6
Sonnabend
Siegfried lag am Waldrand auf dem Bauch und betrachtete die dunklen Konturen des Waldes, 300 Meter weit entfernt, wo das Territorium der DDR begann. McCready lag neben ihm.
Fünf Jahre vorher hatte Siegfried, ebenfalls in der Dunkelheit, von einer besonders hohen Kiefer auf der östlichen Seite aus seinen Schleichpfad an einem schimmernden weißen Felsen an einer Hügelflanke auf der westlichen Seite ausgerichtet. Sein Problem war jetzt: Er hatte nicht ahnen können, daß er den Weg jemals in der anderen Richtung nehmen müßte. Jetzt war der Felsen hoch über ihm, von den Bäumen verdeckt. Zu sehen war er nur aus einer Position weiter draußen im Niemandsland. Er schätzte den Winkel ab, so gut er konnte, kroch über die letzten neun Meter bundesdeutschen Bodens bis zum Maschendrahtzaun und begann leise mit einer Drahtschere daran zu arbeiten.
Als Siegfried das Loch fertig hatte, sah McCready, wie der junge Mann einen Arm hob und ihm winkte. Nun kroch auch McCready aus der Deckung auf den Zaun zu. Er hatte die Wartezeit damit verbracht, die DDR-Wachttürme zu beobachten, um zu sehen, wie weit die Suchscheinwerfer reichten. Siegfried hatte die Stelle gut ausgesucht - auf halbem Weg zwischen zwei Wachttürmen. Ein günstiger Umstand kam noch hinzu: Während des Sommers waren mehrere Äste der Fichten ein, zwei Meter weit auf das Minenfeld hinausgewachsen; zumindest einer der Suchscheinwerfer war dadurch teilweise blockiert.
Der andere Suchscheinwerfer war in seiner Wirkung nicht behindert, aber der Mann, der ihn bediente, mußte müde oder gelangweilt sein, denn der Scheinwerfer flammte oft minutenlang nicht auf. Wenn er sich dann wieder meldete, leuchtete er jedesmal zuerst in die andere Richtung. Dann schwenkte er auf sie zu, wieder zurück und ging aus. Wenn der Mann, der ihn bediente, das so beibehielt, hatten sie ein paar Sekunden Vorwarnzeit gewonnen.
Siegfried machte eine Kopfbewegung und kroch durch das Loch im Zaun. McCready folgte ihm und zog seinen Jutesack hinter sich her. Der Deutsche drehte sich um und bog die durchgeschnittenen Eisenmaschen wieder zurecht. Das Loch war nur aus nächster Nähe zu bemerken, und die Grenzpolizisten überquerten nie den Todesstreifen, um den Zaun zu kontrollieren, es sei denn, sie hätten eine Beschädigung bemerkt. Auch sie hatten für die Minenfelder nicht viel übrig.
Es war verlockend, den achtzig Meter breiten, gepflügten Streifen, der jetzt mit dem hochwachsenden Kraut von Rüben, mit Disteln und Brennesseln bewachsen war, rennend zu überqueren. Aber es war möglich, daß über den Boden Stolperdrähte, verbunden mit Alarmvorrichtungen, gespannt waren. Kriechen war sicherer. Sie begannen zu robben. Auf der ersten Hälfte des Weges wurden sie durch Bäume vor dem Scheinwerfer von links gedeckt, aber jetzt flammte der rechts von ihnen auf. Die beiden Männer in ihren grünen Tarnkitteln erstarrten und drückten die Gesichter auf den Boden. Beide hatten sich Gesicht und Hände geschwärzt, Siegfried mit Schuhcreme, McCready mit verbranntem Kork, der sich leichter abwaschen ließ, wenn er drüben auf der anderen Seite war.
Der bleiche Lichtkegel des Scheinwerfers breitete sich über sie, verharrte, schwenkte zurück und erlosch. Acht Meter weiter entdeckte Siegfried einen Stolperdraht und machte McCready ein Zeichen, um ihn herumzukriechen. Nach weiteren dreißig Metern erreichten sie das Minenfeld. Hier standen die Disteln und Grashalme brusthoch. Niemand wagte es, hier zu pflügen.
Der Deutsche blickte zurück. Hoch über den Bäumen konnte McCready den weißen Felsen erkennen: Ein fahler Fleck hob sich vor dem dunklen Fichtenwald ab. Siegfried drehte den Kopf und schätzte die relative Position der Riesenkiefer gegen den Felsen ab. Er war sieben Meter rechts von seinem Weg. Wieder begann er zu kriechen, den Rand des Minenfelds entlang. Dann stoppte er und tastete vorsichtig zwischen den hohen Grashalmen umher. Nach zwei Minuten hörte McCready ein triumphierendes Zischen aus Siegfrieds Mund. Er hielt zwischen Zeigefinger und Daumen eine dünne Angelschnur. Vorsichtig zog er daran. Wenn sie am anderen Ende nicht festgemacht war, mußte die Mission abgebrochen werden. Aber die Schnur spannte sich und blieb straff. »Folgen Sie der Schnur«, wisperte Siegfried. »Sie führt Sie durch das Minenfeld zu der Vertiefung unter dem Draht. Der Pfad ist nur einen guten halben Meter breit. Wann kommen Sie zurück?«
»In vierundzwanzig Stunden«, sagte McCready. »Oder in achtundvierzig. Wenn ich dann noch nicht da bin - vergiß es. Dann komme ich nicht mehr. Ich werde mit meiner Minitaschenlampe von dem großen Baum aus blinken, bevor ich mich auf den Weg mache. Sorg dafür, daß ich durch den Zaun komme.«
Er robbte in das Minenfeld, von den hohen Gräsern nicht ganz abgeschirmt. Siegfried ließ den Suchscheinwerfer ein letztes Mal über sich hinwegstreichen und kroch dann in Richtung Westen zurück.
McCready robbte durch das verminte Feld, dem Nylonfaden folgend. Hin und wieder prüfte er, ob die Schnur noch straff gespannt war. Er wußte, daß er die Minen nicht würde sehen können. Hier gab es keine großen Tellerminen, die einen Lastwagen in die Luft schleudern konnten. Hier wurden kleine Tretminen aus Kunststoff verwendet, nicht aufspürbar für Metalldetektoren, mit denen es DDR-Flüchtlinge schon vergebens versucht hatten. Die Minen waren vergraben und reagierten auf Druck. Sie explodierten nicht, wenn ein Kaninchen oder ein Fuchs darüber weghuschte, wohl aber, wenn ein Mensch darauf trat. In vielen Fällen führten sie nicht zu einem raschen Tod, sondern der schwer verletzte Flüchtling schrie die ganze Nacht hindurch vor Schmerzen, bis nach Sonnenaufgang die Vopos mit Führern kamen, um die Leiche wegzuschaffen.
McCready sah vor sich die Rollen aus rasiermesserscharfem Draht, die das Ende des Minenfeld markierten. Die Angelschnur leitete ihn zu einer Vertiefung, die unter dem Drahtverhau durchführte. Er drehte sich auf den Rücken und schob sich mit den Fersen vorwärts. Zentimeter um Zentimeter rutschte er unter den Drahtrollen durch.
Acht Meter mußte er sich darunter durcharbeiten. Als er auf der östlichen Seite den Drahtverhau hinter sich hatte, fand er die Nylonschnur an einem kleinen Pflock befestigt, der gerade noch in der Erde steckte. Wenn er noch einmal an der Schnur gezogen hätte, hätte er den Pflock aus dem Boden gerissen, und das ganze Unternehmen wäre gescheitert. Er steckte den Pflock wieder fest und tarnte ihn mit einer dicken Schicht Kiefernnadeln, merkte sich die Stelle direkt vor der riesigen Kiefer, orientierte sich an seinem Kompaß und kroch weiter.
Er kroch in einem Winkel von 90 Grad davon, bis er zu einem Feldweg kam. Hier zog er seinen Kittel aus, rollte ihn um den Kompaß zu einem Bündel zusammen und versteckte alles zehn Meter tief im Wald unter einem Haufen Kiefernzweige. Am Rand des Feldwegs brach er oberhalb seines Kopfes einen kleinen Ast halb ab, so daß er nach unten hing. Außer ihm würde niemand etwas davon bemerken.
Auf dem Rückweg mußte er den Feldweg, den herabhängenden Ast und den Kittel mit dem Kompaß finden. Ein Winkel von 270 Grad würde ihn zu der riesigen Kiefer zurückführen. Er ging davon, in östlicher Richtung. Im Gehen merkte er sich als Markierungen umgestürzte Bäume, Haufen zersägter Baumstämme, Biegungen und Krümmungen des Weges. Nach anderthalb Kilometern stieß er auf eine Landstraße und sah ein Stück weiter vorne den Kirchturm der lutherischen Kirche des Dorfes Ellrich.
Er umging die Ortschaft, wie ihm eingeschärft worden war, und marschierte über abgeerntete Maisfelder, bis er nach einigen Kilometern die Straße nach Nordhausen erreichte. Es war genau fünf Uhr morgens. Er marschierte am Straßenrand entlang, bereit, sich in den Graben zu werfen, sollte sich aus einer der beiden Richtungen ein Fahrzeug nähern. Weiter im Süden, so hoffte er, würden seine abgetragene Matrosenjacke, die Kordsamthose, die Stiefel und die Schirmmütze, wie sie so viele Landarbeiter in der DDR trugen, kein Aufsehen erregen. Hier in der Gegend aber lebten so wenige Menschen, daß sicher jeder jeden kannte. Er hatte kein Verlangen, gefragt zu werden, wohin er unterwegs, geschweige denn, woher er gekommen sei. Hinter ihm gab es nichts, woher er gekommen sein konnte, außer dem Dorf Ellrich und der Grenze.
Am Ortseingang von Nordhausen kam ihm das Glück zu Hilfe. Hinter dem niedrigen Lattenzaun vor einem Haus, in dem kein Licht brannte, lehnte ein Fahrrad an einem Baum. Er wog das Risiko, als Dieb erwischt zu werden, gegen den Vorteil ab, mit dem Rad viel schneller voranzukommen als zu Fuß. Wenn das Verschwinden des Fahrrades in der nächsten halben Stunde nicht bemerkt wurde, lohnte sich das Risiko. Er griff es sich, schob es fünfzig Meter weit, stieg dann auf und fuhr zum Bahnhof. Es war fünf vor sechs. Der erste Zug nach Erfurt sollte in einer Viertelstunde von hier abgehen.
Auf dem Bahnsteig warteten mehrere Dutzend Arbeiter auf den Zug nach Süden. Er kaufte sich eine Fahrkarte, und bald darauf lief der Zug ein, gezogen von einer altmodischen Dampflok, aber pünktlich. Das war erfreulich für jemanden, der den unzuverlässigen Pendlerverkehr von British Rail gewohnt war. Er hob sein Fahrrad in den Gepäckwagen und suchte sich einen Platz auf den hölzernen Sitzen. Der Zug hielt in Sondershausen, Greussen, und Straußfurt, ehe er um 6.41 Uhr in den Erfurter Bahnhof einlief. McCready holte das Fahrrad aus dem Gepäckwagen und radelte ostwärts zum Stadtrand, von wo aus die Staatsstraße 7 nach Weimar führt.
Kurz nach halb sieben, einige Kilometer östlich von Erfurt, näherte sich ihm von hinten ein Traktor. Er zog einen flachen Anhänger, und am Steuer saß ein alter Mann. Er hatte Zuckerrüben nach Erfurt gebracht und war jetzt auf der Rückfahrt. Der Traktor wurde langsamer und hielt dann an.
»Steig mal rauf«, rief der alte Mann, das Fauchen des altersschwachen Motors übertönend. McCready winkte ihm dankend zu, hob das Fahrrad auf den Anhänger und kletterte hinterher. Der Lärm des Motors verhinderte eine Unterhaltung, was McCready nur recht war, der zwar fließend deutsch sprach, aber nicht den thüringischen Akzent beherrschte. Doch der alte Bauer war vollauf zufrieden damit, an seiner leeren Pfeife zu ziehen und den Traktor zu lenken. Fünfzehn Kilometer vor Weimar sah McCready die Soldaten, mehrere Dutzend.
Sie schwärmten auf die Felder rechts und links von der Straße aus. Zwischen den Maisstengeln konnte er ihre behelmten Köpfe sehen. Nach rechts ging eine Zufahrt zu einem Bauernhof ab. Er blickte den Weg entlang, den Soldaten säumten, die jeweils zehn Meter voneinander entfernt standen und in Richtung Weimar blickten. Der Traktor wurde langsamer und hielt an der Straßensperre an. Ein Feldwebel brüllte zum Fahrer hinauf, er solle den Motor abstellen. Der alte Mann brüllte zurück: »Wenn ich das tue, springt er mir wahrscheinlich nicht mehr an. Schiebt ihr Jungs mich dann an?« Der Feldwebel überlegte, zuckte die Achseln und verlangte mit einer Handbewegung den Ausweis des Alten. Er sah ihn an, gab ihn zurück und trat auf den Anhänger zu, wo McCready saß.
»Ihren Ausweis«, sagte er. McCready reichte ihm seinen Personalausweis. Er war von der Weimarer Bezirksverwaltung auf den Namen Martin Kroll, Beruf landwirtschaftlicher Arbeiter, ausge stellt. Der Feldwebel, der aus dem mecklenburgischen Schwerin stammte, zog schnüffelnd die Luft ein.
»Was riecht da so?« fragte er.
»Mist«, sagte McCready.
Der Feldwebel rümpfte die Nase, reichte den Ausweis zurück und winkte den alten Mann weiter. Interessanter war jetzt der Lastwagen, der sich ihnen von Weimar her näherte, und er war angewiesen worden, seine Aufmerksamkeit auf einen Mann mit grauem Haar und rheinländischem Akzent zu konzentrieren, der versuchte, aus dem Ring hinauszukommen, nicht auf einen stinkenden Traktor, der von außen hinein wollte. Der Traktor fuhr weiter und bog dann, fünf Kilometer vor Weimar, auf einen Feldweg ab. McCready sprang vom Anhänger, zog das Fahrrad herunter, winkte dem alten Bauern dankend zu und radelte weiter in Richtung Weimar.
In der Stadt hielt er sich dicht am Randstein, um den Lastwagen auszuweichen, die Soldaten in der grüngrauen Uniform der Nationalen Volksarmee absetzten. Dazwischen war gar nicht selten das hellere Grün der Uniformen der Volkspolizei zu sehen. Weimarer Bürger versammelten sich in Gruppen neugierig an Straßenecken. Jemand äußerte die Vermutung, es handle sich um ein Manöver; niemand widersprach. Manöver waren für das Militär etwas Normales - allerdings nicht gerade im Zentrum einer Stadt.
McCready hätte sich gern einen Stadtplan gekauft, konnte aber nicht riskieren, gesehen zu werden, wie er sich darin vertiefte. Er war ja kein Tourist. Er hatte sich auf dem Flug nach
Hannover seine Route anhand der von der Abteilung Ostdeutschland in London entliehenen Karte eingeprägt. Er kam auf der Erfurter Straße in die Stadt, fuhr geradeaus in Richtung auf das alte Zentrum und sah weiter vorne die Vorderfront des Nationalmuseums emporragen. Er bog auf dem Kopfsteinpflaster nach links in die Heinrich-Heine-Straße ein und fuhr Richtung Karl-Marx-Platz. Dort stieg er ab und begann mit gesenktem Kopf das Rad zu schieben, während in beiden Richtungen Fahrzeuge der Volkspolizei in raschem Tempo vorbeifuhren.
Am Rathenauplatz angekommen, hielt er nach der Brennerstraße Ausschau, die er dann am anderen Ende des Platzes entdeckte. Wenn ihn die Erinnerung nicht trog, mußte die Bockstraße nach rechts abbiegen. So war es. Die Nummer 14 war ein altes Haus, seit langem reparaturbedürftig, wie beinahe alles in Erich Honeckers Paradies. Farbe und Gips blätterten und bröckelten ab, und die Namen auf den acht Schildchen waren verblichen. Aber er erkannte doch an der Wohnung Nr. 3 den Namen Neumann. Er schob das Fahrrad durch das Haustor, lehnte es an die Wand und ging die Treppe hinauf. Auf jeder Etage gab es zwei Wohnungen. Er nahm die Mütze ab, zog seine Jacke zurecht und drückte auf den Klingelknopf. Es war zehn vor neun.
Eine Zeitlang regte sich nichts. Nach zwei Minuten war endlich ein Schlurfen zu hören, und die Tür öffnete sich langsam. Fräulein Neumann war eine hochbetagte weißhaarige Dame in einem schwarzen Kleid, die sich auf zwei Gehstöcke stützte. Sie blickte zu ihm hinauf und sagte: »Sie wünschen?«
Er lächelte breit, als hätte er sie wiedererkannt.
»Ja, Sie sind es, Fräulein Neumann. Sie haben sich zwar verändert, aber auch nicht mehr als ich. Sie werden sich nicht an mich erinnern. Martin Kroll. Sie haben mich in der Volksschule unterrichtet, vor vierzig Jahren.«
Ihre hellblauen Augen hinter den goldgeränderten Brillengläsern musterten ihn mit einem ruhigen, festen Blick.
»Ich bin zufällig nach Weimar gekommen. Aus Berlin. Ich wohne dort. Und ich habe mich gefragt, ob Sie noch hier leben. Sie standen im Telefonbuch. Und so hab ich es eben probiert. Darf ich eintreten?«
Sie trat beiseite, und er ging an ihr vorbei. In der dunklen Diele roch es modrig. Sie humpelte ihm auf ihren arthritischen Beinen voran in ihr Wohnzimmer, dessen Fenster auf die Straße gingen. Er wartete, bis sie Platz genommen hatte, und setzte sich dann auf einen Stuhl.
»So, ich habe Sie vor Jahren in der alten Volksschule in der Heinrich-Heine-Straße unterrichtet. Wann war das?«
»Tja, wohl 1943 oder 1944. Wir waren ausgebombt. Aus Berlin. Ich wurde zusammen mit anderen Kindern hierher evakuiert. Es muß im Sommer 1943 gewesen sein. Ich war in einer Klasse zusammen mit. ach, die Namen, doch, ich erinnere mich an Bruno Morenz. Er war mein bester Kumpel.«
Sie blickte ihn eine Weile eindringlich an und zog sich dann an ihren Stöcken hoch. Er stand ebenfalls auf. Sie humpelte an ein Fenster und blickte hinunter auf die Straße. Ein mit Vopos besetzter Lastwagen rumpelte vorbei. Sie saßen aufrecht da, in den Halftern an ihren Gürteln die ungarischen AP9-Pistolen.
»Immer die Uniformen«, sagte sie leise, als spräche sie zu sich selbst. »Erst die Nazis, jetzt die Kommunisten. Immer die Uniformen und die Revolver. Erst die Gestapo, jetzt der SSD. O Deutschland, womit haben wir die beiden verdient?«
Sie wandte sich vom Fenster ab.
»Sie sind Engländer, nicht? Bitte setzen Sie sich doch wieder.«
McCready erkannte, daß sie trotz ihres hohen Alters geistig noch hellwach war.
»Wie kommen Sie denn auf die Idee?« fragte er ungehalten,
aber sie ließ sich von seinem gespielten Zorn nicht durcheinanderbringen.
»Aus dreierlei Gründen. Ich erinnere mich an jeden Jungen, den ich im und nach dem Krieg an dieser Schule unterrichtet habe, und ein Martin Kroll war nicht dabei. Und die Schule war nicht in der Heinrich-Heine-Straße. Heine war Jude, und die Nazis hatten seinen Namen von allen Straßen und Plätzen entfernt.«
McCready hätte sich am liebsten einen Tritt versetzt. Das hätte er wissen müssen.
»Wenn Sie schreien oder sonstwie Alarm schlagen«, sagte er ruhig, »tue ich Ihnen nichts. Aber sie werden mich holen und erschießen. Es liegt in Ihrer Hand.«
Sie humpelte zu ihrem Schaukelstuhl und setzte sich.
»1933 war ich Professorin an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Das jüngste Mitglied im Kollegium und die einzige Frau. Die Nazis kamen an die Macht. Ich sagte offen, daß ich sie verachtete. Vermutlich hatte ich großes Glück, sie hätten mich dafür in ein Lager schicken können. Aber sie waren nachsichtig und haben mich hierher versetzt, damit ich an der Volksschule die Kinder von Landarbeitern unterrichte.
Nach dem Krieg bin ich nicht an die Universität zurückgekehrt. Zum Teil, weil ich fand, die Kinder hier hätten auf das, was ich ihnen beibringen konnte, genausoviel Recht wie die jungen Leute in Berlin; zum andern, weil ich nicht bereit war, die Lügen der Kommunisten weiterzugeben. Ist das Antwort genug?«
»Und wenn sie mich trotzdem erwischen und ich erzähle, was Sie zu mir gesagt haben?«
Zum erstenmal lächelte sie.
»Junger Mann, wenn man achtzig ist, können sie einem nichts antun, was unser Herrgott nicht in absehbarer Zeit ohnehin tun wird. So, und was führt Sie zu mir?«
»Bruno Morenz - erinnern Sie sich an ihn?« »O ja, ich erinnere mich an ihn. Ist er in Schwierigkeiten?«
»Ja, Fräulein Neumann, in großen Schwierigkeiten. Er ist hier in der Gegend, irgendwo. Er ist mit einem Auftrag in die DDR gekommen - für mich. Dann wurde er krank. Brach psychisch völlig zusammen. Er hält sich irgendwo versteckt. Er braucht meine Hilfe.«
»Die Polizei, diese vielen Soldaten - sind sie hinter Bruno Morenz her?«
»Ja. Wenn es mir gelingt, ihnen zuvorzukommen, kann ich ihm vielleicht helfen. Ihn noch rechtzeitig in Sicherheit bringen.«
»Und warum sind Sie zu mir gekommen?«
»Er hat eine Schwester in London. Sie sagte, daß er ihr über seine zwei Jahre hier, während des Krieges, ganz wenig erzählt hat. Nur, daß er sehr unglücklich war und zu keinem Menschen Vertrauen hatte, außer zu seiner Lehrerin, Fräulein Neumann.«
Sie schaukelte einige Zeit vor und zurück.
»Der arme Bruno«, sagte sie schließlich. »Er hatte immer so große Angst. Vor dem Gebrüll und den Schmerzen.«
»Warum hatte er solche Angst, Fräulein Neumann?«
»Er stammte aus einer sozialdemokratischen Familie in Hamburg. Sein Vater war im Bombenkrieg umgekommen, aber er muß vorher im Kreis seiner Familie etwas Abfälliges über Hitler gesagt haben. Bruno war bei einem Bauern auf dem Land untergebracht, einem brutalen Menschen, der zuviel trank und außerdem ein glühender Nazi war. Eines Abends muß Bruno etwas gesagt haben, was er von seinem Vater gehört hatte. Der Bauer hat ihn mit seinem Gürtel verprügelt. Schlimm verprügelt. Das hat er dann noch oft getan. Bruno ist immer wieder ausgerissen.«
»Und wo hat er sich versteckt, Fräulein Neumann? Wo bitte?«
»In einem Heuschober. Er hat ihn mir einmal gezeigt. Ich habe den Bauern aufgesucht, um ihm ins Gewissen zu reden. Am Rand einer großen Wiese stand ein Heuschober, weitab vom Haus und von den anderen Gebäuden. Bruno hat sich oben auf dem Dachboden ein Versteck in das Heu gegraben. Da ist er jedesmal hineingekrochen und hat gewartet, bis der Bauer betrunken einschlief.«
»Und wo genau war dieser Bauernhof?«
»Der Weiler heißt Marionhain. Ich glaube, es gibt ihn noch. Nur vier Bauernhöfe, heute alle kollektiviert. Er liegt zwischen den Dörfern Ober- und Nieder-Grünstedt. Fahren Sie aus der Stadt auf der Straße in Richtung Süden. Nach etwa vier Kilometern biegen Sie nach rechts ab. Dort steht ein Wegweiser. Das Gehöft hieß früher Müllerhof, doch so heißt es inzwischen sicher nicht mehr. Aber wenn es den Hof noch gibt, halten Sie nach einem Heuschober Ausschau, der zweihundert Meter abseits steht, am Ende einer großen Wiese. Glauben Sie, Sie können ihm helfen?«
McCready stand auf.
»Wenn er dort ist, Fräulein Neumann, werde ich’s versuchen. Ich verspreche Ihnen, ich werde mein Bestes tun. Vielen Dank für Ihre hilfreiche Auskunft.«
An der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Sie haben gesagt, Sie hätten mich aus drei Gründen für einen Engländer gehalten, haben mir aber nur zwei genannt.«
»Ach ja. Sie sind wie ein Landarbeiter angezogen, haben aber behauptet, Sie kämen aus Berlin. In Berlin gibt es keine Landwirtschaftsbetriebe. Also sind Sie ein Spion und arbeiten entweder für die.« Sie machte eine ruckartige Kopfbewegung zu einem Fenster hin, unter dem wieder ein Lastwagen vorbeirumpelte, ». oder für die andere Seite.«
»Ich hätte ein Stasi-Agent sein können.«
Wieder lächelte sie.
»Nein, mein Herr Engländer. Ich erinnere mich aus dem Jahr 1945 an die britischen Offiziere, die kurz hier waren, ehe die Russen kamen. Sie waren viel zu höflich.«
Die unbefestigte Straße zweigte genau dort von der Hauptstraße weg, wo sie gesagt hatte. Sie ging nach rechts ab und führte in den fruchtbaren Landstrich zwischen der Staatsstraße 7 und der Autobahn E 40. Ein kleines Schild wies nach Nieder-Grünstedt. Er radelte die Straße entlang bis zu einer Gabelung, einen knappen Kilometer weiter. Vor ihm lag Ober-Grünstedt. Er sah, daß es von einer Kette grüner Uniformen umgeben war. Rechts und links von ihm lagen Felder, auf denen der Mais anderthalb Meter hoch stand. Er duckte sich auf den Lenker und radelte nach rechts weiter. Er umfuhr Ober-Grünstedt, fand einen noch schmaleren Weg und sah nach einem knappen Kilometer die Dächer einer Gruppe von Bauernhäusern und Scheunen, erbaut im thüringischen Stil, mit steil abfallenden Ziegeldächern, hohen Giebeln und hohen, breiten Toren für die Heuwagen. Marionhain.
Er wollte nicht durch den Weiler fahren, um nicht von Landarbeitern gesehen zu werden, die ihn sofort als einen Ortsfremden identifizieren würden. Er versteckte das Fahrrad in einem Maisfeld und kletterte auf ein Gatter, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Rechterhand sah er eine abseits von den anderen Gebäuden stehende, hohe Scheune aus Ziegelsteinen und schwarz geteerten Balken. In gebückter Haltung begann er sich durch den Mais auf sein Ziel zuzuarbeiten. Am Horizont bewegte sich der Strom der grünen Uniformen langsam aus Nieder-Grünstedt.
Auch Dr. Lothar Herrmann war an diesem Vormittag beschäftigt. In der Regel arbeitete er an einem Samstag nicht, aber er brauchte etwas, um sich von der mißlichen Situation abzulenken, in der er sich befand. Am Abend vorher war er mit seinem höchsten Chef in einem Restaurant gesessen. Das Gespräch beim Essen war kein Zuckerschlecken gewesen.
Im Mordfall Heimendorf war noch niemand verhaftet worden.
Die Polizei hatte sich nicht einmal mit einem Steckbrief an die Öffentlichkeit gewandt. Man schien einfach nicht weiterzukommen, was die beiden Pistolenkugeln und eine Gruppe identischer Fingerabdrücke betraf.
Eine stattliche Zahl höchst seriöser Herren aus der Privatwirtschaft und dem öffentlichen Sektor war diskret vernommen worden, und alle waren am Ende ihrer Vernehmung schamrot gewesen. Doch jeder von ihnen hatte bereitwillig und umfassend ausgesagt. Fingerabdrücke waren abgenommen, Schußwaffen zur Untersuchung ausgehändigt, Alibis überprüft worden. Aber nichts war dabei herausgekommen.
Der Chef hatte sein Bedauern über den Mißerfolg geäußert, war aber unerbittlich geblieben. Er sei den Mangel an Kooperation innerhalb des Dienstes leid. Am Montagvormittag werde er im Bundeskanzleramt ein Gespräch mit dem Staatssekretär führen, der auf politischer Ebene für den BND zuständig war. Das werde ein sehr heikles Gespräch werden, und er, der Generaldirektor, sei darüber gar nicht glücklich. Ganz und gar nicht.
Dr. Herrmann schlug das dicke Dossier auf, das die Niederschriften des grenznahen DDR-Funkverkehrs von Mittwoch bis Freitag enthielt. Eine enorme Menge. Irgend etwas hatte die Vopos im Bezirk Jena in helle Aufregung versetzt. Dann fiel sein Blick auf einen Satz, der während eines Gesprächs zwischen einem Streifenwagen der Volkspolizei und der Einsatzzentrale in Jena gefallen war - »Groß, grauhaarig, rheinländischer Akzent.« Er wurde nachdenklich. Das erinnerte ihn an etwas.
Einer seiner Mitarbeiter kam herein und legte dem Chef eine Kopie auf den Schreibtisch. Wenn der Herr Doktor es sich schon nicht nehmen ließ, an einem Samstagvormittag zu arbeiten, konnte man ihn das Material ja gleich so vorlegen, wie es einging. Die Kopie hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergegeben. Darin hieß es schlicht, daß ein aufmerksamer Beamter am Flughafen Hannover ein Gesicht bemerkt hatte, das zu einem Mann gehörte, der unter dem Namen Maitland mit einer Maschine aus London eingetroffen war. Der BfV-Mann, wachsam, wie er war, hatte seine Unterlagen überprüft, den Betreffenden identifiziert und dies an die Zentrale in Köln durchgegeben. Aus Köln hatte man die Nachricht nach Pullach weitergereicht. Der angebliche Mr. Maitland war Mr. Samuel McCready.
Dr. Herrmann war pikiert. Es war höchst unhöflich von einem hohen Beamten aus dem Nachrichtendienst eines NATO- Verbündeten, unangemeldet bundesdeutschen Boden zu betreten. Und ungewöhnlich außerdem. Es sei denn. Er warf einen Blick auf die aufgefangene Funkmeldung aus Jena und auf die Kopie aus Hannover. Er würde es nicht wagen, dachte er. Aber eine andere Stimme in ihm widersprach: Doch, er würde es sehr wohl wagen. Dr. Herrmann nahm einen Hörer ab und begann seine Dispositionen zu treffen.
McCready verließ die Deckung, die ihm das Maisfeld gewährte, blickte nach rechts und links und ging rasch die paar Meter über das Gras zu dem Heuschober. Das Tor in seinen rostigen Scharnieren gab ein Knarren von sich, als er es vorsichtig aufstieß. Aus einem Dutzend Ritzen im Holz fielen Lichtstrahlen in die Düsternis und enthüllten ein wirres Durcheinander von alten Karren und Fässern, Pferdegeschirren und Trögen. Er warf einen Blick nach oben. Der obere Teil des Schobers, über eine senkrechte Leiter zu erreichen, war mit Heuballen vollgestopft. Er kletterte die Leiter hinauf und rief leise: »Bruno.«
Keine Antwort. Er ging an dem aufgeschichteten Heu vorbei und hielt Ausschau nach Hinweisen, daß in letzter Zeit hier jemand gewesen war. An der Rückwand entdeckte er zwischen zwei Heuballen ein Stück von einem Regenmantel. Er nahm den oberen Ballen vorsichtig weg.
Bruno Morenz lag in seinem Schlupfwinkel auf der Seite.
Seine Augen standen offen, aber er rührte sich nicht. Als das Tageslicht in sein Versteck eindrang, stöhnte er auf.
»Bruno, ich bin’s. Ihr Freund Sam. Schauen Sie mich an, Bruno.«
Morenz drehte den Kopf zu McCready hin und starrte ihn an. Sein Gesicht war grau und unrasiert. Er hatte seit drei Tagen nichts gegessen und nur abgestandenes Wasser aus einem Faß getrunken. Seine Augen flackerten unruhig.
»Sam?«
»Ja, Sam. Sam McCready.«
»Verraten Sie ihnen nicht, daß ich hier bin, Sam. Sie finden mich nicht, wenn Sie mich nicht verraten.«
»Ich verrat’s ihnen nicht, Bruno. Auf keinen Fall.«
Durch einen Spalt in der Bretterwand des Heuschobers sah er, wie sich die Kette aus grünen Uniformen quer über die Maisfelder Ober-Grünstedt näherte.
»Versuchen Sie sich aufzurichten, Bruno.«
Mit McCreadys Hilfe rappelte sich Morenz hoch und kauerte sich dicht an den Heuballen.
»Wir müssen ganz fix machen, Bruno. Ich werde versuchen, Sie hier rauszubringen.«
Morenz schüttelte teilnahmslos den Kopf.
»Bleiben Sie hier, Sam. Hier ist es sicher, hier kann mich keiner finden.«
Nein, dachte McCready, ein betrunkener Bauer kann es natürlich nicht. Aber fünfhundert Soldaten können es schon. Er versuchte, Morenz auf die Füße zu stellen, aber dessen Körpergewicht war einfach zu groß. Die Beine trugen ihn nicht. Er verklammerte die Hände über der Brust. Unter seinem Regenmantel war irgendein Gegenstand. McCready ließ ihn wieder auf Heu sinken. Er war sich darüber im klaren, daß keinerlei Chance bestand, Morenz zur Grenze bei Ellrich zu bringen, ihn unter dem Draht hindurch und über das Minenfeld zu schaffen. Es war vorüber.
Durch den Spalt war zu sehen, wie die grünen Uniformen sich die Bauernhäuser und Scheunen von Ober-Grünstedt vornahmen. Als nächstes kam Marionhain dran.
»Ich habe Fräulein Neumann besucht. Erinnern Sie sich an Fräulein Neumann? Sie ist eine nette Person.«
»Ja, nett. Sie ahnt vielleicht, daß ich hier bin, aber sie verrät ihnen bestimmt nichts davon.«
»Auf keinen Fall, Bruno. Ganz bestimmt nicht. Sie hat gesagt, Sie hätten Ihre Hausaufgaben dabei. Sie muß sie korrigieren.«
Morenz zog unter seinem Regenmantel vorsichtig ein dickleibiges, rot eingebundenes Handbuch hervor. Hammer und Sichel waren in Gold auf den Plastikeinband geprägt. Morenz hatte die Krawatte gelockert, und sein Hemd stand offen. An einem Stück Bindfaden um seinen Hals hing ein Schlüssel. McCready nahm das Buch.
»Ich habe Durst, Sam.«
McCready hielt ihm einen kleinen, silbernen Flachmann hin, den er aus seiner Gesäßtasche gezogen hatte. Morenz trank gierig den Whisky. McCready schaute durch den Spalt nach draußen. Die Soldaten hatten die Durchsuchung von Ober-Grünstedt abgeschlossen. Ein paar näherten sich auf der kleinen Straße, andere schwärmten fächerförmig über die Felder aus.
»Ich werde hier bleiben, Sam«, sagte Morenz.
»Ja«, sagte McCready, »das sollen Sie auch. Leben Sie wohl, mein alter Freund. Schlafen Sie gut. Jetzt wird Ihnen nie mehr jemand weh tun.«
»Nie mehr«, murmelte Morenz und schlief ein. McCready zog ihm behutsam den Bindfaden mit dem Schlüssel über den Kopf, verstaute das Buch in seiner Tragetasche, flitzte die Leiter hinunter und setzte sich in das nächste Maisfeld ab. Minuten später schloß sich der Ring. Es war Mittag.
Zwölf Stunden vergingen, bis er wieder die riesige Kiefer an der Grenze nahe dem Dorf Ellrich erreichte. Er zog den Kittel über und wartete unter dem Baum bis halb vier Uhr. Dann ließ er in Richtung auf den weißen Felsen jenseits der Grenze seine Mini-Taschenlampe dreimal aufblinken, schob sich unter dem Drahtverhau durch und robbte durch das Minenfeld und den gepflügten Todesstreifen. Am Zaun erwartete ihn Siegfried.
Auf der Rückfahrt nach Goslar inspizierte er den Schlüssel, den er Bruno Morenz abgenommen hatte. Er war aus Stahl und auf der Rückseite war »Flughafen Köln« eingraviert. Er verabschiedete sich nach einem kräftigen Frühstück von Kurzlinger und Siegfried und fuhr los, nicht nach Norden, Richtung Hannover, sondern nach Südwesten.
Um ein Uhr an diesem Samstagnachmittag begrüßten die Soldaten Oberst Voß, der zusammen mit einer Dame in Zivil in einem Stabswagen eintraf. Die beiden stiegen die Leiter hinauf und sahen sich die Leiche im Heu an. Obwohl eine gründliche Suchaktion durchgeführt und der Heuschober beinahe auseinandergenommen wurde, fanden sie nichts Schriftliches, geschweige denn ein dickes Buch. Aber sie wußten ja ohnehin nicht, wonach sie suchen sollten.
Ein Soldat zog dem Toten mit viel Kraftaufwand einen kleinen, silbernen Flachmann aus der erstarrten Hand und reichte ihn Oberst Voß. Er schnüffelte daran und murmelte: »Zyankali.« Majorin Wanawskaja nahm ihn Voß aus der Hand und drehte ihn um. Auf der Rückseite stand >Harrods London<. Sie gab einen sehr undamenhaften Kraftausdruck von sich. Für Oberst Voß hörte er sich wie >leg doch deine eigene Mutter um< an.
Sonntag
Gegen Mittag erreichte McCready den Kölner Flughafen. Es blieb noch reichlich Zeit bis zum Abflug seiner Maschine um 13.00 Uhr. Er tauschte sein Ticket Hannover-London gegen eines von Köln nach London um, checkte ein und spazierte dann zu den stählernen Schließfächern in der Abflughalle. Er holte den Schlüssel heraus und steckte ihn ins Schloß des Schließfaches Nr. 47. Darin befand sich eine schwarze Leinentasche. Er nahm sie heraus.
»Ich denke, die Tasche nehme ich an mich. Danke, Mr. McCready.«
Er drehte sich um. Der stellvertretende Chef des BND. Zwei kräftige Herren hatten in respektvollem Abstand Stellung bezogen.
Der eine betrachtete seine Fingernägel, der andere die Decke, als hielte er nach Rissen Ausschau.
»Das ist aber nett, Sie wiederzusehen, Herr Dr. Herrmann. Was führt Sie denn nach Köln?«
»Die Tasche. wenn ich bitten darf, Mr. McCready.« McCready reichte sie ihm, Herrmann gab sie an einen seiner Begleiter weiter. Er konnte es sich leisten, freundlich zu sein.
»Kommen Sie, Mr. McCready. Wir Deutschen sind ein gastfreundliches Volk. Lassen Sie sich von mir zu Ihrer Maschine begleiten. Sie möchten sie doch nicht verpassen.« Sie gingen auf die Paßkontrolle zu. »Ein bestimmter Kollege von mir. «
»Er wird nicht zurückkommen, Herr Dr. Herrmann.«
»Ach, der Arme. Aber vielleicht ist es ganz gut so.« Sie erreichten die Paßkontrolle. Dr. Herrmann zog eine Karte heraus, hielt sie den Paßbeamten hin, und sie konnten durchgehen. Als die Fluggäste in die Maschine stiegen, wurde McCready von Dr. Herrmann zur Tür des Flugzeugs gebracht.
»Mr. McCready.«
Er drehte sich unter der Tür um. Dr. Herrmann lächelte endlich.
»Wir verstehen uns auch darauf, den Funkklatsch hinter der Grenze abzuhören. Gute Reise, Mr. McCready. Grüßen Sie
mir London.«
Eine Woche später traf die Nachricht in Langley ein. General Pankratin war versetzt worden. Er würde künftig einen Komplex von militärischen Gefangenenlagern in Kasachstan befehligen.
Claudia Stuart erfuhr die Neuigkeit durch den Mann, den sie in der US-Botschaft in Moskau sitzen hatte. Sie sonnte sich noch immer in den Elogen, die von höherer Warte auf sie herabregneten, während die Analytiker die gesamte sowjetische Kriegsplanung studierten. Sie nahm die Sache mit ihrem sowjetischen General philosophisch. Gegenüber Chris Appleyard bemerkte sie:
»Er ist mit heiler Haut davongekommen und behält seinen Rang. Besser als in Jakutien im Gulag zu schuften. Und was uns betrifft, nun ja, es kommt billiger als eine Luxuswohnanlage in Santa Barbara. «