London, Century House

 

Der Donnerstag war der vierte Tag der Anhörung, und Timothy Edwards hatte entschieden, daß es der letzte sein sollte. Bevor Denis Gaunt mit seinen Ausführungen beginnen konnte, entschloß sich Edwards, ihm zuvorzukommen.

Er hatte gemerkt, daß seine zwei Kollegen auf der anderen Seite des Tisches, die Controller für >Inlandsoperationen< und >Westliche Hemisphäre<, eine gewisse Bereitschaft zum Einlenken gezeigt hatten, die Bereitschaft, dieses eine Mal im Fall Sam McCreadys eine Ausnahme zu machen und ihn mit irgendwelchen Tricks vor der vorzeitigen Pensionierung zu retten.

Das paßte Edwards überhaupt nicht ins Konzept. Im Gegensatz zu den anderen wußte er, daß die treibende Kraft hinter dem Beschluß, die Entscheidung über die vorzeitige Pensionierung des Täuschers zum Präzedenzfall zu machen, der Beamtete Staatssekretär im Außenministerium war, ein Mann, der eines Tages in Klausur mit vier anderen den nächsten Chef des SIS bestimmen würde. Schierer Wahnsinn, sich diesen Mann zum Feind zu machen.

»Denis, wir haben uns alle mit größtem Interesse Ihre Berichte über Sams große Leistungen angehört, und wir sind alle mächtig beeindruckt. Tatsache ist jedoch, daß wir uns jetzt den Herausforderungen der neunziger Jahre stellen müssen, einer Periode, in der - wie soll ich mich ausdrücken - aktive Maßnahmen, die mutwillige Mißachtung anerkannter Verfahrensgrundsätze, keine Daseinsberechtigung mehr haben. Muß ich Sie wirklich an den Aufruhr erinnern, den unser guter Sam im vergangenen Winter mit seinen Operationen in der Karibik ausgelöst hat?«

»Aber nicht im geringsten, Timothy«, sagte Gaunt. »Ich hatte sowieso vor, die Episode meinerseits noch einmal zu schildern, als letztes Beispiel dafür, wie wertvoll Sam McCready nach wie vor für den Dienst ist.«

»O bitte, dann tun Sie das«, forderte Edwards ihn auf, nicht ohne Erleichterung darüber, daß dies das letzte Plädoyer sein würde, das er sich anhören mußte, bevor er zu seinem unvermeidlichen Urteil gelangte. Darüber hinaus hegte er die Hoffnung, daß seine beiden Kollegen sich nun doch zu der Ansicht bekehren würden, daß McCready sich eher wie ein Cowboy denn wie ein Repräsentant Ihrer Majestät aufgeführt hatte. Das Jungvolk hatte Sam natürlich applaudiert, als er nach seiner Rückkehr kurz nach Neujahr in die Hole in the Wall Bar kam, aber er, Edwards, hatte ihn beim Feiern stören müssen, um Scotland Yard, das Innenministerium und das zutiefst empörte Außenministerium einigermaßen zu besänftigen.

Zögernd ging Denis Gaunt quer durch den Raum zum Schreibtisch des Beamten der Dokumentenabteilung und nahm den Ordner entgegen, den dieser ihm reichte. Trotz seiner forschen Ankündigung war die Karibik-Affäre diejenige, die er am liebsten unter den Tisch hätte fallen lassen. So sehr er seinen Abteilungsleiter auch bewunderte, war ihm doch klar, daß Sam in diesem Fall arg über die Stränge geschlagen hatte.

Er erinnerte sich nur zu gut an die Memos, die Anfang des Jahres ins Century House geflattert waren, und an das ausgedehnte Gespräch unter vier Augen, zu dem der Chef McCready Mitte Januar zu sich bestellt hatte.

Der neue Chef hatte erst vierzehn Tage vorher sein Amt angetreten, und als Neujahrspräsent hatte man ihm Einzelheiten über Sams karibische Heldentaten auf den Schreibtisch gelegt. Zum Glück kannten sich Sir Mark und der Täuscher schon sehr lange, und nach der obligaten Gardinenpredigt hatte der Chef offenbar einen Sechserpack von McCreadys Lieblings-Ale zum Vorschein gebracht, mit ihm auf das Neue Jahr angestoßen und ihm zugleich ein Versprechen abgenommen - von jetzt an keine Regelverstöße mehr.

Gaunt nahm - irrtümlich - an, der Chef habe sich Zeit gelassen und bis zum Sommer gewartet, um McCready mit sanfter Gewalt hinauszudrängen. Er hatte keine Ahnung, von wie weit oben die Anordnung tatsächlich gekommen war.

McCready wußte es. Man brauchte es ihm nicht zu sagen, er konnte auf Beweise verzichten. Aber er kannte den Chef. Wie jeder gute Kommandant konnte Sir Mark es einem ins Gesicht sagen, wenn man aus der Reihe tanzte, einem gründlich den Kopf waschen, wenn er meinte, man habe es verdient, ja, einen schlimmstenfalls sogar entlassen. Aber er tat es persönlich. Im übrigen kämpfte er wie ein Löwe, um seine Leute gegen Angriffe von außen in Schutz zu nehmen. Diese Geschichte kam also von höherer Stelle, und der Chef hatte sich seinerseits beugen müssen.

Als Denis Gaunt mit dem Dossier an seinen Platz zurückging, fing Timothy Edwards McCreadys Blick auf und lächelte.

Du bist wirklich nur noch ein Klotz am Bein, Sam, dachte er. Du bist hochbegabt, aber du paßt einfach nicht mehr in die Landschaft. Jammerschade, wirklich. Wenn du doch bloß Vernunft angenommen und dich an die Vorschriften gehalten hättest. Dann wäre dir dein Platz hier immer noch sicher. Aber jetzt geht nichts mehr. Nicht, nachdem du Leute wie Robert Inglis so gegen dich aufgebracht hast. Es wird eine andere Welt sein in den neunziger Jahren, meine Welt; eine Welt für Leute wie mich. In drei, vielleicht vier Jahren sitze ich am Chefschreibtisch, und dann wird für Leute wie dich ohnehin kein Platz mehr sein. Also kannst du genauso gut jetzt schon gehen, Sam, alter Junge. Bis dahin haben wir einen völlig neuen Stab hier, aufgeweckte junge Mitarbeiter, die tun, was man ihnen sagt, sich an die Vorschriften halten und niemandem auf den Schlips treten.

Sam McCready erwiderte das Lächeln.

Du bist doch wirklich das größte Arschloch aller Zeiten,

Timothy, dachte er. Du denkst tatsächlich, Geheimdienstarbeit besteht aus Ausschußsitzungen und Computer-Ausdrucken, und du kriechst den Typen in Langley in den Arsch, damit sie dir ein bißchen was von dem abgeben, was ihr Abhördienst rauskriegt. Sicher, die Amerikaner sind gut im Abhören. Und ihre elektronischen Mittel sind phantastisch. Die besten der Welt - sie haben die Technologie, mit ihren Satelliten und ihren Abhöreinrichtungen. Aber auch die kann man irreführen, Timothy, alter Junge.

Es gibt was, das heißt Maskirowka - wahrscheinlich hast du noch nichts davon gehört. Das ist Russisch, Timothy - die Kunst, falsche Landebahnen, Hangars, Brücken, ja ganze Panzerdivisionen aus Blech und Sperrholz zu bauen, und der gehen auch die großen Vögel der Amerikaner auf den Leim. Deshalb muß man manchmal am Boden operieren, einen Agenten tief ins Innere der Zitadelle einschleusen, einen Unzufriedenen rekrutieren, mit einem Überläufer vor Ort arbeiten. Du wärst nie ein Außenagent geworden, du mit deinen Clubkrawatten und deiner adeligen Gattin. Spätestens nach zwei Wochen hätte der KGB deine Eier als Cocktail-Oliven serviert.

Gaunt setzte zu seinem letzten Plädoyer an, versuchte zu rechtfertigen, was in der Karibik geschehen war, gab sich Mühe, McCready das Wohlwollen der beiden Controller zu erhalten, die am Abend zuvor fast schon bereit gewesen waren, noch einmal Gnade vor Recht ergehen zu lassen. McCready starrte aus dem Fenster.

Die Verhältnisse änderten sich, das stimmte. Aber nicht so, wie Timothy Edwards glaubte. In den Nachwehen des Kalten Krieges wurde die Welt still und heimlich wahnsinnig - der Lärm würde später kommen.

Schon konnte in Rußland die Rekordernte nur zum Teil eingebracht werden, weil Maschinen fehlten, und im Herbst würden ganze Waggonladungen auf den Abstellgleisen verfaulen, weil nicht genug Transportmittel vorhanden waren.

Die Hungersnot würde im Dezember kommen, vielleicht im Januar, und Gorbatschow wieder dem KGB und dem Oberkommando in die Arme treiben, und die würden ihn teuer bezahlen lassen für seine Ketzereien vom Sommer dieses Jahres 1990. Und das Jahr 1991 würde überhaupt nicht lustig werden.

Der Nahe Osten war ein einziges Pulverfaß, und der bestinformierte Geheimdienst in der Region, der israelische Mossad, wurde von Washington wie der letzte Dreck behandelt. Und Timothy Edwards mußte natürlich ins gleiche Horn stoßen. McCready seufzte. Vielleicht war das Fischerboot in Devon doch die beste Lösung.

»Eigentlich begann alles«, sagte Gaunt, während er den vor ihm liegenden Ordner aufschlug, »Anfang Dezember auf einer kleinen Insel in der nördlichen Karibik.«

McCready sah sich unsanft in die Wirklichkeit des Century House zurückgeholt. Ach ja, dachte er, die Karibik, die verdammte Karibik.