine Assistentin, weiß leider auch nicht, wo er ist. Er hat wohl Außentermine.«
Ja, so konnte man das auch nennen. Er hatte einen Außentermin gehabt, draußen in Krün, nur leider seinen letzten.
»Dann würden wir gern mit Frau Faschinger sprechen«, sagte Irmi. »Welches Zimmer?«
»Das dritte rechts.« Obwohl sie vermutlich vor Neugier platzte, blieb die Dame am Empfangstresen freundlich-professionell.
Kathi und Irmi gingen den Gang entlang. Die Wände waren gepflastert mit Auszeichnungen: Unternehmer des Jahres. Ein Tierschutzpreis. Ein Innovationspreis der IHK. Lobeshymnen von Landräten und vom Ministerpräsidenten.
Die Tür zu Frau Faschingers Zimmer stand offen. Sie traten ein, und Irmi zog die Tür von innen zu. Auch hier gab es diese hochwertigen Holzmöbel. Eine Doppeltür führte ins Büro von Frau Faschingers Chef. Ein schöner Raum: Holzböden, ein Schreibtisch in klaren Linien, ein paar Farbakzente, wieder Tuffstein, Glas und Holz. Über dem Schreibtisch hing ein wahrhaft hinreißendes Bild einer Gans.
Frau Faschinger war ihrem Blick gefolgt: »Das hat eine bekannte Tiermalerin aus Seestall bei Landsberg gemacht. Ich finde, diese Gans schaut so seelenvoll, so zufrieden.« Ja, ganz anders als die Augen jener Tiere, in die sie vergangene Nacht geblickt hatten.
»Frau Faschinger, Sie haben Ihren Chef heute noch nicht gesehen?«
»Nein.«
»Das ist nicht ungewöhnlich?«
Eine leise Irritation durchzog das Gesicht der Assistentin. »Nein, um die Zeit hat Kilian immer seinen Golfvormittag, sein erster Termin ist um vierzehn Uhr eingetragen. Er spielt jeden Mittwochvormittag Golf, so lange, bis Schnee liegt.«
Aha, man spielte Golf, klar. Was für eine heile Welt!
»Wann haben Sie ihn gestern denn zuletzt gesehen?«, wollte Irmi wissen.
Wieder blickte Frau Faschinger ein klein wenig irritiert. »Gestern, er war morgens kurz da und hat sich dann verabschiedet. Warum fragen Sie?«
»Frau Faschinger, sagt Ihnen Krün etwas?«
»Krün? Ja, sicher, das liegt auf dem Weg nach Mittenwald. Wieso fragen Sie?«
»Sie haben da aber keinen weiteren Firmenstandort, oder?«
»Nein, aber was sollen denn Ihre ganzen Fragen?« Frau Faschinger wurde etwas lauter.
»Herr Stowasser wurde gestern tot in Krün aufgefunden, inmitten einer unüberschaubaren Zahl von Tieren, die in erbärmlichem Zustand waren«, schaltete sich Kathi ein. »Tiere, die teils vor Ort eingeschläfert werden mussten. Können Sie mir dazu irgendwas sagen?«
Frau Faschinger starrte abwechselnd Irmi und Kathi an. Dann sagte sie mit zitternder Stimme: »Tot? Ja, warum denn?«
Weil sich die Tiere zusammengerottet haben. Weil sie die Coloradokröte zum Mord angestiftet haben. Weil die Pfeilgiftfrösche die Revolution ausgerufen haben. Solche Sätze hatte Irmi im Kopf. Stattdessen sagte sie: »Wir können Ihnen momentan gar nichts Konkretes sagen. Auch nichts über die Todesursache. Was hat Herr Stowasser in Krün gemacht?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, flüsterte Frau Faschinger. Irmi hatte keine Ahnung, ob sie das glauben sollte.
»Hat Herr Stowasser Angehörige?«, fragte Kathi forsch.
Frau Faschinger säuselte immer noch leise wie ein Espenblättchen: »Liliana, also Frau Stowasser, ist 2009 verstorben. Kinder gibt es keine. Kilian hat einen Bruder, der momentan in Australien lebt oder besser gesagt rumgammelt. Er meldet sich alle paar Monate mal.«
»Was ist mit Isabella Rosenthal?«, fragte Irmi.
Stowassers Assistentin begann zu weinen. Ihre Schultern zuckten, und sie antwortete unter Tränen: »Das ist die Schwester von Liliana …«
»Das wissen wir schon. Ist das ein Grund zum Heulen?«, unterbrach Kathi sie, was ihr einen warnenden Blick von Irmi einbrachte.
Frau Faschinger schluchzte auf. »Frau Rosenthal ist hier fürs Marketing zuständig. Sie …« Der Rest ging in Tränen unter.
»Wo finden wir die Dame?«, übernahm Irmi.
»Sie hat gerade Journalisten zu Besuch. Sie machen einen Rundgang, im Moment sind sie bei den Gänsen.« Frau Faschinger heulte weiter.
Ihr vernuscheltes »Sie können doch keinen Pressetermin stören« überhörten Irmi und Kathi geflissentlich und gingen zügig zurück zum Empfang.
»Könnten Sie alle Abteilungsleiter in einer halben Stunde hierherbitten? Danke!«, wandte sich Irmi an die Empfangsdame, die ausnahmsweise einmal nicht perfekt aussah, sondern recht dümmlich mit ihrem vor Verblüffung geöffneten Mund. Dann verließ sie zusammen mit Kathi das Gebäude.
Draußen klebten die Blätter nass und morbide am Boden, die graue Stimmung erinnerte schon an den Herbst – nur war es weit vor der Zeit.
Kurz vor der Fertigungshalle ging links ein Weg Richtung »Gänsewelt« ab, wo sich schier endlose Wiesen befanden, übersprenkelt von weiteren Gebäuden. Das Gesamtareal musste an die zehn Hektar haben, überlegte Irmi. Sie folgten dem Weg und landeten in einer kleinen Senke, wo sich Gänse und Fotografen tummelten.
Eine Dame, vermutlich Isabella Rosenthal, war gerade mitten in einem Redeschwall. Sie nickte Irmi und Kathi nur zu, wahrscheinlich hielt sie die beiden für zu spät gekommene Journalisten. Sie drückte ihnen jeweils eine Pressemappe in die Hand. Die Titelseite zierte das Gänsebild, das über dem Schreibtisch des Chefs hing. Irmi blätterte weiter. Auf der nächsten Seite stand der folgende Text:
Federn lassen – aber tierschutzgerecht
Er ist schön kuschelig und soll auch bei extremen Minusgraden noch wärmen und den Menschen ausgeruht in den Bergmorgen entlassen. Die Qualität eines Schlafsacks entscheidet oft über das Gelingen von Touren, manchmal sogar übers Überleben. Enthalten sind diverse Füllmaterialien, darunter oft die wärmenden Gänsedaunen. Hand aufs Herz: Wer denkt wirklich darüber nach, woher diese Daunen eigentlich stammen? Wir von KS-Outdoors – Daunenträume werden wahr machen unsere gesamte Produktion transparent!
Die Präsentation wirkte hochwertig, das Papier war dick, die Mappe in Recyclingpappe gehüllt und von einem naturfarbenen Bindfaden gehalten. Hier sprang einen der Ökofaktor geradezu an.
Die Marketingdame fuhr mit ihren Ausführungen fort: »Hier haben wir eine Gruppe von hundert Gänsen. Hochinteressant ist, wie die sich verhalten. Es gibt immer ein Leittier. Der hat das Sagen, darf als Erster ans Fressen. Dann folgt die Gruppe in einer festgelegten Rangordnung, und dann gibt’s noch den Aufseher, der nachschaut, ob alle gefressen haben. Er selbst frisst erst ganz zum Schluss. In dieser Gruppe ist das Leittier ein Weibchen, der Aufseher männlich, das war aber auch schon andersrum.«
Sie lächelte, und die Journalisten schrieben eifrig mit. Irmi spähte auf das Namensschildchen an ihrer schilfgrünen engen und kurzen Daunenjacke – sicher auch von der Firma KS-Outdoors. Es war tatsächlich Isabella Rosenthal. Ihr Alter war schwer zu schätzen, von vierzig bis Mitte fünfzig war alles möglich. Ihr Gesicht war fast faltenfrei, sie war groß, hatte einen gewaltigen Busen, einen kleinen Bauchansatz und dünne Beine. Eher eine Brünhilde als ein Rehlein. Ihre naturkrausen Haare trug sie in einer seltsamen Hochsteckfrisur, was ihre Gestalt noch imposanter machte.
Sie hatte die Journalisten fest im Griff, die ihr folgten wie der Rattenfängerin von Eschenlohe. Die Führung umfasste noch zwei Ställe, eine Anlage für die Küken, weitere Freiläufe sowie ein Heu- und Strohlager, das Irmi vor Neid erblassen ließ. Wie machten die das, dass die Ballen wie Zinnsoldaten standen und keine Spinnwebe den Heustock verunzierte?
Anscheinend hatten sie die eigentliche Pressekonferenz verpasst, denn die Fragen der Journalisten waren ziemlich speziell und bezogen sich offenbar auf das vorher Gesagte.
»Hab ich das richtig verstanden, dass Sie als erste deutsche Firma das Prüfinstitut beauftragt haben?«, fragte einer von ihnen.
Isabella Brünhilde Rosenthal lächelte. »Wir sind die zweite oder dritte in Deutschland. In Bayern haben wir aber eindeutig eine Vorreiterposition mit dieser Überprüfung durch den, nennen wir ihn mal, Daunen-TÜV! Inzwischen gibt es ein absolut undurchsichtiges Netz an Zertifizierungen und Öko-Labels, die dem Verbraucher vorgaukeln, er könne sich ein sauberes Gewissen erkaufen. Deshalb haben wir uns für das bekannteste internationale Testlabor entschieden. Es wird von Experten betrieben, die unabhängig von Daunenproduzenten und Daunenabnehmern arbeiten und kein Interesse daran haben, eine der Parteien zu bevorzugen oder zu schützen. Das Labor hat Niederlassungen in Europa, in den USA und in China. Ein zentraler Aspekt ist die Tatsache, dass das Labor in China auch einheimische Mitarbeiter beschäftigt, um Zugang zu den chinesischen Farmen zu erhalten. Sie finden die ganzen Informationen noch mal ausführlich in der Pressemappe. Wenn keine Fragen mehr sind, danke ich Ihnen für Ihren Besuch. Wir haben uns erlaubt, für Sie alle eine Daunenweste bereitzulegen, die sie am Empfang abholen können. Deshalb auch die Frage nach Ihrer Kleidergröße in meiner E-Mail.«
Sie lachte, für Irmis Geschmack ein bisschen zu aufgesetzt. Dann fiel ihr Blick auf Irmi. »Für die beiden Damen habe ich nun leider keine Weste, hatten Sie sich angemeldet? Für welches Medium?« Dabei klang sie wie Heidi Klum, wenn die sagte: »Ich hab heute leider kein Foto für dich.«
Irmi erwiderte: »Kein Problem, wir sind ja auch zu spät dazugestoßen. Wir würden Sie aber gerne noch kurz sprechen, wenn das ginge?«
Frau Rosenthal schien einen Moment aus dem Konzept zu geraten, nickte dann aber. Der Tross zog zum Empfang und nahm dort die Tüten entgegen. Frau Rosenthal zog einen der Journalisten zur Seite und wisperte ihm halblaut zu, dass sie auch für seinen Sohn eine Weste beigelegt habe. Aha, ein besonders wichtiger Kollege, dachte Irmi.
Sie und Kathi wurden in den Besprechungsraum gegenüber vom Empfang geschickt, wo noch Reste einer bayerischen Brotzeit standen. Kathi griff sich eine Breze und tauchte sie in eine Schüssel mit süßem Senf.
»Kathi!«, rügte Irmi sie.
»Ja, was? Ich hab höllisch Hunger. Schade, dass keine Weißwürst mehr da sind.« Nach einem männerbedingten Ausflug ins Kerndlfressen – ihr Ex war Veganer gewesen – aß Kathi nun wieder alles.
Sie mampfte noch an ihrer Breze, als Isabella Rosenthal den Raum betrat. »Noch ein Kaffee für die Damen?«
»Nein, danke.« Anscheinend war die Marketingchefin von ihren Kolleginnen noch nicht gewarnt worden und glaubte noch immer, sie beiden wären Journalistinnen.
»Was kann ich für Sie tun? Für welches Medium schreiben Sie noch?«
»Gar keins«, sagte Irmi und zeigte ihre Polizeilegitimation. »Irmi Mangold und Kathi Reindl, Kripo Garmisch.«
Brünhilde Rosenthal starrte sie schweigend an und wartete ab.
»Sie besitzen ein Grundstück in Krün«, fuhr Irmi kühl, aber nicht unfreundlich fort. Sie lehnte noch immer am Tisch und fixierte die Frau.
Frau Rosenthal zögerte nur kurz. Sie war clever genug, diese Tatsache nicht abzustreiten, denn natürlich gab es Grundbuchauszüge. Eine solche Lüge hätte sie nicht weit gebracht.
»Ja«, sagte sie schließlich.
»Was machen Sie mit dem Grundstück?«
»Geht Sie das was an? Ich habe meine Steuern immer bezahlt!«
Frau Rosenthal bemühte sich um Überlegenheit, aber Irmi spürte eine gewisse Unsicherheit. Sie maßen sich mit Blicken. Irmi war froh, dass Kathi noch an ihrem Breznstück herumkaute.
»Frau Rosenthal, Sie haben Ihren Hauptwohnsitz in Karlsruhe?«
»Ach, wollen Sie mich wegen eines Meldevergehens anklagen? Hah! Ja, ich habe den Hauptwohnsitz in Karlsruhe, weil dort auch der Sitz meiner PR-Agentur ist. Ich habe ordnungsgemäß einen Zweitwohnsitz in Eschenlohe bei meinem Schwager gemeldet. So, das hätten wir geklärt, deshalb hätten Sie sich nicht herbemühen müssen!«
»Ich wüsste dennoch gerne, was Sie mit dem Grundstück machen. Beantworten Sie doch bitte meine Frage!«
Wieder ein kurzes Zögern. Dann straffte sie die Schultern. »Ich betreibe einen Gnadenhof im Andenken an meine liebe Schwester, die 2009 verstorben ist. Sie war wie ich eine große Tierfreundin.«
Nun fehlten Irmi doch kurz die Worte. Gnadenhof! O ja, was für eine Gnade hatten die Tiere da erhalten!
»Ach, ein Gnadenhof?« Irmi versuchte die Kontrolle zu behalten.
»Ja, wir haben alte oder ungewollte Pferde aufgenommen. Die haben doch auch ein Recht auf Leben! Sie wohnen im artgerechten Offenstall.«
Nun ging es mit Irmi durch. »Artgerecht? Ihre Schützlinge standen knietief im Morast, hatten Hufe wie Schnabeltassen, wo sich das Horn bereits nach oben aufbiegt. Das Futter war zertrampelt. Artgerecht? Sie wissen schon, dass es durch den permanenten Zuzug neuer geretteter Pferde ständige Rangordnungskämpfe gibt. Alte Pferde aber sind nicht mehr wehrhaft, sie haben oft schwere Prellungen und offene Wunden. Die Pferde sind nicht nach Geschlechtern getrennt, und die Fohlen werden zu Tode getrampelt. Wie bei Ihnen! Gerade alte Pferde brauchen einen individuellen Rückzugsraum! Ein wirklich guter Offenstall müsste viel größer sein und über trockenen Boden verfügen, es müsste Futterraufen geben und sauberes Wasser. Von wegen Gnade, diese Tiere sind Ihretwegen durch die Hölle gegangen!«, rief Irmi und wusste gar nicht, wo all diese Worte hergekommen waren. »Und was war mit den Hunden, den Kaninchen? Was, Frau Rosenthal! War das auch alles Gnade?«
»In der Natur leben Pferde auch in Gruppen, Hunde sind Rudeltiere, und Kaninchen …«
»… lieben es, wenn man ihnen die Ohren zu wunden Stummeln abbeißt?« Irmi wäre beinahe auf die Frau losgegangen.
Dass Kathi sie einmal bremsen würde, das hätte sich Irmi nicht träumen lassen. Aber bevor Frau Rosenthal womöglich tätlich angegriffen wurde, ging Kathi dazwischen.
»Ihr Schwager wurde gestern Nacht tot auf diesem Folterhof gefunden. Mitten zwischen irgendwelchen Reptilien.« Kathis Stimme war schneidend. Ihr makelloses Gesicht sah aus wie in Eis gemeißelt.
»Kilian? Tot?«
»Tot, jawohl!«
Frau Rosenthal starrte sie an und schwieg.
»Hat es Ihnen etwa die Sprache verschlagen? Schlecht, in ihrem Promojob!«, kommentierte Kathi mit schneidender Stimme.
Es war, als hätten sie die Rollen getauscht. Kathi versuchte sich in Zynismus, und Irmi wäre beinahe handgreiflich geworden. Es war ihr ausgesprochen unangenehm, dass sie vorübergehend die Kontrolle über sich verloren hatte. So kannte sie sich gar nicht.
»Ist er wirklich tot?«, vergewisserte sich Frau Rosenthal.
»Ja, mausetot. Frau Rosenthal, Sie können schon mal mit einer saftigen Anzeige wegen hundertfachem Verstoß gegen das Tierschutzgesetz rechnen.« Irmi hatte sich wieder etwas besser im Griff. »Und noch eine Frage: Was war eigentlich mit den Reptilien?«
»Wir hatten mit den Reptilien nie was am Hut, meine Schwester und ich. Das war Kilians Bereich. Nur er hatte die Schlüssel zu dem Gebäude. Er hat diesen Bereich immer ganz für sich haben wollen. War mir auch recht, ich hasse Schlangen.«
»Sie wollen mir also weismachen, dass Sie über seinen Reptilienbestand nichts wussten?«
»Wie gesagt: Natürlich weiß ich, dass er diese Tiere hält, aber nicht, welche und wie viele.« Frau Rosenthals Stimme wurde schriller.
»Da scheinen Sie generell etwas den Überblick verloren zu haben, Frau Rosenthal!«, meinte Irmi.
»Ich war nicht mehr so oft droben. Kilian hat gesagt, er füttert die Tiere, weil er ja sowieso zu seinen Lieblingen geht.«
Irmi starrte die Frau an. Sie war also nicht mehr so oft droben gewesen. Hatte die Tiere einfach vergessen. Im Stich gelassen. Auf andere abgeschoben.
»Was für ein schönes Andenken an Ihre Schwester! Sie haben die Tiere einfach verrotten lassen!«
»Also hören Sie mal! Mein Schwager war sehr zuverlässig. Ein Ehrenmann. Ich musste in letzter Zeit häufig nach Karlsruhe, was unterstellen Sie mir da eigentlich?«
Irmi schluckte und fragte mit äußerster Beherrschung: »Wann haben Sie Ihren Schwager zuletzt gesehen?«
»Vorgestern. Ich war bis heute früh in Karlsruhe. Ich bin um vier aufgestanden, um rechtzeitig zu meinem Termin mit den Journalisten wieder da zu sein.«
»Gibt es Zeugen?«
»Sind Sie noch bei Trost? Brauch ich etwa ein Alibi? Natürlich hat man mich gesehen, ich kann Ihnen auch die Tankquittungen von der Autobahn raussuchen lassen, sie sind allerdings schon in der Buchhaltung.«
Das würde sich leicht überprüfen lassen. »Hat Ihr Schwager Sie über seine Pläne in Kenntnis gesetzt, zum Beispiel darüber, dass er zu dem fabelhaften Tierschutzhof unterwegs war?«
»Nein, das wusste ich nicht. Ich war auch, wie gesagt, nicht da.«
Plötzlich stürzte Frau Rosenthal aus dem Zimmer. Dabei hätte sie beinahe Frau Faschinger über den Haufen gerannt, die gerade die Botschaft überbringen wollte, dass sich alle Abteilungsleiter versammelt hätten.
Sie schaute der PR-Chefin angewidert hinterher. »Die kommt gleich wieder. Bei Aufregung braucht sie eine zusätzliche Gabe.«
»Gabe?« Irmi runzelte die Stirn.
»Na, Sie wissen schon.« Frau Faschinger machte eine schnelle Bewegung aus dem Handgelenk.
»Sie trinkt?«
Frau Faschinger lächelte verschwörerisch. »Ja, natürlich. Wodka im Kaffee am Morgen, bei Sekt Orange lehnt sie immer ab und nimmt nur den Saft, den sie dann unauffällig mit Wodka aufspritzt. Sie braucht ihren Pegel, und wenn der absinkt, dann gnade uns Gott. Ohne ihren Helfer wird sie unangenehm aggressiv, wenn sie zu viel hat, wird sie melancholisch.«
Aus der Heulsuse von vorhin war eine ganz schöne Giftspritze geworden. Giftspritze, genau. Irmi hatte den toten Kilian Stowasser vor Augen. Auch hier in der Fabrik herrschte eine ziemlich vergiftete Atmosphäre.
»Ich entnehme Ihrer Rede, dass Sie Frau Rosenthal nicht sonderlich schätzen?«
»Fachlich ist sie ein großer Gewinn für die Firma. Es ist nur sehr schwer, mit ihr zusammenzuarbeiten, weil sie uns dazu zwingt, auf ihre aktuelle Tageslaune einzugehen. Das macht die Sache etwas anstrengend.«
»Was hat denn der Chef dazu gesagt?«, fragte Kathi.
»Kilian hat ihr immer die Stange gehalten. Nun, sie ist ja auch seine Schwägerin.«
»Hat Kilians Frau eigentlich auch in der Firma mitgearbeitet?«, fragte Irmi.
»Nein, die war mehr mit Charity und Ehrenämtern befasst. Und mit Schönsein. Ist auch eine Aufgabe!«
»Woran ist sie denn gestorben?«, wollte Kathi wissen.
»Sie hat einen Schwächeanfall erlitten und ist im Reitstall, wo ihre Pferde standen, die Treppe vom Stüberl hinuntergestürzt. Dabei hat sie sich den Nacken gebrochen.«
Irmi sah sie scharf an und sagte dann, einem Impuls folgend: »Sie war auch Alkoholikerin und ist deshalb gefallen?«
»Das haben jetzt Sie gesagt!«
Irmi beschloss, sich die Unterlagen zu diesem Todesfall kommen zu lassen.
»Frau Faschinger, Ihnen ist wirklich nichts von einem Grundstück in Krün bekannt?«
»Nein, ich bin erst seit zwei Jahren bei KS-Outdoors, und ich arbeite hier nur. Im Gegensatz zu manchen anderen Kollegen hab ich aber auch ein Privatleben. Ich verbringe viel Zeit mit meinen beiden Enkeln und kümmere mich nicht um private Dinge von Kilian.«
Das glaubte ihr Irmi nicht so ganz, schließlich wusste sie über den Alkoholkonsum der Damen Rosenthal ja so einiges. »Ich dachte nur, weil Sie mit dem Chef per du zu sein schienen?«
»Stimmt, das hat er mir nach einem Jahr angeboten. Das hier ist eine kleine Firma, wir arbeiten eng zusammen, Kilian ist ein bodenständiger Typ, und außerdem san mir in Bayern.«