5
Der Dampfer legte pünktlich um drei vom Westminster Pier ab und begann seine gemächliche Fahrt flußabwärts nach Greenwich. Eine Gruppe japanischer Touristen drängte sich an der Reling, und das Klicken Dutzender auf das entschwindende Parlamentsgebäude gerichteter Kameras klang wie gedämpftes Maschinengewehrfeuer.
Als das Boot die Flußmitte erreichte, stand ein Mann in einem hellgrauen Anzug auf und ging zum Heck, stellte sich an die Reling und schaute auf das schäumende Kielwasser hinab. Nach einigen Minuten erhob sich ein anderer Mann, der einen hellen Sommermantel trug, von einer anderen Bank und gesellte sich zu ihm.
»Wie geht’s in der Botschaft?« fragte McCready leise.
»Nicht so gut«, sagte Keepsake. »Es hat sich inzwischen bestätigt, daß eine größere Spionageabwehr-Operation im Gang ist. Bis jetzt haben sie nur meine untergeordneten Mitarbeiter unter die Lupe genommen. Das allerdings sehr genau. Wenn sie mit denen fertig sind, werden sie sich mit den höheren Rängen befassen - also auch mit mir. Ich verwische Spuren, so gut es geht. Aber manches, beispielsweise das Beiseiteschaffen einer ganzen Akte, würde mehr schaden als nützen.«
»Was meinen Sie, wie viel Zeit haben Sie noch?«
»Bestenfalls ein paar Wochen.«
»Passen Sie auf, mein Freund. Seien Sie im Zweifelsfall lieber zu vorsichtig. Ein neuer Penkowski hätte uns gerade noch gefehlt.«
Anfang der 60er Jahre hatte Oberst Oleg Penkowski vom GRU zweieinhalb glänzende Jahre lang für die Briten gearbeitet. Er war der bis dahin mit Abstand wertvollste Sowjetagent, der je angeworben worden war, und derjenige, der den Sowjets den größten Schaden zugefügt hatte. In der kurzen Zeit seiner Tätigkeit lieferte er über 5.000 Dokumente der höchsten Geheimhaltungsstufe und als Krönung im Jahre 1962 wichtige Informationen über die sowjetischen Raketen auf Kuba, die Präsident Kennedy in die Lage versetzten, Nikita Chruschtschow gekonnt auszuspielen. Aber er blieb zu lange. Als man ihn zum Aussteigen drängte, bestand er darauf, noch ein paar Wochen weiterzumachen, wurde enttarnt, verhört, verurteilt und erschossen. Keepsake lächelte.
»Keine Angst, es gibt keine Penkowski-Affäre, diesmal nicht. Und wie läuft’s bei Ihnen?«
»Nicht gut. Wir sind überzeugt, daß Orlow Calvin Bailey beschuldigt hat.«
Keepsake stieß einen Pfiff aus.
»So hoch oben. Sieh an. Kein geringerer als Calvin Bailey. Also war er das Ziel von Projekt Potemkin. Sam, Sie müssen denen klarmachen, daß sie einem Schwindel aufsitzen, daß Orlow lügt.«
»Nichts zu machen«, sagte McCready. »Ich hab’s versucht. Die sind nicht zu bremsen.«
»Versuchen Sie’s noch mal. Ein Menschenleben steht auf dem Spiel.«
»Sie glauben doch nicht wirklich - «
»O doch, alter Freund, und ob ich das glaube«, sagte der Russe. »Der DCI ist ein leidenschaftlicher Mensch. Ich glaube nicht, daß er einen weiteren großen Skandal, größer als alle bisherigen zusammengenommen, in diesem Stadium der Amtsführung seines Präsidenten zulassen kann. Er wird sich für die Möglichkeit entscheiden, Ruhe zu schaffen. Für immer. Aber seine Rechnung geht natürlich nicht auf. Er denkt bestimmt, wenn er ein für allemal Schluß macht, dann wird nie etwas ans Tageslicht kommen. Wir wissen es besser, nicht wahr? Es werden schon bald Gerüchte aufkommen, dafür wird der KGB sorgen. Das ist eine seiner Spezialitäten.
Übrigens hat Orlow ironischerweise das Spiel bereits gewonnen. Wenn Bailey festgenommen und vor Gericht gestellt wird, was sich verheerend auf die öffentliche Meinung auswirken wird, hat er gewonnen. Wird Bailey zum Schweigen gebracht, und die Wahrheit wird ruchbar, fällt die Moral innerhalb der CIA auf einen absoluten Tiefpunkt, und er hat gewonnen. Entläßt die CIA ihn und streicht ihm seinen Pensionsanspruch, beteuert er seine Unschuld, und die Kontroverse schwelt jahrelang weiter. Auch in diesem Fall hat Orlow gewonnen. Sie müssen sie einfach zur Vernunft bringen.«
»Ich hab’s doch versucht. Die sind immer noch überzeugt, daß Orlows Material echt ist, pures Gold. Sie glauben ihm.«
Der Russe starrte in das schäumende Wasser unter dem Heck, während das Sanierungsgebiet der Dockland vorüberglitt, das damals noch ein Gewirr von Kränen und halb abgerissenen, verfallenen Lagerhäusern war.
»Habe ich Ihnen schon mal von meiner Aschenbecher-Theorie erzählt?«
»Nein«, sagte McCready, »ich glaube nicht.«
»Als ich Lehrer an der KGB-Schule war, habe ich meinen Studenten gesagt: Stellen Sie sich einen gläsernen Aschenbecher vor, der in drei Teile zerbrochen ist. Finden Sie einen der Teile wieder, wissen Sie nur, daß Sie ein Stück Glas in der Hand halten. Finden Sie zwei, wissen Sie, daß Sie zwei Drittel eines Aschenbechers haben, können aber immer noch nicht Ihre Zigarette ausdrücken. Um wirklich etwas damit anfangen zu können, brauchen Sie alle drei Bruchstücke des Aschenbechers.«
»Ja, und?«
»Alles, was Orlow bis jetzt geliefert hat, sind jeweils ein oder zwei Teile eines ganzen Sortiments von Aschenbechern. Er hat den Amerikanern tatsächlich noch keinen einzigen kompletten Aschenbecher gegeben. Irgendeine Top-Secret-Sache, die die UdSSR seit Jahren eifersüchtig hütet und nicht um alles in der Welt hergeben will. Bitten Sie sie, Orlow einem Härtetest zu unterziehen. Er wird ihn nicht bestehen. Aber wenn ich schließlich aussteige, bringe ich den ganzen Aschenbecher mit. Dann werden sie es glauben.«
McCready dachte nach. Schließlich fragte er:
»Was meinen Sie, kennt Orlow den Namen des Fünften Mannes?«
Keepsake überlegte.
»Fast mit Sicherheit, obwohl ich ihn nicht kenne«, sagte er. »Orlow war jahrelang im Illegalendirektorat. Ich nie. Ich habe immer von Botschaften aus operiert. Wir waren beide im Gedenkraum - das ist ein fester Bestandteil der Ausbildung. Aber im Gegensatz zu mir dürfte er das Schwarze Buch gesehen haben. Ja, er muß den Namen kennen.«
Tief im Innern der KGB-Zentrale am Dserschinski-Platz 2 liegt der Gedenkraum, eine Art Schrein in einem gottverlassenen Gebäude, der dem Andenken der großen Vorgänger der jetzigen Generation von KGB-Leuten gewidmet ist. Unter den dort aufgehängten >Heiligenbildern< sind auch die Porträts von Arnold Deutsch, Teodor Maly, Anatoli Gorski und Juri Modin, nacheinander Anwerber und Führungsoffiziere des schlagkräftigsten Spionagerings, den der KGB je aus britischen Staatsangehörigen aufgebaut hat.
Die Anwerbungen fanden hauptsächlich Mitte bis Ende der dreißiger Jahre unter jungen Studenten der Universität Cambridge statt. Sie alle hatten mit dem Kommunismus geflirtet, nicht anders als viele andere, die dann aber wieder davon abgekommen waren. Fünf jedoch blieben bei der Stange und leisteten Moskau so glänzende Dienste, daß sie dort bis zum heutigen Tage als die >Glorreichen Fünf< oder die >Fünf Sterne< bezeichnet werden.
Einer von ihnen war Donald Maclean, der nach seinem Abschluß in Cambridge zum Foreign Office ging. Ende der vierziger Jahre war er in der britischen Botschaft in Washington und half mit, Moskau Hunderte von Geheiminformationen über die neue Atombombe zuzuspielen, die Amerika in Zusammenarbeit mit den Briten entwickelte.
Ein anderer war Guy Burgess, ein Kettenraucher, Trunkenbold und rabiater Homosexueller, der sich viel zu lange dem Hinauswurf aus dem Foreign Office hatte entziehen können. Er fungierte als Laufbursche und Mittelsmann für Maclean und die Drahtzieher in Moskau. Beide wurden schließlich 1951 enttarnt, konnten sich aber dank einer Warnung der Verhaftung entziehen und setzten sich nach Moskau ab.
Der dritte war Anthony Blunt, ebenfalls homosexuell, ein überragender Kopf, der als Talentsucher für Moskau arbeitete. Als begabter Kunsthistoriker brachte er es außerdem zum Leiter der persönlichen Kunstsammlung der Queen und zum Ritter des Königreichs. Er war es, der 1951 Burgess und Maclean gewarnt hatte, ihre Verhaftung stehe bevor. Nachdem er eine ganze Reihe von Untersuchungen unbeschadet überstanden hatte, wurde er schließlich erst in den achtziger Jahren bloßgestellt, seines Titels entkleidet und unehrenhaft entlassen.
Der erfolgreichste von allen war Kim Philby, der in den SIS eintrat und bis zum Leiter der sowjetischen Abteilung aufstieg. Bei der Flucht von Burgess und Maclean im Jahre 1951 fiel der Verdacht auch auf ihn; er wurde verhört, gab nichts zu, wurde trotzdem aus dem SIS entfernt, setzte sich aber erst 1963 endgültig von Beirut aus nach Moskau ab.
Die Porträts aller vier Männer hängen im Gedenkraum. Es gab aber noch einen fünften, und das fünfte Porträt ist ein schwarzes Rechteck. Die wahre Identität des Fünften Mannes war nur im Schwarzen Buch vermerkt. Der Grund war einfach.
Den Gegner zu verwirren und zu demoralisieren ist eines der Hauptziele des Kriegs der Geheimdienste und war der Anlaß für die verspätete Einrichtung der Abteilung DD, die McCready leitete. Die Briten hatten seit Anfang der 50er Jahre gewußt, daß es in diesem vor so langer Zeit angeworbenen Ring einen Fünften Mann gegeben hatte, konnten aber nie nachweisen, um wen es sich gehandelt hatte. Das alles war Wasser auf Moskaus Mühlen.
Rund fünfunddreißig Jahre lang machte das Rätsel zu Moskaus Schadenfreude den britischen Geheimdiensten schwer zu schaffen, wozu eine sensationshungrige Presse und eine ganze Reihe von Büchern ihr Teil beitrugen.
Über ein Dutzend loyale, altgediente Mitarbeiter gerieten unter Verdacht, büßten ihre Aufstiegschancen ein und waren den verschiedensten Mißhelligkeiten ausgesetzt. Hauptverdächtiger war der inzwischen verstorbene Sir Roger Hollis, der zum Generaldirektor von MI-5 aufstieg. Er wurde zur Zielscheibe eines Monomanen vom Schlag James Angletons, des unsäglichen Peter Wright, der später ein Vermögen mit einem unglaublich langweiligen Buch verdiente, in dem er zum hundertsten Mal Klage über seine kleine Pension (dieselbe, wie sie jeder andere bekam) führte und seine Überzeugung äußerte, Roger Hollis sei der Fünfte Mann gewesen.
Auch andere wurden verdächtigt, darunter zwei von Hollis’ Stellvertretern und sogar der zutiefst patriotische Lord Victor Rothschild. Es war alles blühender Unsinn, aber das Rätselraten ging weiter. War der Fünfte Mann noch am Leben, womöglich noch im Amt, in hoher Position in der Regierung, im Staatsdienst oder in einem Geheimdienst? Nicht auszudenken. Man konnte die Sache erst auf sich beruhen lassen, wenn der Fünfte Mann, der vor so vielen Jahren angeworben worden war, endlich identifiziert werden konnte. Der KGB hatte das Geheimnis natürlich fünfunddreißig Jahre lang eifersüchtig gehütet.
»Sagen Sie den Amerikanern, sie sollen Orlow nach dem Namen fragen«, sagte Keepsake. »Er wird ihn nicht preisgeben, aber ich werde ihn herauskriegen und ihn mitbringen, wenn ich rüberkomme.«
»Was die Zeitfrage angeht«, sagte McCready, »wie lange können Sie sich noch halten?«
»Bestenfalls ein paar Wochen, vielleicht noch weniger.«
»Möglicherweise warten die nicht mehr so lange, falls Sie recht haben, was die Reaktion des DCI angeht.«
»Gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit, sie zu überreden, mit ihrem Vorhaben noch zu warten?« fragte der Russe.
»Doch, aber dafür brauche ich Ihre Zustimmung.«
Keepsake hörte mehrere Minuten lang zu. Er nickte.
»Wenn dieser Roth sein großes Ehrenwort gibt. Und wenn Sie überzeugt sind, daß er es halten wird, dann ja.«
Als Joe Roth am nächsten Morgen aus dem Flughafengebäude trat, nachdem er in der Nacht von Washington herübergeflogen war, war er müde und nicht bei bester Laune.
Er hatte in der Maschine zuviel getrunken und reagierte unwirsch, als dicht an seinem Ohr jemand etwas mit übertriebenem irischen Akzent sagte.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Mr. Casey, schön, daß Sie wieder da sind.«
Er drehte sich um. Sam McCready stand dicht neben ihm. Dieser Mistkerl hatte offenbar die ganze Zeit von seinem >Casey<-Paß gewußt und die Passagierlisten in Washington überprüfen lassen, um ihm auf dem Flughafen auflauern zu können.
»Steig ein«, sagte McCready am Auto, »ich bring dich nach Mayfair.«
Warum nicht? Er fragte sich, was McCready sonst noch wußte oder erraten hatte. Der britische Agent redete nur über belangloses Zeug, bis sie die Außenbezirke von London erreicht hatten. Dann wurde er ohne Vorwarnung ernst.
»Wie hat der DCI reagiert?« fragte er.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Also komm, Joe, Orlow hat Calvin Bailey beschuldigt. Das ist Bockmist. Du nimmst das doch nicht ernst, oder?«
»Du bist völlig schief gewickelt, Sam.«
»Wir haben eine Mitteilung bekommen. Bailey darf keinerlei vertrauliches Material in die Finger kriegen. Also steht er unter Verdacht. Willst du mir wirklich weismachen, der Grund ist nicht, daß Orlow ihn beschuldigt hat, sowjetischer Agent zu sein?«
»Mein Gott, das ist reine Routine. Es geht darum, daß er zu viele Freundinnen hat.«
»Willst du mich verarschen?« fragte McCready. »Calvin mag sein, was er will, aber ein Schürzenjäger ist er nicht. Erzähl mir ein anderes Märchen.«
»Reiß dich zusammen, Sam, sonst sind wir die längste Zeit Freunde gewesen. Ich hab’s dir schon mal gesagt: Das geht jetzt nur noch die Company was an. Gib’s auf.«
»Joe, um Himmels willen. Es ist schon fast zu spät. Die Dinge sind außer Kontrolle geraten. Orlow belügt euch, und ich fürchte, ihr macht einen schrecklichen Fehler.«
Joe Roth verlor die Geduld.
»Halt an«, schrie er, »halt sofort die verdammte Kiste an.«
McCready zog den Jaguar nach rechts und hielt abrupt an. Roth schnappte sich seine Reisetasche vom Rücksitz und öffnete die Tür auf seiner Seite. McCready packte ihn am Arm.
»Joe, morgen, halb drei. Ich muß dir was zeigen. Ich hol dich um halb drei vor deiner Wohnung ab.«
»Du kannst mich mal«, sagte der Amerikaner.
»Nur ein paar Minuten. Ist das zuviel verlangt? Unter alten Freunden, Joe, unter guten alten Freunden.«
Roth stieg wortlos aus. Er entfernte sich rasch und hielt Ausschau nach einem Taxi. Aber er stand am nächsten Tag um halb drei auf dem Gehsteig vor seiner Wohnung. McCready blieb in dem Jaguar sitzen, bis Roth eingestiegen war, und fuhr ohne ein Wort der Begrüßung los. Sein Freund war immer noch verärgert und mißtrauisch. Sie fuhren nur knapp eine halbe Meile. Roth dachte, er würde zu seiner eigenen Botschaft gefahren, so nahe kamen sie dem Grosvenor Square, aber McCready hielt schon einen Häuserblock davor in der Mount Street.
Ungefähr in der Mitte der Mount Street liegt eines der besten Londoner Fisch-Restaurants, Scott’s. Auf die Minute genau um drei Uhr kam ein gepflegter Mann in hellgrauem Anzug aus dem Restaurant und blieb vor dem Eingang stehen. Eine schwarze Limousine der sowjetischen Botschaft näherte sich langsam und hielt direkt vor ihm.
»Du hast mich zweimal gefragt, ob wir einen Mann beim KGB in Moskau haben«, sagte McCready ruhig. »Ich habe das verneint. Das war nur zur Hälfte gelogen. Er sitzt nämlich nicht in Moskau, sondern hier in London. Da drüben steht er.«
»Ich glaub, ich seh nicht recht«, flüsterte Roth. »Das ist doch Nikolai Gorodow. Der Chef der KGB-Residentur in Großbritannien.«
»Der nämliche. Und er arbeitet für uns, schon seit vier Jahren. Ihr habt sein ganzes Material bekommen, mit falschen Quellenangaben, aber im übrigen unverändert. Und er sagt, daß Orlow lügt.«
»Beweise es«, sagte Roth. »Von Orlow verlangst du ja auch, er soll alles beweisen. Also jetzt beweise es. Beweise, daß er wirklich für euch arbeitet.«
»Wenn Gorodow sich mit der rechten Hand am linken Ohr kratzt, bevor er in den Wagen steigt, ist er unser Mann«, sagte McCready.
Gorodow sah nicht zu dem Jaguar hinüber. Er hob nur die rechte Hand, griff sich ans linke Ohr, zupfte sich am Ohrläppchen und stieg ein. Die Limousine fuhr an.
Roth beugte sich vor und vergrub das Gesicht in den Händen.
Er atmete mehrmals tief durch und richtete sich dann wieder auf.
»Das muß ich dem DCI sagen«, sagte er. »Persönlich. Ich kann ja zurückfliegen.«
»Kommt nicht in Frage«, sagte McCready. »Ich habe Gorodow mein Wort gegeben, und vor zehn Minuten hast du mir deins gegeben.«
»Ich muß den DCI informieren, sonst sind die Würfel gefallen. Sonst gibt es kein Zurück mehr.«
»Dann spiel auf Zeit. Du kannst auch noch andere Beweise bekommen, oder zumindest Gründe für einen Aufschub. Ich erklär dir mal die Aschenbecher-Theorie.«
Er erzählte Roth, was Keepsake ihm zwei Tage zuvor auf dem Ausflugsdampfer gesagt hatte.
»Frag Orlow, wer der Fünfte Mann war. Er weiß es, aber er wird’s dir nicht sagen. Keepsake wird es rauskriegen und es uns sagen, wenn er rüberkommt.«
»Und wann wird das sein?«
»Schon bald. Längstens in ein paar Wochen. Moskau ist argwöhnisch. Das Netz zieht sich zusammen.«
»Eine Woche«, sagte Roth. »Bailey fliegt in einer Woche nach Salzburg und Wien weiter. Er darf Wien nicht erreichen. Der DCI glaubt, er will sich nach Ungarn absetzen.«
»Dann laß ihn zurückbeordern. Laß ihn nach Washington zurückbeordern. Gehorcht er, rechtfertigt das zumindest einen Aufschub. Weigert er sich, werfe ich das Handtuch.«
Roth überdachte den Vorschlag.
»Ich will es versuchen«, sagte er. »Als erstes fahr ich nach Alconbury. Falls sich Orlow weigert, den Namen des Fünften Mannes zu nennen, schicke ich dem DCI morgen nach meiner Rückkehr ein Telegramm; ich schreibe ihm nur, die Briten hätten neue Beweise vorgelegt, daß Orlow möglicherweise lügt, und bitte ihn, Bailey sofort nach Langley zurückzubeordern. Als Test. Ich denke, darauf wird sich der
DCI wenigstens einlassen. Es würde einen Aufschub von mehreren Wochen bedeuten.«
»Das würde uns reichen«, sagte McCready. »Sogar dicke. Bis dahin ist Keepsake rübergekommen, und dann können wir dem DCI alles sagen. Verlaß dich auf mich.«
Roth war kurz nach Sonnenuntergang in Alconbury. Orlow lag in seinem Zimmer auf dem Bett und las und hörte Musik. Er hatte sich an Simon and Garfunkel sattgehört - laut Kroll kannten die Leibwächter inzwischen die zwanzig größten Hits fast Wort für Wort auswendig - und war zu den Seekers übergegangen. Er schaltete >Morningtown< ab, als Roth hereinkam, und sprang mit einem Grinsen vom Bett auf.
»Fliegen wir zurück in die Staaten?« fragte er. »Ich langweile mich hier. Sogar die Ranch war noch besser, trotz der Risiken.«
Er hatte zugenommen, weil er die ganze Zeit nur herumgelegen und keine Gelegenheit zum Trainieren gehabt hatte. Das mit der Ranch war ein Witz. Nach dem getürkten Mordversuch hatte Roth ihn noch eine Zeitlang in dem Glauben gelassen, es habe sich um eine Aktion des KGB gehandelt, und behauptet, Moskau müsse Einzelheiten über die Ranch von Urtschenko erfahren haben, der dort verhört worden war, bevor er törichterweise in den Schoß des KGB zurückgekehrt war. Dann hatte er jedoch zugegeben, daß es sich um eine Inszenierung der CIA gehandelt habe, mit der die Reaktion des Russen getestet werden sollte. Orlow war zunächst wütend gewesen - »Ihr Schweine, ich hab gedacht, ich muß sterben«, hatte er geschrien -, aber später hatte er über den Vorfall sogar lachen können.
»Bald«, sagte Roth, »bald sind wir hier fertig.«
Am Abend aß er mit Orlow und brachte die Rede vorsichtig auf den Gedenkraum in Moskau. Orlow nickte.
»Sicher, ich war da mal drin. Alle endgültig in den KGB aufgenommenen Offiziere werden da hineingeführt. Um die Helden zu sehen und sie zu bewundern.«
Roth lenkte das Gespräch auf die Porträts der Glorreichen Fünf. Orlow, der gerade an einem Bissen Steak kaute, schüttelte den Kopf.
»Vier«, sagte er. »Es sind nur vier Bilder. Burgess, Philby, Maclean und Bunt. Die Glorreichen Vier.«
»Aber angeblich hängt doch da noch ein fünfter Rahmen, in dem nur schwarzes Papier ist«, wandte Roth ein.
Orlow kaute jetzt viel langsamer.
»Ja«, gab er zu und schluckte den Bissen hinunter. »Ein Rahmen, aber kein Bild.«
»Es hat also doch einen Fünften Mann gegeben?«
»Es scheint so.«
Roth blieb bei seinem beiläufigen Gesprächston, sah aber Orlow aufmerksam über seine Gabel hinweg an.
»Aber Sie waren Major im Illegalendirektorat. Sie müssen den Namen im Schwarzen Buch gesehen haben.«
In Orlows Augen blitzte etwas auf.
»Man hat mir das Schwarze Buch nie gezeigt«, sagte er gelassen.
»Peter, wer war der Fünfte Mann? Den Namen bitte.«
»Ich weiß ihn nicht, mein Freund. Das schwöre ich Ihnen.« Er lächelte wieder sein breites gewinnendes Lächeln. »Wollen Sie es mit dem Lügendetektor überprüfen?«
Roth lächelte zurück, dachte aber: Nein, Peter, ich bin überzeugt, du kannst den Lügendetektor irreführen - wenn du willst. Er beschloß, am Morgen nach London zurückzukehren und sein Telegramm mit der Bitte um Aufschub und den Befehl zu Baileys Rückkehr nach Washington aufzugeben - als Test. Wenn es noch die leiseste Spur eines Zweifels gab - und trotz Kelloggs lückenlosem Beweismaterial waren ihm jetzt doch gewisse Zweifel gekommen -, würde er den Befehl nicht ausführen, noch nicht einmal dem DCI und seiner eigenen vielversprechenden Karriere zuliebe. Manchmal war der Preis einfach zu hoch.
Am nächsten Morgen kam die Putzkolonne. Es handelte sich um Frauen aus Huntingdon, dieselben, die auch alle anderen Gebäude des Stützpunktes reinigten. Jede von ihnen war überprüft worden und hatte einen Ausweis, der sie zum Betreten des Geländes berechtigte. Roth saß mit Orlow in der Kantine beim Frühstück und versuchte, gegen den Lärm der Poliermaschine draußen auf dem Gang anzureden. Das durchdringende Summen des Elektromotors schwoll mit der schwankenden Umdrehungsgeschwindigkeit der Polierbürste an und ab.
Orlow wischte sich den Kaffee von den Lippen, entschuldigte sich, weil er auf die Toilette mußte, und ging hinaus. Von diesem Tag an würde Roth sich sein Leben lang nie mehr über den sogenannten sechsten Sinn lustig machen. Sekunden, nachdem Orlow gegangen war, fiel ihm auf, daß sich der Ton der Poliermaschine verändert hatte. Er ging auf den Gang hinaus, um den Grund festzustellen. Die Maschine stand verlassen da, ihre Bürsten drehten sich, der Motor gab ein gleichbleibendes, hohes Heulen von sich. Er hatte die Putzfrau gesehen, als er zum Frühstück gegangen war, eine magere Frau in einem bunten Overall mit Lockenwicklern im Haar und einem Kopftuch darüber. Sie war beiseite getreten, um ihn vorbeizulassen, und hatte dann mit ihrer Arbeit weitergemacht, ohne aufzusehen. Jetzt war sie verschwunden. Die Tür zur Herrentoilette am Ende des Korridors pendelte noch leicht.
Roth schrie aus Leibeskräften »Kroll« und rannte den Gang entlang. Die Frau kniete in der Mitte der Herrentoilette, umgeben von den Scheuerlappen und Flaschen mit Reinigungsmitteln aus ihrem Putzeimer. In der Hand hielt sie die schallgedämpfte SIG Sauer, die sie zwischen den Putzlappen versteckt gehabt hatte. Am hinteren Ende des Raums ging die Tür einer Kabine auf, und Orlow kam heraus. Die knieende Gestalt brachte die Waffe in Anschlag.
Roth sprach kein Russisch, aber er kannte ein paar Worte. Er brüllte Stoj, so laut er konnte. Die Frau drehte sich blitzschnell auf den Knien herum, Roth warf sich auf den Boden, es gab ein leises »Pfft«, und er spürte den Luftzug der Kugel, die seinen Kopf knapp verfehlte. Er lag immer noch auf den Fliesen, als es hinter ihm ohrenbetäubend krachte und die Luft erneut von Stoß wellen bebte. Geschlossene Toilettenräume sind kein idealer Ort für Schießübungen mit einer.44 Magnum.
Hinter ihm stand Kroll in der Tür, den Colt beidhändig im Anschlag. Ein zweiter Schuß war nicht nötig. Die Frau lag auf dem Rücken, und ein leuchtend roter Fleck auf den Fliesen wetteiferte mit den Rosen auf ihrem Overall. Später stellte sich heraus, daß die echte Putzfrau gefesselt und geknebelt in ihrer Wohnung in Huntingdon lag.
Orlow stand immer noch an der Kabinentür. Er war kreidebleich.
»Schon wieder so ein Spiel«, schrie er. »Ich hab genug von diesem CIA-Theater.«
»Kein Spiel«, sagte Roth und rappelte sich auf. »Diesmal war es kein Spiel. Das war der KGB.«
Orlow sah noch einmal hin und konnte erkennen, daß die dunkelrote Pfütze, die sich über die Fliesen ausbreitete, kein Ketchup war, diesmal nicht.
Roth brauchte zwei Stunden, um für Orlow und das übrige Team einen Rückflug nach Amerika und den sofortigen sicheren Transport zur Ranch zu organisieren. Orlow nahm seine kostbaren Pop-Kassetten mit; er weinte England keine Träne nach. Als die militärische Transportmaschine nach den USA startete, stieg Roth ins Auto und fuhr nach London zurück. Er war zornig und verbittert.
Er machte sich auch selbst Vorwürfe. Er hätte wissen müssen, daß Alconbury nach Baileys Bloßstellung nicht mehr als sicherer Unterschlupf für Orlow gelten konnte. Aber angesichts der britischen Einmischung war er so beschäftigt gewesen, daß er nicht daran gedacht hatte. Jeder macht Fehler. Er fragte sich, warum Bailey Moskau nicht den Tip gegeben hatte, Orlows Ermordung schon früher zu arrangieren, bevor der KGB-Oberst die Möglichkeit hatte, ihn zu enttarnen. Vielleicht hatte er gehofft, daß Orlow ihn nicht verraten könnte, weil er nicht über die entsprechenden Informationen verfügte. Sein Fehler. Jeder machte Fehler.
Als er in der Botschaft ankam, wußte er, was er tun würde. Jetzt hatte McCready den Schwarzen Peter. Wenn er jetzt immer noch dabei bleiben wollte, daß Gorodow ein echter Überläufer war und Orlow ein falscher, und Bailey damit aus dem Schneider kam, als unschuldiger, auf geradezu geniale Weise fälschlich beschuldigter Mann, hatte er nur noch eine Möglichkeit - er mußte Gorodow sofort herüberholen, so daß die CIA direkt mit ihm reden und die Sache ein für allemal klären konnte. Er ging an seinen Schreibtisch, um McCready im Century House anzurufen. Sein Stationschef begegnete ihm auf dem Korridor.
»Ach, übrigens«, sagte Bill Carver, »es ist gerade was vom Century House gekommen. Es scheint, unsere Freunde in Kensington Palace Gardens lassen die Puppen tanzen. Ihr Resident, Gorodow, ist heute morgen nach Moskau geflogen. Es liegt auf Ihrem Schreibtisch.«
Roth sparte sich den Anruf. Er saß wie vor den Kopf geschlagen an seinem Schreibtisch. Sie hatten Recht behalten, er und sein DCI und seine Agency. Er hatte sogar Mitleid für McCready übrig. Daß man sich so geirrt hatte, sich jahrelang so hatte hinters Licht führen lassen, mußte ein furchtbarer Schlag sein. Was ihn selbst betraf, so war er auf eine merkwürdige Art erleichtert, trotz allem, was jetzt auf ihn zukam. Er hatte jetzt keinen Zweifel mehr, nicht den Schatten eines Zweifels. Die beiden Ereignisse eines einzigen Vormittags hatten jede Unklarheit beseitigt. Der DCI hatte Recht. Man mußte tun, was getan werden mußte.
Trotz allem tat ihm McCready leid. Im Century House, dachte er, reißen sie ihm jetzt bestimmt den Kopf ab.
Das taten sie auch, oder genauer gesagt, Timothy Edwards tat es.
»Es tut mir leid, daß ich das sagen muß, Sam, aber die ganze Geschichte ist ein grauenhaftes Fiasko. Ich habe gerade mit dem Chef geredet, und der Weisheit letzter Schluß ist, wir müssen uns jetzt ernsthaft mit dem Gedanken vertraut machen, daß uns Keepsake aufs Auge gedrückt wurde und die ganze Zeit für die Gegenseite gearbeitet hat.«
»Hat er nicht«, sagte McCready trocken.
»Das sagen Sie, aber so, wie es im Moment aussieht, ist es ganz und gar nicht unwahrscheinlich, daß unsere amerikanischen Vettern recht haben und wir die Gelackmeierten sind. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Ich kann’s mir denken.«
»Wir müssen jede beknackte Einzelheit, die uns Keepsake im Laufe der letzten vier Jahre gegeben hat, neu überdenken, neu bewerten.
Das ist eine Herkulesarbeit. Schlimmer noch, die Vettern haben es auch alles gekriegt, also müssen wir ihnen sagen, daß auch sie neu zu denken anfangen müssen. Die Schadensermittlung wird Jahre dauern. Abgesehen davon ist es verdammt peinlich für uns. Der Chef ist ungehalten.«
Sam seufzte. Es war immer dasselbe. Wenn Keepsakes Material der Hit des Monats war, hatte natürlich >der SIS< einen Erfolg erzielt. Jetzt lag die Schuld ganz allein beim >Täuscher<.
»Hat er Ihnen gegenüber irgendwie angedeutet, daß er vorhatte, nach Moskau zu fliegen?«
»Nein.«
»Wann sollte er aufhören und zu uns rüberkommen?«
»In zwei, drei Wochen«, sagte McCready. »Er wollte mir Bescheid sagen, sobald seine Situation aussichtslos war, und dann über den Zaun springen.« »Tja, damit war’s wohl nichts. Er ist heimgekehrt. Vermutlich aus freien Stücken. Die Flughafenpolizei meldet, daß er ohne jeden Zwang Heathrow passiert hat. Wir müssen jetzt davon ausgehen, daß Moskau tatsächlich seine wahre Heimat ist.
Und dann diese unmögliche Geschichte in Alconbury. Welcher Teufel hat Sie eigentlich geritten? Sie sagten, es sei ein Test. Schön, Orlow hat ihn mit fliegenden Fahnen bestanden. Die wollten ihn umbringen. Wir können von Glück sagen, daß es keine Toten gegeben hat, abgesehen von der Agentin. Das ist etwas, was wir den Vettern nicht sagen können. Niemals. Das muß begraben werden.«
»Ich glaube immer noch nicht, daß Keepsake uns gelinkt hat.«
»Wieso denn nicht? Er ist wieder in Moskau.«
»Möglicherweise, um noch einen letzten Koffer voll Dokumente für uns zu holen.«
»Verdammt gefährlich. Er muß verrückt geworden sein. In seiner Position!«
»Stimmt. Vielleicht ein Fehler. Aber so ist er nun mal. Er hat schon vor Jahren versprochen, noch eine letzte große Lieferung mitzubringen, wenn er aussteigt. Ich glaube, er ist deswegen rübergeflogen.«
»Irgendwelche handfesten Gründe für dieses überwältigende Vertrauen?«
»Nein, nur so ein Gefühl im Bauch.«
»Gefühl im Bauch«, ereiferte sich Edwards, »damit erreichen wir gar nichts.«
»Kolumbus hat damit allerhand erreicht. Was dagegen, daß ich mit dem Chef spreche?«
»Sie wollen sich auf den Kaiser berufen, wie? Nur zu. Aber ich glaube nicht, daß Sie was ausrichten.«
Aber McCready richtete doch etwas aus. Sir Christopher hörte sich seinen Vorschlag aufmerksam an und fragte dann:
»Und wenn er doch treu zu Moskau hält?« »Dann weiß ich das binnen Sekunden.«
»Die könnten Sie verhaften«, sagte der Chef.
»Das glaube ich nicht. Gorbatschow wird sich keinen diplomatischen Krieg leisten wollen.«
»Er würde keinen kriegen«, sagte der Chef lakonisch. »Wenn Sie gehen, dann gehen Sie auf eigene Gefahr.«
Also bereitete sich McCready darauf vor, unter diesen Bedingungen zu gehen. Er hoffte nur, daß Gorbatschow sie nicht kannte. Er brauchte drei Tage, um die Planung abzuschließen.
Am zweiten Tag rief Joe Roth Calvin Bailey an.
»Calvin, ich bin gerade von Alconbury zurückgekommen. Ich finde, wir sollten uns mal unterhalten.«
»Sicher, Joe, kommen Sie rüber.«
»So eilig ist es eigentlich auch wieder nicht. Aber vielleicht darf ich Sie morgen abend zum Essen einladen?«
»Klingt verlockend, aber Gwen und ich haben einen ziemlich vollen Terminkalender. Heute habe ich übrigens im Oberhaus zu Mittag gegessen.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Mit dem Chef des Generalstabs.«
Roth staunte. In Langley war Bailey kühl, distanziert, skeptisch. Kaum ließ man ihn in London frei herumlaufen, schon führte er sich auf wie ein Kind im Bonbon-Laden. Aber warum auch nicht. Schließlich würde er schon in sechs Tagen in Budapest sein.
»Calvin, ich kenne da ein herrliches altes Gasthaus, ein Stück die Themse hinauf in Eton. Die haben phantastische Fischgerichte. Es heißt, daß Heinrich VIII. Anne Boleyn immer den Fluß hinauf rudern ließ, um sich dort heimlich mit ihr zu treffen.«
»Wirklich? So alt? Okay, aber wissen Sie, Joe, morgen abend sind wir in Covent Garden. Der Donnerstag wäre frei.«
»Also gut, Calvin. Abgemacht. Ich hole Sie um acht ab.«
Tags darauf schloß Sam McCready seine Vorbereitungen ab. Als er schlafen ging, dachte er daran, daß es womöglich seine letzte Nacht in London war - die allerletzte.
Am nächsten Tag kamen mit verschiedenen Flügen drei Männer nach Moskau. Als erster traf Rabbi Birnbaum ein. Er kam mit der Swissair aus Zürich. Der Beamte der Paßkontrolle auf dem Flughafen Scheremetjewo war vom Grenzschutz-Direktorat des KGB, ein junger Mann mit strohblondem Haar und eiskalten blauen Augen. Er musterte den Rabbi ausgiebig und sah sich dann seinen Paß an. Er war amerikanisch und wies seinen Besitzer als Norman Birnbaum aus, Alter 56 Jahre. Wäre der Offizier älter gewesen, hätte er sich an die Zeiten erinnert, als es in Moskau wie überall in Rußland viele orthodoxe Juden gegeben hatte, die wie Rabbi Birnbaum aussahen. Der Rabbi war untersetzt und trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Sein Vollbart war buschig und ergraut. Auf dem Kopf hatte er einen schwarzen Homburg, und seine Brillengläser waren so dick, daß die Pupillen nur unscharf zu sehen waren. Unter der Hutkrempe hingen graue Korkenzieherlocken beiderseits des Gesichts herab. Das Paßfoto war ziemlich genau, zeigte den Mann allerdings ohne Hut. Das Visum war in Ordnung, ausgestellt vom sowjetischen Generalkonsulat in New York. Der Offizier sah wieder auf.
»Was ist der Zweck Ihres Aufenthalts in Moskau?«
»Ich möchte meinem Sohn einen kurzen Besuch abstatten. Er arbeitet hier in der amerikanischen Botschaft.«
»Einen Moment bitte«, sagte der Offizier. Er stand auf und verschwand. Man konnte sehen, wie er sich hinter der Glastür mit einem Vorgesetzten beriet und dieser sich den Paß ansah. Orthodoxe Rabbis waren eine Seltenheit in einem Land, in dem die letzte Talmudschule schon vor Jahrzehnten abgeschafft worden war. Der jüngere Offizier kam zurück.
»Bitte warten.« Er winkte den nächsten Passagier heran.
Es wurden Telefongespräche geführt. Jemand in Moskau sah eine Diplomatenliste durch. Der ranghöhere Offizier kam mit dem Paß in der Hand zurück und flüsterte dem anderen etwas zu. Offenbar gab es einen Roger Birnbaum in der Wirtschaftsabteilung der amerikanischen Botschaft. In der Diplomatenliste stand nicht, daß sein Vater im Ruhestand in Florida lebte und vor zwanzig Jahren beim Bar-Mizwa seines Sohnes zum letzten Mal in einer Synagoge gewesen war. Der Rabbi wurde durchgewinkt.
Trotzdem kontrollierte der Zoll seine Reisetasche. Sie enthielt die üblichen Hemden, Socken und Unterhosen zum Wechseln, einen zweiten schwarzen Anzug, Waschzeug und ein Exemplar des Talmud in Hebräisch. Der Zollbeamte blätterte gereizt in dem Buch und ließ den Rabbi gehen.
Mr. Birnbaum fuhr mit dem Aeroflot-Bus in die Stadt und zog überall neugierige oder amüsierte Blicke auf sich. Von der Endhaltestelle ging er zu Fuß zum Hotel National am ManegePlatz, suchte die Toilette auf, stellte sich an ein Urinbecken, bis der einzige andere Benutzer gegangen war, und schloß sich dann in einer Kabine ein.
Das Lösungsmittel für den Klebstoff befand sich in seinem Toilettenwasserfläschchen. Als er wieder herauskam, trug er immer noch eine dunkle Jacke, aber die zweiseitig zu tragende Hose war jetzt mittelgrau. Der Hut war in der Reisetasche verstaut, zusammen mit den buschigen Augenbrauen, Bart, Schnurrbart, Hemd und Krawatte. Sein Haar war nicht mehr grau, sondern kastanienbraun, und unter der Jacke trug er einen kanariengelben Pulli mit rundem Ausschnitt, der vorher unter dem Hemd verborgen gewesen war. Er verließ unbemerkt das Hotel, nahm ein Taxi und ließ sich vor der britischen Botschaft, gegenüber dem Kreml absetzen.
Zwei Miliz-Soldaten vom MWD standen vor dem Tor Wache, auf sowjetischem Territorium, und verlangten seinen Ausweis. Er zeigte ihnen seinen britischen Paß, und während dieser geprüft wurde, sah er dem jungen Wachposten herausfordernd lächelnd in die Augen. Der junge Miliz-Soldat wurde verlegen und gab den Paß rasch zurück. Gereizt ließ er den schwulen Engländer passieren und sah dabei seinen Kameraden mit vielsagend hochgezogenen Augenbrauen an. Sekunden später war der Engländer in der Botschaft verschwunden.
In Wirklichkeit war Rabbi Birnbaum weder Rabbi noch Amerikaner noch homosexuell. Sein richtiger Name war David Thornton, und er war einer der besten Maskenbildner der britischen Filmindustrie. Der Unterschied zwischen Maskenbildnerei für die Bühne und für den Film besteht darin, daß auf der Bühne zwar auch grelles Licht herrscht, der Abstand zum Publikum aber beträchtlich ist. Bei Dreharbeiten wird jedoch oft mit Großaufnahmen gearbeitet, bei denen die Kamera manchmal nur ein paar Handbreit vor dem Gesicht ist. Filmschauspieler müssen deshalb sehr viel besser und realistischer geschminkt werden. David Thornton arbeitete seit Jahren in den Pinewood-Studios, wo er immer alle Hände voll zu tun hatte. Außerdem gehörte er zu dem erstaunlich großen Kreis von Experten, auf den der britische Secret Service bei Bedarf jederzeit zurückgreifen kann.
Der zweite Mann kam mit British Airways direkt aus London. Es war Denis Gaunt, und er sah genauso aus wie immer, nur daß sein Haar grau war, was ihn fünfzehn Jahre älter machte. Er hatte einen schmalen Aktenkoffer diskret am linken Handgelenk angekettet und trug die blaue Krawatte mit dem Windhund-Motiv, das Erkennungszeichen des Kurier-Corps der Königin.
Alle Länder haben diplomatische Kuriere, die ihr Leben damit zubringen, Dokumente in die Botschaften in aller Herren Länder und von dort nach Hause zu befördern. Sie gelten nach dem Wiener Übereinkommen als diplomatisches Personal, und ihr Gepäck wird nicht durchsucht. Gaunt hatte einen britischen Paß auf einen anderen Namen, der aber absolut echt und gültig war. Er legte ihn vor und durfte unbehelligt die Sperren passieren.
Ein Jaguar der Botschaft stand zu seiner Abholung bereit und brachte ihn unverzüglich zur Botschaft, wo er eine Stunde nach Thornton eintraf. Nun konnte er Thornton die Maskenbildner-Utensilien übergeben, die er in seinem Koffer mitgebracht hatte.
Als dritter kam Sam McCready mit einer Maschine der Finnair aus Helsinki. Auch er hatte einen gültigen britischen Paß auf einen falschen Namen, und auch er war verkleidet. In dem gut geheizten Flugzeug war allerdings etwas schiefgegangen.
Seine rotblonde Perücke war ein bißchen verrutscht, so daß darunter eine dunklere Haarsträhne hervorschaute. Der Klebstoff, mit dem sein ebenfalls rotblonder Schnurrbart befestigt war, war an einer Ecke offenbar geschmolzen, so daß sich der Schnurrbart teilweise von der Oberlippe gelöst hatte.
Der Paßkontrolleur musterte das Bild in dem Paß und dann wieder den Mann, der vor ihm stand. Die Gesichter waren dieselben - Frisur, Schnurrbart, alles stimmte. Es ist nicht verboten, eine Perücke zu tragen, nicht einmal in Rußland; viele Kahlköpfe tun das. Aber ein abgehender Schnurrbart? Der Paßkontrolleur - es war nicht derselbe, der Rabbi Birnbaum gesehen hatte, denn Scheremetjewo ist ein großer Flughafen - wandte sich ebenfalls an einen Vorgesetzten, der daraufhin durch einen Spionspiegel blickte.
Kurz darauf klickte hinter diesem Spiegel mehrmals eine Kamera; Befehle wurden erteilt, und mehrere Männer, die Bereitschaftsdienst gehabt hatten, setzten sich in Trab. Als McCready aus dem Flughafengebäude kam, warteten schon zwei nicht gekennzeichnete Moskwitschs auf ihn. Auch er wurde mit einem Wagen der britischen Botschaft abgeholt, allerdings einem schlichteren Modell als der Jaguar, und zur Botschaft gebracht, verfolgt von den beiden KGB-Fahrzeugen, deren Insassen ihrer Behörde, dem Zweiten Hauptdirektorat, Bericht erstatteten.
Am Spätnachmittag trafen die Fotos von dem seltsamen Besucher im >Dorf< in Jassenewo ein, der Zentrale der Auslandsabteilung des KGB, des Ersten Hauptdirektorats. Sie landeten auf dem Schreibtisch des stellvertretenden Leiters, General Wadim W. Kirpitschenko. Er sah sie prüfend an, las den beiliegenden Bericht über die Perücke und den baumelnden Schnurrbart und ging mit den Bildern ins Fotolabor.
»Sehen Sie mal zu, ob Sie die Perücke und den Schnurrbart wegretuschieren können«, befahl er. Die Techniker gingen mit der Spritzpistole ans Werk. Als der General das Ergebnis sah, hätte er beinahe laut losgelacht.
»Ich werd verrückt«, murmelte er. »Das ist Sam McCready.«
Er informierte das Zweite Hauptdirektorat, daß ab sofort seine eigenen Leute die Beschattung übernehmen würden, und erteilte die nötigen Befehle.
»Vierundzwanzig Stunden täglich. Wenn er Kontakt aufnimmt, werden beide festgenommen. Wenn er etwas aus einem toten Briefkasten holt, wird er festgenommen. Wenn er in die Richtung des Lenin-Mausoleums furzt, wird er festgenommen.«
Er legte den Hörer auf und las noch einmal die Angaben in McCreadys Paß. Er gab sich als Londoner Elektronik-Fachmann aus, der über Helsinki aus London angereist war, um die Botschaft auf Abhöreinrichtungen zu überprüfen - eine Routinesache.
»Aber was zum Teufel machst du wirklich hier?« fragte der General den Mann, der ihn auf dem Foto anstarrte.
In der britischen Botschaft aßen McCready, Gaunt und Thornton alleine. Der Botschafter war nicht begeistert, drei solche Gäste im Haus zu haben, aber die Anforderung war vom Cabinet Office gekommen, und man hatte ihm versichert, die Störung werde nur vierundzwanzig Stunden dauern. Soweit es Seine Exzellenz anging, war es um so besser, je eher diese gräßlichen Spukgestalten wieder verschwanden.
»Ich hoffe, es funktioniert«, sagte Gaunt beim Kaffee. »Die Russen sind bekanntlich hervorragende Schachspieler.«
»Schon«, sagte McCready sachlich, »aber morgen werden wir mal sehen, wie gut sie beim Dreikartentrick sind.«