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Wie man einen Überläufer behandelt oder mit ihm verfährt, hängt vom Einzelfall ab und kann sehr unterschiedlich sein, je nach dem Gemütszustand des Überläufers und den Usancen des Geheimdienstes, der ihn befragt. Die einzige Gemeinsamkeit ist, daß es sich immer um ein heikles und langwieriges Verfahren handelt.
Der Überläufer muß zunächst in einer Umgebung untergebracht werden, die einerseits nicht bedrohlich wirkt, andererseits aber, oft zu seinem eigenen Besten, eine Flucht unmöglich macht. Zwei Jahre nach Orlow machten die Amerikaner einen Fehler mit Witali Urtschenko, einem anderen spontanen Überläufer. Um ihn in einer möglichst normalen Atmosphäre zu befragen, gingen sie mit ihm in ein Restaurant in Georgetown, Washington. Der Mann überlegte es sich anders, entkam durch das Fenster der Herrentoilette, ging zu Fuß zur sowjetischen Botschaft und stellte sich. Es half ihm nichts; er wurde nach Moskau zurückgeflogen, brutal verhört und erschossen.
Abgesehen von einer möglichen Neigung, Hand an sich zu legen, muß der Überläufer auch vor seinen früheren Herren geschützt werden. Die Ranch bot diese Art von Sicherheit. Die UdSSR und insbesondere der KGB sind notorisch unversöhnlich gegenüber jenen, die sie als Verräter ansehen, und setzen in der Regel alles daran, solche Leute aufzuspüren und sie nach Möglichkeit zu liquidieren. Je höher der Rang des Überläufers, um so schwerwiegender der Verrat, und als die schlimmsten Verräter gelten ranghohe KGB-Offiziere. Die KGB-Offiziere sind nämlich die Creme de la Creme, die in einem Land, wo die meisten Menschen hungern und frieren, alle erdenklichen Privilegien und jeden erdenklichen Luxus genießen. Diesen Lebensstil, von dem normale Sowjetbürger nur träumen können, zu verschmähen, zeugt von einer Undankbarkeit, die an sich schon mit dem Tod bestraft werden muß.
Der wichtigste Komplikationsfaktor ist der Gemütszustand des Überläufers selbst. Wenn sie sich glücklich in den Westen abgesetzt haben und der Adrenalinspiegel wieder auf normale Werte sinkt, setzt bei vielen eine Phase des Nachdenkens ein. Die volle Tragweite ihrer Handlungsweise wird ihnen bewußt, und jetzt erst wird ihnen klar, daß sie ihre Frau, ihre Familie, ihre Freunde, ihr Vaterland nie wiedersehen werden. Depressionen sind manchmal die Folge, die dem >Down< nach dem >High< eines Drogensüchtigen ähneln.
Um dem vorzubeugen, beginnt man die Befragungen oft mit einer geruhsamen Bestandsaufnahme des bisherigen Lebens des Überläufers, einem vollständigen Lebenslauf von der Geburt und der Kindheit bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Erinnerungen an die Kindheit, die Beschreibung der Mutter und des Vaters, der Schulfreunde, des Schlittschuhlaufens im Winter, der Spaziergänge auf dem Land im Sommer - das alles verstärkt nicht etwa das Heimweh, sondern wirkt im allgemeinen beruhigend. Und alles, jedes kleinste Detail und jede Geste, wird notiert.
Von großem Interesse sind stets auch die Beweggründe des Überläufers. Warum haben Sie sich entschlossen, zu uns zu kommen? (Das Wort >überlaufen< wird nie verwendet. Es klingt nach Verrat und Untreue, statt nach einer vernünftigen Entscheidung aufgrund eines Gesinnungswechsels.)
Manchmal macht der Überläufer unwahre Angaben über seine Beweggründe. So behauptet er vielleicht, er sei abgrundtief enttäuscht gewesen von der Korruption, dem Zynismus und dem Nepotismus des Systems, dessen Diener er gewesen ist und das er hinter sich gelassen hat. Bei vielen ist dies der wahre Grund; es ist sogar weitaus der häufigste Grund.
Aber manchmal sieht die Wahrheit anders aus. Oft wird man bei den Geheimdiensten des Gastgeberlands recht gut wissen, warum der Mann tatsächlich übergelaufen ist. Trotzdem wird man sich seine Erklärungen aufmerksam und verständnisvoll anhören. Und man wird sich alles notieren. Auch wenn der Mann aus Eitelkeit falsche Beweggründe angibt, bedeutet das nicht unbedingt, daß er auch dann lügen wird, wenn es um Staatsgeheimnisse geht. Oder vielleicht doch?
Andere lügen aus Prahlsucht, übertreiben bei der Darstellung ihrer Bedeutung in ihrem früheren Leben, um ihre Gastgeber zu beeindrucken. Aber es wird alles geprüft; früher oder später kennen die Gastgeber den wahren Beweggrund, die wahre Bedeutung des Mannes. Zunächst aber hört man ihm sehr verständnisvoll zu. Das eigentliche Kreuzverhör kommt später, genau wie vor Gericht.
Wenn dann schließlich die Rede auf Geheiminformationen kommt, werden dem Überläufer Fallen gestellt. Er muß viele, viele Fragen beantworten, deren Antworten die Vernehmungsbeamten bereits kennen. Und wenn sie sie nicht kennen, finden die Analytiker sie durch unermüdliches Vergleichen und Überprüfen der Bandaufzeichnungen in tage- und nächtelanger Arbeit bald heraus. Schließlich hat es schon zahlreiche Überläufer gegeben, und die westlichen Geheimdienste besitzen riesige Mengen von Informationen über den KGB, den GRU, die sowjetische Armee, Marine und Luftwaffe und über die politische Führung.
Wenn sich herausstellt, daß der Überläufer falsche Aussagen zu Dingen macht, über die er dank seiner angeblichen früheren Funktionen Bescheid wissen müßte, macht er sich sofort verdächtig. Vielleicht lügt er, um sich aufzuspielen, um Eindruck zu schinden; es kann aber auch sein, daß er nie in solche Geheimnisse eingeweiht war, jedoch eben diesen Eindruck erwecken möchte, oder daß die Erinnerung ihn trügt oder.
Es ist nicht einfach, Geheimdienst-Profis während einer langen, kräftezehrenden Befragung anzulügen, ohne ertappt zu werden. Die Befragung kann Monate, sogar Jahre dauern, je nachdem, wie viel von dem, was der Überläufer berichtet, sich nicht mit anderen Erkenntnissen in Einklang bringen läßt.
Wenn etwas, was ein neuer Überläufer behauptet, der angenommenen Wahrheit widerspricht, kann das auch daran liegen, daß die angenommene Wahrheit keine Wahrheit ist. Deshalb überprüfen die Analytiker erneut ihre ursprünglichen Informationsquellen. Es könnte ja sein, daß man sich die ganze Zeit geirrt hatte und der Überläufer recht hat. Das betreffende Thema wird für die Dauer der Überprüfung zurückgestellt und später wieder aufgenommen. Wieder und wieder.
Oft ist dem Überläufer nicht klar, wie wichtig eine Einzelheit ist, die er beisteuert und der er keine besondere Bedeutung beimißt. Für seine Gastgeber kann dagegen diese scheinbare Bagatelle das letzte fehlende Stück eines Puzzlespiels sein, nach dem sie lange Zeit vergeblich gesucht haben.
In die Fragen, deren Antworten bereits bekannt sind, werden die Fragen eingestreut, deren zutreffende Beantwortung Gold wert ist. Kann dieser Überläufer uns irgend etwas sagen, was wir nicht schon wissen, und wenn ja, wie wichtig ist es?
Im Falle des Obersts Pjotr Alexandrowitsch Orlow kam die CIA innerhalb von vier Wochen zu der Überzeugung, daß man aus purem Zufall auf eine dicke Goldader gestoßen war. Das >Material< dieses Mannes war phantastisch.
Auffallend war von Anfang an, wie kühl und gelassen er war. Er erzählte Joe Roth die Geschichte seines Lebens von seiner Geburt in einer bescheidenen Kate in der Nähe von Minsk unmittelbar nach Kriegsende bis zu dem Tag vor sechs Monaten, an dem er in Moskau endgültig zu der Überzeugung gekommen war, daß er die Gesellschaft und das Regime, die er verachten gelernt habe, nicht mehr ertragen könne. Er bestritt nie, daß er nach wie vor eine tiefe Liebe zu seinem Vaterland hegte, und ließ bei dem Gedanken daran, daß er es für immer verlassen hatte, die normalen Gefühle erkennen.
Er berichtete, seine Ehe mit Gaja, einer erfolgreichen TheaterRegisseurin in Moskau, habe seit drei Jahren nur noch auf dem Papier bestanden, und gab mit begreiflicher Verärgerung zu, daß sie mehrere Affären mit gutaussehenden jungen Schauspielern gehabt hatte.
Er bestand drei verschiedene Lügendetektor-Tests, die seine Herkunft, seine Laufbahn, sein Privatleben und seinen politischen Gesinnungswandel betrafen. Und er fing an, hochkarätige Informationen zu liefern.
Seine Laufbahn war sehr abwechslungsreich gewesen. Drei Jahre hatte er als Angehöriger des Dritten (für die Streitkräfte zuständigen) Direktorats als angeblicher GRU-Major Kutschenko im Zentralen Planungsstab des Armee-Hauptquartiers gearbeitet; von daher kannte er eine ganze Reihe ranghoher Militärs, die Einsatzpläne für die sowjetische Armee und Luftwaffe sowie für die Verbände der Marine.
Er lieferte faszinierende Details über die Niederlagen der Roten Armee in Afghanistan, erzählte von der unvorstellbaren Demoralisierung der dort stationierten sowjetischen Truppen und von der zunehmenden Enttäuschung Moskaus über den afghanischen Marionetten-Diktator Babrak Kamal.
Vor seiner Tätigkeit im Dritten Direktorat war Orlow beim Illegalendirektorat gewesen, jener Abteilung innerhalb des Ersten Hauptdirektorats, die für die Führung >illegaler< Agenten in aller Welt zuständig ist. Die >Illegalen< sind die geheimsten aller Agenten, die entweder als Einheimische gegen ihr eigenes Land spionieren oder in dem fremden Land im Untergrund leben. Es sind die Agenten, die über keine Tarnung als Diplomaten verfügen und deren Enttarnung und Festnahme nicht einfach nur die lediglich peinliche Folge hat, daß sie zur unerwünschten Person erklärt und des Landes verwiesen werden, sondern eine weitaus schmerzlichere Prozedur, die in Verhaftung, strengen Verhören und nicht selten Exekution besteht.
Seine Kenntnisse waren zwar schon vier Jahre alt, aber er hatte offenbar ein enzyklopädisches Gedächtnis und konnte eben die Spionagenetze verraten, an deren Aufbau und Führung er einst beteiligt gewesen war, vor allem in Zentral- und Südamerika, seinem damaligen Operationsgebiet.
Wenn sich die Informationen eines neuen Überläufers als kontrovers herausstellen, bilden sich im Geheimdienst des Gastgeberlandes meist zwei Lager - die eine Gruppe glaubt dem neuen Überläufer und unterstützt ihn, die andere zweifelt an seiner Aufrichtigkeit und nimmt Partei gegen ihn. Der berüchtigtste Fall dieser Art in der Geschichte der CIA war der von Golizyn und Nossenko.
Im Jahre 1960 lief Anatoli Golizyn zu den Amerikanern über und setzte alles daran, die CIA zu überzeugen, daß der KGB praktisch hinter allem gesteckt hatte, was seit dem Zweiten Weltkrieg irgendwo in der Welt schiefgegangen war. Golizyn zufolge gab es keine Infamie, vor der der KGB zurückschrecken würde oder die er nicht schon aus heckte. Das war Musik in den Ohren einer auf einen harten Kurs eingeschworenen Fraktion innerhalb der CIA, deren Anführer James Angleton, der Chef der Spionageabwehr, seinen Vorgesetzten seit Jahren die Machenschaften des KGB in ähnlich düsteren Farben geschildert hatte. Aus Golizyn wurde ein hochgeschätzter Star.
Im November 1963 wurde Präsident Kennedy ermordet, offenkundig von einem Linksradikalen namens Harvey Oswald, der eine Russin geheiratet hatte und früher einmal in die UdSSR übergelaufen war und dort über ein Jahr lang gelebt hatte. Im Januar 1964 lief Juri Nossenko über, gab sich als Oswalds Führungsoffizier in Rußland aus und erklärte, der KGB, dem Oswald lästig geworden sei, habe alle Kontakte zu ihm abgebrochen und bei dem Attentat auf Kennedy nicht die Hand im Spiel gehabt.
Golizyn, der Angleton hinter sich wußte, denunzierte unverzüglich seinen Landsmann, der daraufhin äußerst hart verhört wurde, dennoch aber nicht von seiner Darstellung abging. Der Streit spaltete die CIA auf Jahre hinaus und schwelte noch zwei Jahrzehnte lang weiter. Je nach der Antwort auf die Frage >Wer hatte recht und wer unrecht< wurden Karrieren aufgebaut und zerstört, denn es ist ein ehernes Gesetz, daß die Karriere derer, die einen größeren Erfolg verbucht haben, steil nach oben gehen muß.
Im Falle von Pjotr Orlow gab es keine solche Fraktionierung und somit auch niemanden, der dem Mann, der den Überläufer herübergeholt hatte, seinen Ruhm streitig machte: Calvin Bailey, Leiter der Abteilung Sonderprojekte.
Einen Tag nachdem Joe Roth mit Oberst Orlow in South Virginia Quartier genommen hatte, trat Sam McCready unauffällig durchs Tor des Britischen Museums in Bloomsbury und schlug den Weg zu dem großen kreisrunden Lesesaal unter der hohen Glaskuppel ein.
Er wurde begleitet von zwei jüngeren Männern, Denis Gaunt, in den McCready seit einiger Zeit immer größeres Vertrauen setzte, und einem Mann namens Patten. Keiner von beiden würde das Gesicht von Keepsake zu sehen bekommen - das war nicht nötig und hätte sogar gefährlich werden können. Ihre Aufgabe bestand einfach darin, sich in der Nähe der Eingänge aufzuhalten, in den dort ausgelegten Zeitungen zu lesen und dafür zu sorgen, daß ihr Chef nicht von anderen Besuchern des Museums gestört wurde.
McCready ging zu einem fast ganz von Bücherregalen eingeschlossenen Tisch und fragte den dort bereits sitzenden Mann höflich, ob er ihn störe. Der Mann, der sich über ein dickes Buch beugte und sich ab und zu Notizen machte, wies wortlos auf den Stuhl gegenüber und las weiter. McCready setzte sich und wartete. Er hatte einen Band bestellt, den er lesen wollte, und nach wenigen Minuten brachte ihm ein Angestellter das Buch und entfernte sich lautlos. Der andere Mann am Tisch hielt den Kopf gesenkt. Als sie allein waren, sprach McCready ihn an.
»Wie geht’s Ihnen, Witali?«
»Gut«, sagte der Mann leise und schrieb etwas auf seinen Block.
»Was gibt’s Neues?«
»Nächste Woche bekommen wir Besuch. In der Residentur.«
»Aus der Moskauer Zentrale?«
»Ja. General Drosdow persönlich.«
McCready zeigte keinerlei Reaktion. Er las weiter in seinem Buch, und seine Lippen bewegten sich kaum. Niemand außerhalb der von Bücherregalen umschlossenen Enklave hätte das leise Murmeln verstehen können, und niemand würde in die Enklave eindringen. Dafür sorgten Gaunt und Patten. Aber der Name hatte ihn überrascht. Drosdow, ein kleinwüchsiger, untersetzter Mann, der dem verstorbenen Präsidenten Eisenhower verblüffend ähnlich sah, war Chef des Illegalendirektorats und verließ nur selten die UdSSR. Daß er sich nach London in die Höhle des Löwen wagte, war höchst ungewöhnlich und konnte von größter Bedeutung sein.
»Ist das gut oder schlecht?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte Keepsake. »Aber seltsam ist es schon. Er ist zwar nicht mein direkter Vorgesetzter, aber wenn er kommt, dann nur mit Krjutschkows Einverständnis.« (General Wladimir Krjutschkow, seit 1988 Chef des KGB, war damals Leiter der Auslandsaufklärung des Ersten Hauptdirektorats.)
»Wird er mit Ihnen über seine >Illegalen< in Großbritannien sprechen?«
»Das bezweifle ich. Er führt seine Illegalen lieber direkt. Es könnte etwas mit Orlow zu tun haben. Es hat seinetwegen einen Riesenstunk gegeben. Die zwei anderen GRU-Offiziere in der Delegation werden bereits verhört. Im günstigsten Fall kommen sie wegen Nachlässigkeit vors Kriegsgericht. Oder vielleicht -«
»Mögliche andere Gründe?«
Keepsake seufzte und blickte zum erstenmal auf. McCready sah ihm in die Augen. Er hatte sich im Laufe der Jahre mit dem Russen angefreundet, vertraute ihm, glaubte an ihn.
»Es ist nur so ein Gefühl«, sagte Keepsake. »Es könnte sein, daß er die Residentur hier überprüfen will. Nichts Konkretes, nur so eine Ahnung. Vielleicht haben sie irgendeinen Verdacht.«
»Witali, das konnte nicht ewig so weitergehen. Das haben wir immer gewußt. Früher oder später werden sie es sich zusammenreimen. Zu viele undichte Stellen, zu viele merkwürdige Zufälle. Möchten Sie jetzt aussteigen? Das läßt sich machen. Sie brauchen es nur zu sagen.«
»Noch nicht. Vielleicht bald. Aber nicht sofort. Es gibt noch einiges, was ich euch schicken kann. Wenn die wirklich anfangen, die Organisation hier in London auseinanderzunehmen, weiß ich, daß sie etwas haben. Ich erfahre es rechtzeitig. So rechtzeitig, daß ich immer noch aussteigen kann. Aber jetzt ist es noch zu früh. Übrigens, macht bitte Drosdow keine Schwierigkeiten. Wenn sie tatsächlich Verdacht geschöpft haben, würde er das als einen weiteren Beweis ansehen.«
»Sagen Sie mir sicherheitshalber, als was er einreist, für den Fall, daß es in Heathrow zu einem echten Zwischenfall kommt«, sagte McCready.
»Schweizer Geschäftsmann«, sagte der Russe. »Aus Zürich. British Airways. Dienstag.«
»Ich sorge dafür, daß er absolut in Ruhe gelassen wird«, sagte McCready. »Irgendwas über Orlow?«
»Noch nicht«, sagte Keepsake. »Ich weiß von ihm, bin ihm aber nie begegnet. Überrascht mich aber, daß er übergelaufen ist. Er war im Besitz der höchsten Geheimhaltungsstufe.«
»Die haben Sie doch auch«, sagte McCready. Der Russe lächelte.
»Natürlich. Man weiß nie. Ich versuche, möglichst viel über ihn herauszukriegen. Warum interessiert er Sie?«
»Kein konkreter Grund«, sagte McCready, »nur so eine Ahnung, wie Sie sagen. Die Art, wie er rübergekommen ist - daß er Joe Roth keine Zeit für eine Überprüfung gelassen hat. Bei einem Seemann, der über Bord springt, ist das normal. Bei einem Oberst des KGB ist es seltsam. Er hätte sich teurer verkaufen können.«
»Ganz meine Meinung«, sagte der Russe. »Ich geb mir Mühe.«
Die Position des Russen innerhalb der Botschaft war so prekär, daß persönliche Treffen höchst riskant und deshalb selten waren. Für das nächste wurde ein kleines, schmuddeliges Café in Shoreditch im Londoner East End vereinbart. Im nächsten Monat, Mai.
Ende April hatte der Direktor des CIA eine Besprechung mit dem Präsidenten im Weißen Haus. Daran war nichts Ungewöhnliches. Die beiden trafen sich regelmäßig, entweder im größeren Kreis des Nationalen Sicherheitsrates oder unter vier Augen. Diesmal äußerte sich der Präsident aber ungewöhnlich schmeichelhaft über die CIA. Berichte darüber, wie dankbar verschiedene staatliche Stellen der CIA für die aus der Ranch im südlichen Virginia kommenden Informationen waren, hatten sogar das Oval Office erreicht.
Der DCI war ein harter Mann, der seine Laufbahn im Zweiten Weltkrieg beim Office of Strategie Services OSS) begonnen hatte, und er war Ronald Reagan treu ergeben. Außerdem hatte er einen Sinn für Fairneß und sah keinen Grund, nicht in das allgemeine Lob für den Leiter der Abteilung Sonderprojekte einzustimmen, dem man Oberst Orlow zu verdanken hatte. Als er nach Langley zurückgekehrt war, bat er Calvin Bailey zu sich.
Als Bailey eintrat, stand der Direktor vor den Panoramafenstern, die fast eine ganze Seite des Büros des DCI auf der obersten Etage der CIA-Zentrale einnehmen. Er blickte hinaus über das Tal, in dem das junge Grün der Bäume nun endlich die winterliche Ansicht des Potomac-Flusses verdeckte. Als Bailey nähertrat, drehte er sich mit einem breiten Lächeln um.
»Was soll ich noch sagen? Man kann Ihnen nur gratulieren, Cal. Die Leute von der Marine sind begeistert und warten gespannt, was noch alles kommen wird. Die Mexikaner freuen sich; sie haben gerade ein Netz von siebzehn Agenten mit Kameras, Funkgeräten und allem Drum und Dran zerschlagen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Calvin Bailey vorsichtig. Er war als zurückhaltender Mensch bekannt, der überschwenglichen Gefühlsäußerungen abhold war.
»Worüber ich mit Ihnen sprechen wollte«, sagte der DCI. »Wir alle wissen, daß Frank Wright Ende des Jahres in Pension geht. Ich brauche also einen neuen DDO. Vielleicht, Calvin, vielleicht weiß ich schon, wer dieser neue Mann sein sollte.«
Baileys ruhiger, verschleierter Blick erhellte sich plötzlich durch einen ungewohnten Ausdruck der Freude. Seit drei Jahrzehnten ist der Direktor des CIA ein politischer Beamter. Ihm unterstehen die zwei Hauptabteilungen des Geheimdienstes: Operative Maßnahmen mit dem Einsatzleiter (DDO) an der Spitze und Auswertung, mit dem Leiter der Auswertung (DDI) an der Spitze. Diese beiden Positionen sind die höchsten, nach denen ein Profi vernünftigerweise streben kann. Dem DDO untersteht innerhalb der CIA alles, was mit der Beschaffung von Informationen zusammenhängt, der DDI ist dafür zuständig, das Rohmaterial der eingehenden Informationen zu präsentablen und verwertbaren Erkenntnissen zu verarbeiten.
Nachdem er die Blumen überreicht hatte, wandte sich der DCI alltäglicheren Fragen zu.
»Noch etwas - es geht um die Briten. Wie Sie wissen, war Margaret Thatcher hier.«
Calvin Bailey nickte. Die enge Freundschaft zwischen der britischen Premierministerin und dem amerikanischen Präsidenten war allgemein bekannt.
»Sie hatte Christopher mitgebracht -« Damit war der Chef des SIS gemeint. »Wir hatten mehrere nützliche Besprechungen. Er hat uns wirklich gutes Material übergeben. Wir sind ihnen was schuldig, Cal. Nur einen kleinen Gefallen. Ich möchte nicht, daß wir in ihrer Schuld stehen. Die haben zwei Stellen, wo sie der Schuh drückt. Sie sagen, sie sind uns sehr dankbar für das viele Minstrel-Material, das wir ihnen geschickt haben, weisen aber darauf hin, daß es im Hinblick auf sowjetische Agenten in England bisher zwar nützliches Material gewesen ist, das aber ausschließlich Decknamen enthält. Sie fragen, ob Minstrel sich nicht an irgendwelche echten Namen erinnern kann oder an Positionen - irgend etwas, was es ihnen ermöglichen würde, einen feindlichen Agenten festzunageln.«
Bailey dachte nach.
»Natürlich haben wir ihn danach gefragt«, sagte er. »Die Briten haben alles bekommen, was sie auch nur im entferntesten betreffen könnte. Aber ich kümmere mich darum; Joe Roth soll ihn fragen, ob er sich nicht doch an einen echten Namen erinnern kann. Wird erledigt.«
»Schön, schön«, sagte der DCI. »Und jetzt der zweite Punkt. Die wollen unbedingt selber mit ihm sprechen. Drüben in England. Ich bin ausnahmsweise bereit, ihnen ihren Willen zu lassen. Ich glaube, so weit können wir gehen.«
»Ich würde ihn lieber hier behalten. Hier ist er in Sicherheit.«
»Wir können dafür sorgen, daß er auch drüben in Sicherheit ist. Wir können ihn ja auf einen amerikanischen Luftwaffenstützpunkt bringen. Upper Heyford, Lakenheath, Alconbury, was Sie wollen. Dann können sie mit ihm reden, natürlich unter Überwachung, und hinterher holen wir ihn zurück.«
»Gefällt mir nicht«, sagte Bailey.
»Cal -« Die Stimme des DCI hatte einen stählernen Unterton. »Ich habe schon zugesagt. Kümmern Sie sich um die Einzelheiten.«
Calvin Bailey fuhr zu einem persönlichen Gespräch mit Joe Roth zur Ranch hinaus. Die Unterredung fand in Roths Räumen über dem Portikus des Ranchgebäudes statt. Bailey fand, daß sein Untergebener müde und angegriffen aussah. Die Befragung eines Überläufers ist Schwerarbeit, denn nachdem man viele Stunden im Gespräch mit ihm zugebracht hat, muß man sich noch bis in die Nacht hinein die Taktik für die Befragung des nächsten Tages zurechtlegen. Erholungspausen sind in der Regel nicht eingeplant, und wenn sich - was recht häufig vorkommt - eine persönliche Beziehung zwischen dem Überläufer und dem Mann, der die Befragung leitet, entwickelt hat, kann man diesem Mann nicht ohne weiteres ein paar Tage freigeben und ihn durch einen anderen ersetzen.
»Washington ist zufrieden«, sagte Bailey zu ihm. »Mehr als zufrieden - hocherfreut. Alles, was er sagt, bestätigt sich. Die Einsatzpläne für Sowjetarmee, Marine und Luftwaffe, alles entspricht dem, was wir aus anderen Quellen oder aus der Satellitenaufklärung wissen. Genaue Angaben über Waffenbestände, den Stand der Einsatzbereitschaft, das Debakel in Afghanistan - im Pentagon ist man entzückt. Sie haben gute Arbeit geleistet, Joe. Sehr gute.«
»Es bleibt noch viel zu tun«, sagte Roth. »Es muß noch viel mehr kommen. Der Mann ist ein wandelndes Lexikon. Phänomenales Gedächtnis. Manchmal hat er Schwierigkeiten, wenn es um Details geht, aber meistens fällt es ihm früher oder später doch ein. Aber - «
»Aber was? Ich bitte Sie, Joe, er macht die Ergebnisse jahrelanger geduldiger KGB-Arbeit in Zentral- und Südamerika zunichte. Unsere Freunde da unten zerschlagen ein Netz nach dem anderen. Es ist alles bestens. Ich weiß, Sie sind müde. Aber bleiben Sie dran, Mann.«
Er berichtete Joe von der Andeutung, die der DCI über die Neubesetzung der Stelle des DDO gemacht hatte. Er war sonst alles andere als vertrauensselig, aber er hielt es nur für recht und billig, seinem Untergebenen dieselbe Aufmunterung zukommen zu lassen, die der DCI ihm gegeben hatte.
»Wenn das durchgeht, Joe, wird noch ein Posten frei, nämlich meiner. Und bei dessen Besetzung habe ich ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Ich werde Sie empfehlen, Joe. Das wollte ich Sie wissen lassen.«
Roth zeigt sich dankbar, aber nicht übermäßig begeistert. Es war offenbar nicht nur Müdigkeit. Noch etwas anderes machte ihm zu schaffen.
»Macht er Schwierigkeiten?« erkundigte sich Bailey. »Bekommt er alles, was er will? Braucht er weibliche Gesellschaft? Oder Sie? Sie sind hier von der Welt abgeschnitten. Und das schon seit einem Monat. So was läßt sich arrangieren.«
Er wußte, daß Roth mit seinen 39 Jahren geschieden war und allein lebte. Die Scheidungsrate in der CIA ist legendär. Das bringt der Beruf so mit sich, wie man in Langley sagt.
»Nein, das hab ich ihm angeboten. Er hat bloß den Kopf geschüttelt. Wir toben uns gemeinsam aus. Das hilft. Laufen durch die Wälder, bis wir kaum noch stehen können. Ich bin noch nie so fit gewesen. Er ist älter als ich, aber besser in Form. Das ist eins von den Dingen, die mir Sorgen machen, Calvin. Er hat keine Fehler, keine Schwächen. Wenn er sich ab und zu betrinken würde, rumhuren oder den Moralischen kriegen, wenn er an seine Heimat denkt, wenn er ab und zu mal ausrasten -«
»Haben Sie versucht, ihn zu provozieren?« fragte Bailey.
Einen Überläufer so lange zu provozieren, bis er in Wut gerät, bis sich die aufgestauten Gefühle entladen, konnte manchmal als Auslöser, als Therapie wirken. Zumindest nach der Theorie des hauseigenen Psychiaters.
»Ja. Ich habe ihn als Gesinnungslump beschimpft, als Verräter. Nichts. Er hat mich einfach in Grund und Boden gelaufen und mich ausgelacht. Dann hat er mit der >Arbeit< weitergemacht, wie er es nennt. Und weiter KGB-Agenten in aller Welt verraten. Er ist ein absoluter Profi.«
»Deswegen ist er ja der beste, den wir je hatten, Joe. Machen Sie es jetzt nicht mies. Seien Sie dankbar - «
»Calvin, das ist es nicht, was mich so an ihm stört. Als Mensch ist er mir sympathisch. Ich respektiere ihn sogar. Ich hätte mir nie gedacht, daß ich mal einen Überläufer respektieren würde. Aber es gibt da noch was anderes. Er verheimlicht etwas.«
Calvin Bailey wurde sehr ruhig.
»Aus den Lügendetektor-Tests geht das aber nicht hervor.«
»Nein, das stimmt. Deswegen weiß ich auch nicht, ob ich recht habe. Es ist nur so ein Gefühl. Irgend etwas verschweigt er.«
Bailey beugte sich vor und sah Roth ins Gesicht. Sehr, sehr viel hing von der Frage ab, die er jetzt stellen wollte.
»Joe, besteht nach Ihrer wohlbedachten Ansicht auch nur die geringste Möglichkeit, daß er trotz aller Tests unecht ist, daß er uns vom KGB untergeschoben wurde?«
Roth seufzte. Endlich war zur Sprache gekommen, was ihn die ganze Zeit beunruhigt hatte.
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, aber ich weiß es nicht. Meinem Gefühl nach bleibt ein Rest von Zweifel - vielleicht zehn Prozent. So ein Gefühl in der Magengrube, daß er mit etwas hinter dem Berg hält. Aber ich weiß nicht, warum - vorausgesetzt, ich habe recht.«
»Dann finden Sie es raus, Joe. Finden Sie es raus«, sagte Calvin Bailey. Was er nicht zu sagen brauchte, weil es sich von selbst verstand: Wenn mit Oberst Pjotr Orlow tatsächlich etwas nicht stimmte, waren mit großer Wahrscheinlichkeit zwei Karrieren innerhalb des CIA im Eimer. Er stand auf.
»Ich persönlich glaube, das ist Unsinn, Joe. Aber tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
Roth fand Orlow in seinem Quartier; er lag auf einem Sofa und hörte seine Lieblingsmusik. Obwohl er praktisch ein Häftling war, war die Ranch wie ein guter Country Club ausgerüstet. Abgesehen von den Waldläufen, bei denen sie stets von vier der jungen Athleten aus Quantico flankiert waren, standen ihm der Gymnastikraum, die Sauna und der Swimmingpool zur Verfügung, außerdem ein exzellenter Küchenchef und eine wohlbestückte Bar, von der er jedoch nur selten Gebrauch machte.
Schon bald nach seiner Ankunft hatte er gestanden, daß er eine Vorliebe für die Popsänger der sechziger und frühen siebziger Jahre hatte. Roth hatte sich daran gewöhnt, daß jedesmal wenn er den Russen aufsuchte, Simon and Garfunkel, die Seekers oder die honigsüße Stimme Elvis Presleys aus dem Kassettenrecorder kamen.
An diesem Abend klang die klare, kindliche Stimme von Mary Hopkin durch den Raum. Es war der Song, der sie berühmt gemacht hatte, ihr einziger Hit. Orlow sprang mit einem erfreuten Grinsen vom Sofa auf. Er zeigte auf den Recorder.
»Gefällt es Ihnen? Hören Sie -«
Roth hörte zu.
»Those were the days, my friend, we thought they’d never end-«
»Ja, sehr nett«, sagte Roth, der Jazz bevorzugte.
»Wissen Sie, was das ist?«
»Das war doch diese kleine Engländerin, oder?« sagte Roth.
»Nein, nein. Nicht die Sängerin, die Melodie. Sie denken, es ist ein englischer Song, stimmt’s? Vielleicht von den Beatles.«
»Ja, schon möglich«, sagte Roth, der jetzt auch lächelte.
»Falsch«, triumphierte Orlow. »Das ist ein altes russisches Lied. Dorogoi dlinnoju da notschkoi lunnoju. In einer mondhellen Nacht an einer langen Straße. Wußten Sie das nicht?«
»Nein, wirklich nicht.«
Das muntere Liedchen ging zu Ende, und Orlow schaltete das Gerät ab.
»Sollen wir noch ein bißchen reden?« fragte er.
»Nein«, sagte Roth. »Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Ich gehe jetzt in die Falle. Es war ein langer Tag. Übrigens, wir fliegen demnächst nach England zurück. Die Tommies sollen auch Gelegenheit kriegen, mit Ihnen zu reden. Einverstanden?«
Orlow runzelte die Stirn.
»Ich habe mich bereit erklärt, hierher zu kommen, nur hierher.«
»Keine Sorge, Peter. Wir werden ein paar Tage auf einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt untergebracht. Genaugenommen bleiben wir ständig auf amerikanischem Hoheitsgebiet. Ich komme mit, um Sie vor den großen bösen Briten zu schützen.«
Orlow lächelte nicht über den Scherz.
»Und Sie, gehen Sie auch ins Bett?« fragte Roth.
»Ich bleib noch ein bißchen auf. Lesen, Musik hören«, sagte der Russe.
Das Licht in Orlows Zimmer brannte dann noch bis halb zwei. Als das Mordkommando des KGB zuschlug, war es ein paar Minuten vor drei.
Wie man Orlow hinterher sagte, hatten die Eindringlinge zwei Wachen am Zaun mit einer starken Armbrust erledigt und waren unbemerkt über den Rasen hinter dem Haus geschlichen und durch den Küchentrakt ins Haus gelangt.
Das erste, was Roth und Orlow im ersten Stock hörten, war eine Salve aus einer Maschinenpistole im Erdgeschoß und dann Fußgetrappel, das die Treppe heraufkam. Orlow erwachte wie eine Katze, sprang aus dem Bett und war in drei Sekunden an der Tür. Er riß sie auf und sah aus dem Augenwinkel, wie die Nachtwache, einer der Männer aus Quantico, zur Haupttreppe rannte. Ein Maskierter in einem hautengen schwarzen Anzug, der schon halb die Treppe herauf war, feuerte kurz. Der Amerikaner wurde in die Brust getroffen. Er sackte blutüberströmt gegen das Geländer. Orlow schlug seine Tür zu und lief zum Schlafzimmer.
Er wußte, daß die Fenster sich nicht öffnen ließen; da war kein Entkommen. Und er war auch nicht bewaffnet. Er erreichte das Schlafzimmer, als der Mann in Schwarz vom Gang her durch die Wohnungstür gestürmt kam, verfolgt von einem Amerikaner. Bevor Orlow sie zuschlug, sah er noch, wie der KGB-Killer sich umdrehte und dem Amerikaner hinter ihm eine Salve verpaßte. Dadurch hatte Orlow noch Zeit, die Tür zu schließen und den Riegel vorzuschieben.
Aber es war nur ein kurzer Aufschub. Sekunden später wurde das Schloß zerschossen, und die Tür flog auf. In dem schwachen Licht, das aus dem Korridor ins Wohnzimmer fiel, sah Orlow, wie der KGB-Mann seine leere Maschinenpistole wegwarf und eine Makarov 9 mm Automatik aus dem Gürtel zog. Das Gesicht hinter der Maske konnte er nicht sehen, aber er verstand das russische Wort, und die Verachtung, mit der es ausgesprochen wurde.
Die schwarze Gestalt richtete die Makarov mit beiden Händen auf Orlows Gesicht und zischte: Predatel. Verräter.
Auf dem Nachttisch stand ein schwerer Aschenbecher aus geschliffenem Glas. Orlow benutzte ihn nie, weil er im Gegensatz zu den meisten Russen Nichtraucher war. Aber er stand immer noch da. Mit einer letzten Geste der Auflehnung packte er ihn und schleuderte ihn mit aller Kraft nach dem Kopf des russischen Killers. Dabei schrie er zurück: Padlo. Scheißkerl.
Der Mann in Schwarz wich dem durch die Luft sausenden schweren Gegenstand aus. Das kostete ihn einen Sekundenbruchteil. In diesem Augenblick trat der Leiter des Quantico-Sicherheitsdiensts ins Wohnzimmer und feuerte zweimal mit seinem schweren Colt .44 Magnum auf den Rücken der schwarzen Gestalt in der Schlafzimmertür. Der Russe wurde nach vorn geschleudert, und das Blut aus seiner aufgerissenen Brust bespritzte Teppich und Bett. Orlow machte einen Schritt nach vorne und trat dem Fallenden die Waffe aus der Hand, aber das war nicht mehr nötig. Keiner, der sich zwei Magnum-Geschossen in den Weg gestellt hat, kämpft weiter.
Kroll, der Mann, der geschossen hatte, ging durchs Wohnzimmer zur Schlafzimmertür. Er war bleich vor Wut und keuchte.
»Alles in Ordnung?« fragte er. Orlow nickte. »Irgendwer hat Mist gebaut«, keuchte der Amerikaner. »Es waren zwei. Zwei von meinen Männern sind erledigt, womöglich draußen auch noch welche.«
Joe Roth kam herein, im Schlafanzug.
»Mein Gott, Peter, tut mir leid. Wir müssen hier weg. Gleich. So schnell wie möglich.«
»Aber wohin?« wollte Orlow wissen. »Sie haben doch gesagt, hier sind wir sicher.« Er war bleich, aber gefaßt.
»Schon, aber anscheinend nicht sicher genug. Nicht mehr. Warum, müssen wir erst noch rauskriegen. Später. Ziehen Sie sich an. Packen Sie Ihre Sachen. Kroll, Sie bleiben bei ihm.«
Nur zwanzig Meilen von der Ranch war ein Armee-Stützpunkt. Langley regelte alles mit dem dortigen Kommandeur. Zwei Stunden später hatten Roth, Orlow und die übriggebliebenen Mitglieder des Quantico-Teams eine ganze Etage im Wohnblock für unverheiratete Soldaten belegt. Militärpolizei umstellte das Gebäude. Roth lehnte es sogar ab, auf der Straße hinzufahren; sie nahmen einen Hubschrauber, der direkt auf dem Rasen beim Offizierskasino landete und alle aufweckte.
Es war nur ein provisorisches Quartier. Noch ehe es Abend wurde, waren sie in einen anderen geheimen Stützpunkt der CIA in Kentucky umgezogen, der noch besser gesichert war.
Während Roth und Orlow mit ihrer Begleitung sich auf dem Armee-Stützpunkt befanden, fuhr Calvin Bailey erneut zur Ranch hinaus. Er wollte einen vollständigen Bericht. Er hatte schon mit Roth telefoniert, um sich dessen Version von den Ereignissen erzählen zu lassen. Er sprach zuerst mit Kroll, aber der Mann, auf dessen Aussagen es ihm vor allem ankam, war der >Russe< mit der schwarzen Maske, der Orlow auf kürzeste Entfernung gegenübergestanden hatte.
Der junge Offizier der Green Berets rieb sich das Handgelenk - er hatte einen Bluterguß an der Stelle, wo Orlow ihn mit dem Fuß getroffen hatte. Er hatte sich längst das falsche Blut abgewaschen, den schwarzen Turnanzug mit den zwei Löchern im Oberteil ausgezogen und das Geschirr abgenommen, das die winzigen Sprengladungen und die Beutel mit dem täuschend echten Blut enthalten hatte, das bis zum Bett gespritzt war.
»Was meinen Sie?« fragte Bailey.
»Er ist echt«, sagte der Russisch sprechende Offizier. »Außer es ist ihm egal, ob er lebt oder stirbt. Und das bezweifle ich. Die meisten hängen am Leben.«
»Er hat also keinen Verdacht geschöpft?« hakte Bailey nach.
»Nein, Sir. Ich hab’s in seinen Augen gesehen. Er hat geglaubt, er muß sterben. Aber er hat sich bis zum letzten Moment gewehrt. Ein toller Bursche.«
»Andere Möglichkeiten?« fragte Bailey. Der Offizier zuckte die Achseln.
»Nur eine. Wenn er kein echter Überläufer ist und dachte, er werde von seinen eigenen Leuten liquidiert, hätte er irgend etwas geschrien, um sich zu retten. Er hat es nicht getan, und wenn ihm irgendwas am Leben liegt, würde ihn das zum tapfersten Mann machen, den ich je kennengelernt habe.«
»Ich glaube«, sagte Bailey später am Telefon zu Roth, »daß wir unsere Antwort haben. Er ist okay, und das ist amtlich. Sehen Sie zu, daß er sich an einen Namen erinnert - den Briten zuliebe. Sie fliegen nächsten Dienstag hinüber, mit einem Reisejet für militärisches Führungspersonal. Nach Alconbury.«
Zwei Tage lang ging Roth mit Orlow in ihrem neuen Quartier noch einmal die spärlichen Details durch, die der Russe bereits aus seiner Zeit im Illegalendirektorat über eingeschleuste sowjetische Agenten in Großbritannien verraten hatte. Da er auf Zentral- und Südamerika spezialisiert gewesen war, hatte er sich nicht vorrangig um Großbritannien gekümmert. Aber er zermarterte sich trotzdem das Gehirn. Dennoch erinnerte er sich nach wie vor nur an Decknamen. Am Ende des zweiten Tages fiel ihm dann doch etwas ein.
Ein Beamter im britischen Verteidigungsministerium in Whitehall. Das Geld sei immer auf ein Konto des Mannes bei der Midland Bank in Croydon High Street eingezahlt worden.
»Viel ist das ja nicht«, sagte der Mann vom Security Service (MI-5), als man ihm die Neuigkeit überbrachte. Er saß im Büro von Timothy Edwards in der Zentrale seiner Schwesterorganisation SIS. »Vielleicht ist er längst umgezogen. Vielleicht hat er bei der Bank einen falschen Namen angegeben. Aber wir gehen der Sache nach.«
Er fuhr zurück in die Curzon Street in Mayfair und ließ die Maschinerie anlaufen. In Großbritannien gibt es kein absolutes Bankgeheimnis, aber die Banken geben nicht an jedermann Auskünfte über ihre Kunden. Einer Institution müssen sie jedoch von Rechts wegen Auskunft geben: der Finanzverwaltung.
Die Finanzverwaltung erklärte sich zur Amtshilfe bereit, und der Zweigstellenleiter der Midland Bank in Croydon High Street, einem südlichen Vorort von London, wurde vertraulich befragt. Er war neu auf diesem Posten, sein Computer dagegen nicht.
Ein Mitarbeiter des Security Service, der den echten Finanzbeamten begleitete, übernahm die Gesprächsführung. Er hatte eine Liste sämtlicher Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und dessen zahlreicher Außenstellen aus den letzten zehn Jahren. Die Suche führte erstaunlich schnell zum Erfolg. Nur ein einziger Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums hatte ein Konto bei der Midland in Croydon High Street. Die Unterlagen über die Konten wurden angefordert. Der Mann wohnte immer noch dort und hatte zwei Konten, ein Girokonto und ein Depositenkonto mit höherer Verzinsung.
Im Laufe der Jahre waren insgesamt 20.000 Pfund Sterling auf sein Depositenkonto eingezahlt worden, ziemlich regelmäßig und immer von ihm selbst und in bar. Sein Name war Anthony Milton-Rice.
An der Besprechung in Whitehall an diesem Abend nahmen der Direktor und der Stellvertretende Generaldirektor von MI- 5 sowie der für die Special Branch (Staatsschutzabteilung) zuständige Vizepräsident der Groß-Londoner Polizei, der Metropolitan Police, teil. Der MI-5 ist in Großbritannien nicht zu Verhaftungen befugt. Das ist ausschließlich Sache der Polizei. Wenn der Security Service jemanden >hochnehmen< will, überläßt er diese Ehre der Special Branch.
Geleitet wurde die Konferenz vom Vorsitzenden des Koordinierungsstabes der Geheimdienste. Er begann mit der Befragung.
»Wer genau ist dieser Mister Milton-Rice?«
Der stellvertretende Direktor von MI-5 blickte auf seine Notizen.
»Beamter der mittleren Laufbahn beim Beschaffungsamt.«
»Also eher in untergeordneter Position?«
»Ja, aber durchaus vertrauliche Arbeit. Waffensysteme, Zugang zu Bewertungen neuer Rüstungsprojekte.«
»Mhm«, machte der Vorsitzende. »Aber was schlagen Sie dann vor?«
»Der springende Punkt ist, Tony«, sagte der Generaldirektor, »daß wir sehr wenig gegen ihn in der Hand haben. Unerklärliche Einzahlungen auf sein Konto über etliche Jahre hinweg. Das reicht noch nicht mal für eine Verhaftung, geschweige denn eine Verurteilung. Er könnte behaupten, daß er auf Pferde wettet, ständig auf dem Rennplatz ist, auf diese Weise zu seinem Bargeld kommt. Natürlich könnte es sein, daß er ein Geständnis ablegt. Aber darauf können wir nicht bauen.«
Der Polizeibeamte nickte zustimmend. Ohne Geständnis würde es ihm kaum gelingen, die Staatsanwaltschaft zur Eröffnung eines Verfahrens zu bewegen. Und er bezweifelte, daß der Mann, der Milton-Rice verraten hatte, wer immer es sein mochte, jemals als Zeuge vor Gericht erscheinen würde.
»Wir möchten ihn zunächst beschatten«, sagte der Generaldirektor. »Rund um die Uhr. Wenn er auch nur einmal mit den Russen Kontakt aufnimmt, ist er dran, mit oder ohne Geständnis.«
Man wurde sich einig. Die >Aufpasser<, jenes Eliteteam von MI-5-Agenten, die, zumindest, wenn sie im Inland observieren, bei allen westlichen Geheimdiensten als die besten Beschatter der Welt gelten, erhielten den Auftrag, Anthony Milton-Rice von dem Augenblick an, da er sich am nächsten Morgen dem Verteidigungsministerium näherte, jeden Tag 24 Stunden lang ebenso unauffällig wie lückenlos zu überwachen.
Anthony Milton-Rice hatte, wie so viele Menschen mit regelmäßiger Arbeit, regelmäßige Gewohnheiten. An Werktagen verließ er sein Haus in Addiscombe pünktlich um zehn vor acht und ging zu Fuß die halbe Meile bis zum Bahnhof East Croydon. Nur wenn es stark regnete, nahm der unverheiratete Beamte den Bus. Er stieg jeden Tag in denselben Pendlerzug ein, wies seine Zeitkarte vor und fuhr nach London, wo er am Victoria-Bahnhof ausstieg. Mit dem Bus legte er die kurze Strecke durch die Victoria Street zum Parliament Square zurück. Von dort ging er zu Fuß das letzte Stück zu seinem Ministerium in Whitehall.
Am Morgen nach der seinetwegen abgehaltenen Konferenz tat er genau dies. Er sah nicht, wie die Gruppe von Jugendlichen in Norwood Junction einstieg. Er bemerkte sie erst, als sie in seinen dicht besetzten Großraumwagen gestürmt kamen. Frauen kreischten und Männer schrien empört, als die Teenager in einer Orgie der Gewalt, die als >Steaming< bezeichnet wird, durch den Waggon ausschwärmten, den Frauen Handtaschen und Schmuck entrissen, von Männern mit vorgehaltenem Messer die Herausgabe ihrer Brieftaschen verlangten und jeden bedrohten, der sich weigerte oder gar Widerstand leisten wollte.
Als der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr, sprangen die rund zwei Dutzend jungen Schlägertypen, immer noch ihre Wut auf die Welt hinausschreiend, aus dem Zug; sie flankten über die Absperrungen, zerstoben in alle Richtungen und verschwanden in den Straßen von Crystal Palace. Zurück blieben hysterische Frauen, entnervte Männer und frustrierte Bahnpolizisten. Verhaftet wurde niemand; es war alles viel zu schnell gegangen.
Während die Bahnpolizei die Aussagen der Reisenden aufnahm, konnte der Zug nicht weiterfahren, was zu erheblichen Verspätungen bei nachfolgenden Zügen führte. Als ein Polizist einen Fahrgast in einem hellgrauen Regenmantel, der in einer Ecke auf seine Schulter gelehnt döste, leicht anstieß, sackte der Mann langsam nach vorne auf den Boden. Wieder ertönten Schreie, als das Blut aus der Stilettwunde in der Herzgegend unter der zusammengesunkenen Gestalt hervorsickerte. Mr. Anthony Milton-Rice war sehr tot.
Ivan’s Café - ein passender Ort für ein Treffen mit einem Russen - war in der Crondall Street in Shoreditch, und Sam - McCready kam wie immer als zweiter, obwohl er als erster draußen vor dem Lokal gewesen war. Der Grund dafür war, daß bei Keepsake die Wahrscheinlichkeit, daß er beschattet wurde, größer war als bei ihm selbst. Er blieb deshalb immer eine halbe Stunde in seinem Auto sitzen, sah zu, wie der Russe >den Treff anlief<, und wartete dann noch eine Viertelstunde, um festzustellen, ob der britische Agent aus der sowjetischen Botschaft neuerdings einen ständigen Begleiter hatte.
Als McCready in das Lokal ging, ließ er sich an der Theke eine Tasse Tee geben und ging dann langsam zu der Wand hinüber, an der nebeneinander zwei Tische standen. Keepsake saß an dem in der Ecke und las eifrig im Sporting Life. McCready entfaltete seinen Evening Standard und begann zu lesen.
»Na, wie war der gute General Drosdow?« fragte er leise, so daß seine Worte im allgemeinen Stimmengewirr und im Zischen der Teemaschine untergingen.
»Liebenswürdig und rätselhaft«, sagte der Russe, während er die Form der Pferde im 15.30-Uhr-Rennen in Sandown prüfte. »Ich fürchte, er hat uns auf den Zahn fühlen wollen. Ich werde mehr wissen, falls die K-Linie sich zu einem Besuch entschließt oder wenn mein eigener K-Linien-Mann überaktiv wird.«
Die >K-Linie< ist die interne Abteilung für Spionageabwehr und Sicherheit des KGB, die weniger mit Spionage als damit befaßt ist, andere KGB-Leute zu überprüfen und nach undichten Stellen zu suchen.
»Haben Sie schon mal von einem Mann namens Anthony Milton-Rice gehört?« fragte McCready.
»Nein. Noch nie. Warum?«
»Sie haben ihn also nicht von Ihrer Residentur aus geführt? Beamter im Verteidigungsministerium?«
»Nie gehört. Nie Material von ihm in der Hand gehabt.«
»Der ist jetzt jedenfalls tot. Wir können ihn nicht mehr fragen, wer ihn geführt hat. Falls überhaupt. Wäre es denkbar, daß er vom Illegalendirektorat direkt aus Moskau geführt wurde?«
»Falls er tatsächlich für uns gearbeitet hat, ist das die einzige Erklärung«, murmelte der Russe. »Er hat nie für uns gearbeitet. Jedenfalls nicht über die Londoner Station. Wie gesagt, wir haben nie solches Material bearbeitet. Er muß über einen hier außerhalb der Botschaft sitzenden Führungsoffizier Verbindung mit Moskau gehalten haben. Warum ist er gestorben?«
McCready seufzte.
»Ich weiß es nicht.«
Aber falls es nicht ein seltsamer Zufall gewesen war, hatte das jemand planen müssen, soviel stand fest. Jemand, der den Tageslauf des Beamten kannte, der den Schlägern gesagt hatte, mit welchem Zug er fuhr, wie er aussah - und der sie bezahlte. Vielleicht hatte Milton-Rice ja überhaupt nicht für die Russen gearbeitet. Aber warum dann die Denunziation? Und woher das viele Geld auf dem Konto? Oder vielleicht hatte Milton-Rice doch für Moskau spioniert, aber über einen Keepsake nicht bekannten Verbindungsmann, der seinerseits direkt dem Illegalendirektorat in Moskau unterstand. Und General Drosdow war eben erst in London gewesen. Und er war für die Illegalen zuständig.
»Jemand hat ihn verraten«, sagte McCready. »Bei uns. Und dann war er tot.«
»Wer hat ihn denunziert?« erkundigte sich Keepsake. Er rührte seinen Tee um, obwohl er nicht daran dachte, das süße, milchige Gebräu zu trinken.
»Oberst Pjotr Orlow«, sagte McCready leise.
»Ach«, murmelte Keepsake. »Da hab ich ja was für Sie. Pjotr Alexandrowitsch Orlow ist ein loyaler, pflichtbewußter KGB- Offizier. Als Überläufer ist er so echt wie ein Dreidollarschein. Er wurde als Desinformationsagent eingeschleust, und er ist gut vorbereitet und ein sehr guter Mann.«
Also das, dachte McCready, wird uns noch Kopfzerbrechen machen.