London, Century House
»Ich spreche gewiß im Namen aller, wenn ich Denis für seine ausgezeichnete Darlegung nachdrücklich danke«, sagte Timothy Edwards. »Da es so spät geworden ist, möchte ich vorschlagen, daß Sie, liebe Kollegen, und ich uns durch den Kopf gehen lassen, ob in diesem Fall eine Ausnahmeregelung möglich wäre, und unsere Auffassungen dazu morgen vormittag vortragen.«
Denis Gaunt mußte dem Beamten von der Dokumentenabteilung das Dossier zurückgeben. Als er sich umdrehte, war Sam McCready verschwunden. Er hatte sich verdrückt, kaum daß Edwards sein letztes Wort gesprochen hatte. Gaunt spürte ihn zehn Minuten später in seinem Dienstzimmer auf.
McCready hatte die Baumwolljacke über eine Stuhllehne gehängt, die Ärmel hochgekrempelt und kramte herum. Auf dem Boden standen zwei Weinkartons.
»Was tun Sie denn da?« fragte Gaunt.
»Meine privaten Siebensachen ausräumen.«
Es gab nur zwei Fotos, und die waren nicht auf dem Schreibtisch zur Schau gestellt, sondern lagen in einer Schublade. Das eine zeigte seine verstorbene Frau May, das andere seinen Sohn am letzten Tag seines Studiums, wie er in seiner schwarzen Robe dastand und schüchtern in die Kamera lächelte. McCready legte die beiden Fotos in einen der Kartons.
»Sie sind verrückt«, sagte Gaunt. »Vielleicht haben wir es geschafft. Nicht dank Edwards, natürlich, sondern dank der beiden Controller. Ich könnte mir vorstellen, daß sie es sich anders überlegen. Wir wissen, daß die beiden Sie mögen und wollen, daß Sie bleiben.«
McCready nahm seinen CD-Player und verstaute ihn in dem anderen Karton. Manchmal, wenn er Gedanken nachhing, legte er gern klassische Musik auf, die beruhigend wirkte. Sein persönlicher Kram füllte kaum die beiden Kisten aus. An den Wänden hingen keine Fotos, die ihn beim Händeschütteln mit hohen Tieren zeigten, und die paar Kopien impressionistischer Gemälde gehörten dem SIS. Er richtete sich auf und sah die beiden Kartons an.
»Nicht gerade viel, wenn man bedenkt, daß ich dreißig Jahre dabei war«, murmelte er.
»Aber, Sam, um Himmels willen, die Sache ist doch noch nicht entschieden. Vielleicht überlegen sie es sich noch einmal.«
McCready drehte sich um und packte Gaunt an den Oberarmen.
»Denis, Sie sind ein großartiger Junge. Sie haben es sehr gut gemacht, da drinnen. Sie hätten es nicht besser machen können. Und ich werde dem Chef vorschlagen, Ihnen die Abteilung zu unterstellen. Aber Sie müssen lernen, das Unvermeidliche hinzunehmen. Es ist vorbei. Das Urteil wurde schon vor Wochen gesprochen, in einem anderen Büro und von einem anderen Mann.«
»Was sollte dann die ganze Anhörung überhaupt, verdammt nochmal?«
Denis Gaunt setzte sich mit trauriger Miene in den Sessel seines Chefs.
»Ach, ich wollte es den Schurken ein bißchen schwermachen. Tut mir leid, Denis, ich hätte es Ihnen verraten sollen. Sorgen Sie dafür, daß diese Kartons irgendwann in meine Wohnung gebracht werden?«
»Sie könnten noch immer einen der Jobs akzeptieren, die sie Ihnen angeboten haben«, schlug Gaunt vor. »Jetzt gerade zum Trotz.«
»Denis, wie der Dichter sagt: Eine einzige Stunde glorreich, süß und toll gelebt zu haben, ist eine Welt ohne Namen wert. Dort unten in der Archivbibliothek zu sitzen oder Spesenrechnungen weiterzugeben, das wäre für mich eine Welt ohne Namen. Meine Zeit ist abgelaufen, ich habe mein Bestes gegeben, es ist zu Ende. Ich gehe meiner Wege. Draußen erwartet mich eine Welt voller Sonne, Denis. In dieser Welt werd ich’s mir gut gehen lassen.«
Denis Gaunt machte ein Gesicht, als nähme er an einem Begräbnis teil.
»Der Chef wird Ihnen eine Abschiedsparty geben.«
»Darauf verzichte ich. Ich mag keinen billigen Sekt. Der schlägt sich mir auf den Magen. Und genauso geht’s mir, wenn Edwards nett zu mir ist. Begleiten Sie mich hinunter zum Haupteingang?«
Das Century House ist ein Dorf, eine kleine Gemeinde. Auf dem Korridor zum Lift, während der Fahrt hinab ins Erdgeschoß und in der gefliesten Eingangshalle grüßten die Kollegen und Sekretärinnen McCready - »Hallo, Sam. hallo, Sam.« Sie sagten nicht »Leben Sie wohl, Sam«, aber das war gemeint. Ein paar von den Sekretärinnen blieben stehen, als würden sie ihm gern ein letztes Mal die Krawatte geradeziehen. Er nickte, lächelte und ging weiter.
Am Ende der Halle war der Eingang, und dahinter die Straße. McCready ging der Gedanke durch den Kopf, ob er sich mit seiner Entschädigung ein Häuschen auf dem Land kaufen, Rosen und Kürbisse ziehen, Sonntagvormittags in die Kirche gehen, zu einer Stütze der Gemeinde werden sollte. Aber womit die Tage ausfüllen?
Es tat ihm leid, daß er niemals Hobbys entwickelt hatte, die einen ganz in Anspruch nahmen, wie die Kollegen, die Tropenfische züchteten oder Briefmarken sammelten oder in Wales auf die Berge stiegen. Und was könnte er zu seinen Nachbarn sagen? »Guten Morgen, ich heiße Sam, ich war im Foreign Office und bin jetzt im Ruhestand, aber was ich dort getan habe, davon darf ich kein Wort verraten.« Alten Soldaten ist es erlaubt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben oder im Nebenzimmer eines Pubs mit ihren Heldentaten Touristen zu
langweilen. Aber diejenigen, die ihr Leben im
Geheimdienstmilieu zugebracht haben, dürfen den Mund nicht aufmachen. Sie müssen schweigen bis zum Ende.
Mrs. Foy von der Reiseabteilung durchquerte auf ihren klappernden hohen Absätzen die Eingangshalle, eine
statuarische Witwe Ende dreißig. Nicht wenige männliche Bewohner des Century House hatten schon ihr Glück bei
Suzanne Foy versucht, aber sie hieß nicht grundlos >die Festung<.
Ihre Wege kreuzten sich. Sie blieb stehen und wandte sich McCready zu. Irgendwie hatte sein Krawattenknoten die Mitte seines Brustbereichs erreicht. Sie streckte die Hände aus, zog ihn fest und beförderte ihn wieder hinauf zum obersten Knopf des Hemdes. Gaunt beobachtete sie. Er war zu jung, um sich an Jane Russell zu erinnern, und konnte deshalb den naheliegenden Vergleich nicht ziehen.
»Sam, Sie brauchen jemanden, der Sie nach Hause mitnimmt und Ihnen etwas Nahrhaftes vorsetzt«, sagte sie.
Denis Gaunt sah ihren Hüften nach, wie sie den Weg bis zu den Lifttüren zurücklegten. Der Gedanke ging ihm durch den Kopf, wie es wäre, von Mrs. Foy etwas Nahrhaftes vorgesetzt zu bekommen. Oder auch umgekehrt.
Sam McCready öffnete die Spiegelglastür zur Straße. Eine Woge heißer Sommerluft brandete herein. Er drehte sich um, griff in seine Brusttasche und zog einen Umschlag heraus.
»Geben Sie ihnen das, Denis. Morgen vormittag. Das und nichts anderes wollen sie ja schließlich.«
Denis nahm den Umschlag entgegen und starrte ihn an.
»Sie haben den Brief die ganze Zeit bei sich getragen«, sagte er. »Sie haben ihn schon vor Tagen geschrieben, Sie alter Fuchs.«
Aber seine Worte waren in die Eingangstür gesprochen, die gerade zufiel.
McCready wandte sich nach rechts und ging gemächlich, das Sakko über die Schulter gehängt, in Richtung Westminster Bridge, die eine halbe Meile entfernt war. Er lockerte die Krawatte, so daß sich der Knoten wieder über dem dritten Hemdknopf von oben befand. Es war ein heißer Julinachmittag, einer in der großen Hitzewelle des Sommers 1990. Der frühe Pendlerverkehr strömte an ihm vorbei, der Old Kent Road entgegen.
Vor ihm stieg die Westminster Bridge in die Höhe. Auf dem anderen Ufer ragten die Houses of Parliament in den blauen Himmel, deren Rechte - und gelegentliche Narreteien - zu schützen dreißig Jahre lang Ziel seiner Arbeit gewesen war. Der vor einiger Zeit gesäuberte Big Ben glühte neben der träge dahinströmenden Themse golden im Licht der Sonne.
In der Brückenmitte stand ein Zeitungsverkäufer mit einem Stapel Ausgaben des Evening Standard, an dem ein Zeitungsplakat lehnte. Darauf stand:
BUSH-GORBY - ENDE DES KALTEN KRIEGES BESIEGELT.
McCready blieb stehen, um sich das Blatt zu kaufen.
»Danke, guy«, sagte der Zeitungsverkäufer und deutete auf sein Plakat. »Endlich alles vorbei, was?« sagte er.
»Vorbei?« antwortete McCready.
»Klar. Aus und vorbei mit diesen ganzen internationalen Krisen.«
»Eine schöne Vorstellung«, pflichtete McCready ihm bei und ging gemütlich weiter.
Vier Wochen später überfiel Saddam Husseins Armee Kuwait. Sam McCready hörte die Meldung beim Angeln in seinem Kofferradio, zehn Meilen vor der Küste von Devonshire. Er ließ sie sich durch den Kopf gehen und beschloß, einen anderen Köder zu nehmen.
* ENDE *