London, Century House

Die Anhörung ging am Vormittag des nächsten Tages weiter. Timothy Edwards blieb äußerlich die Höflichkeit in Person, hoffte aber insgeheim, die ganze Angelegenheit werde sich mit einem Minimum an Zeitaufwand erledigen lassen. Er hatte, wie die beiden Controller rechts und links von ihm, Wichtigeres zu tun.

»Danke, Denis, daß Sie uns die Ereignisse aus dem Jahr 85 ins Gedächtnis gerufen haben«, sagte er, »obwohl ich finde, man könnte sagen, vom geheimdienstlichen Standpunkt aus gehört dieses Jahr einer anderen, ja, einer abgeschlossenen Epoche an.«

Das wollte Denis Gaunt nicht gelten lassen. Er wußte, daß er das Recht hatte, nach Belieben Episoden aus der Karriere seines Abteilungsleiters Revue passieren zu lassen, um damit die Kommission vielleicht zu bewegen, dem Chef eine Abänderung seiner Entscheidung zu empfehlen. Es war ihm auch bewußt, daß kaum eine Chance bestand, daß Edwards eine solche Empfehlung aussprechen würde. Doch am Ende der Anhörung stand eine Abstimmung, und Gaunt wandte sich ganz gezielt an die beiden Controller, da sie die Mehrheit bildeten. Er stand auf, ging hinüber zu dem Beamten aus dem Archiv und bat ihn um ein anderes Dossier.

Sam McCready schwitzte, und er begann sich zu langweilen. Im Unterschied zu Gaunt wußte er, daß seine Chancen minimal waren. Er hatte die Anhörung verlangt, aber nur aus reinem Widerspruchsgeist. Er lehnte sich zurück und ließ seine Aufmerksamkeit abschweifen. Was Denis Gaunt auch erzählen mochte, nichts daran war ihm neu.

Dreißig lange Jahre hatte er in der kleinen Welt des Century House und des Geheimdienstes verbracht, beinahe sein gesamtes Arbeitsleben. Wenn ich jetzt vor die Tür gesetzt werde, fragte er sich, wohin gehe ich dann? Ja, er fragte sich sogar - und nicht zum erstenmal -, wie er überhaupt in diese seltsame, zwielichtige Welt geraten war. Er kam aus der Arbeiterschicht, und es war ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er es dereinst zu einem hochrangigen Beamten im SIS bringen werde.

Er war im Frühjahr 1939 als Sohn eines Milchmanns im Süden Londons zur Welt gekommen, im selben Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg ausbrach. Nur ganz vage, in ein paar Erinnerungsbildern, war ihm sein Vater noch gegenwärtig.

Nach der Kapitulation Frankreichs, 1940, war er als Baby zusammen mit seiner Mutter evakuiert worden, als die deutsche Luftwaffe mit ihren Bombenangriffen auf die britische Hauptstadt begann. Er erinnerte sich nicht mehr daran. Anscheinend - jedenfalls hatte seine Mutter es ihm später so erzählt - waren sie im Herbst 1940 in das kleine Reihenhaus in der armen, aber ordentlich gefegten Straße in Norbury zurückgekehrt, aber inzwischen war sein Vater eingezogen worden.

Es hatte ein Foto seiner Eltern vom Tag ihrer Hochzeit gegeben - daran erinnerte er sich ganz genau. Sie war in Weiß, hielt einen Strauß in den Händen, und der kräftige Mann neben ihr stand sehr steif und proper da, in seinem dunklen Anzug mit einer Nelke im Knopfloch des Revers. Es war auf dem Kaminsims gestanden, in einem silbernen Rahmen, und sie hatte es jeden Tag blankgeputzt. Später nahm ein anderes Foto seinen Platz am anderen Ende des Simses ein, die Aufnahme eines kräftigen, lächelnden Mannes in Uniform, der die Sergeant-Streifen am Ärmel trug.

Seine Mutter ging jeden Tag aus dem Haus und fuhr mit dem Bus nach Croydon, wo sie die Eingangsstufen und Dielen der begüterten Leute putzte, die dort wohnten. Sie wusch auch für andere Leute; er konnte sich noch schwach daran erinnern, daß die winzige Küche immer voller Dampf war, während sie die Nacht durcharbeitete, um am Morgen fertig zu sein.

Einmal, es mußte 1944 gewesen sein, kam der kräftige, lächelnde Mann nach Hause, hob ihn vom Boden auf und hielt den quietschenden Jungen hoch in die Luft. Dann ging er wieder fort, landete zusammen mit den alliierten Truppen an der Küste der Normandie und fiel beim Angriff auf Caen. Sam erinnerte sich, daß seine Mutter viel geweint und er versucht hatte, irgend etwas zu ihr zu sagen. Doch da ihm nichts eingefallen war, weinte er mit, obwohl er eigentlich nicht wußte, warum.

Im Januar darauf brachte ihn seine Mutter in einer Art Vorschule unter, damit sie jeden Tag nach Croydon fahren konnte, ohne ihn in der Obhut von Tante Vi lassen zu müssen. Er fand das schade, weil Tante Vi das Süßwarengeschäft weiter unten an der Straße führte und ihm erlaubte, den naßgeleckten Finger in das Bonbonglas zu stecken. Das war in jenem Frühjahr, in dem die V-1-Raketen der Deutschen, von den Startrampen in den Niederlanden abgeschossen, in London einzuschlagen begannen. Er erinnerte sich ganz deutlich an jenen Tag, kurz vor seinem sechsten Geburtstag, als der Mann in der Uniform eines Luftschutzwarts, auf dem Kopf den Helm und an der Seite die Gasmaske, in die Vorschule gekommen war.

Es hatte einen Luftangriff gegeben, und die Kinder hatten den Vormittag im Keller verbracht, was ihnen viel mehr Spaß machte als der Unterricht. Nach der Entwarnung waren sie wieder ins Klassenzimmer gegangen.

Der Mann hatte sich im Flüsterton mit der Direktorin unterhalten, die dann den Jungen an der Hand genommen, ihn in ihr Wohnzimmer hinter dem Klassenzimmer geführt und ihm Kümmelkuchen zu essen gegeben hatte. Dort wartete er, sehr klein und ratlos, bis der nette Mann vom Waisenhaus kam und ihn mitnahm. Später erzählten sie ihm, daß es das Foto in dem Silberrahmen und die Aufnahme von dem kräftigen, lächelnden Mann mit den Sergeant-Streifen nicht mehr gebe.

Er führte sich gut im Waisenhaus, bestand alle Prüfungen und trat nach dem Schulabschluß als blutjunger Soldat in die Armee ein. Als er achtzehn war, wurde er nach Malaysia versetzt, wo der nicht erklärte Dschungelkrieg zwischen den Briten und den kommunistischen Terroristen tobte. Er wurde der Nachrichtentruppe als Schreiber zugeteilt.

Eines Tages ging er zu seinem Oberst und machte einen Vorschlag. Der Oberst, ein Karriereoffizier, sagte sofort: »Schreiben Sie das auf.« Was McCready tat.

Die Männer von der Spionageabwehr hatten mit Hilfe einiger Malaien einen führenden Kopf der Terroristen gefangengenommen. McCready schlug vor, an die Chinesen die Nachricht durchsickern zu lassen, daß der Mann wie ein Kanarienvogel singe und an einem bestimmten Tag von Ipot nach Singapur gebracht werden solle.

Als die Terroristen den Konvoi attackierten, zeigte sich, daß der Lastwagen, in dem sie den Gefangenen vermuteten, innen gepanzert war und Schlitze in den Wänden hatte, hinter denen sich Maschinengewehre verbargen. Als das Gefecht vorüber war, lagen sechzehn chinesische Kommunisten tot im Busch. Zwölf weitere waren schwer verwundet, und mit den übrigen räumten die malaiischen >Scouts< auf. Sam McCready blieb noch ein weiteres Jahr auf seinem Posten in Kuala Lumpur, schied dann aus der Armee aus und kehrte nach England zurück. Der Vorschlag, den er für seinen Oberst niedergeschrieben hatte, wurde zu den Akten genommen, und irgendwann mußte ihn irgend jemand aufgestöbert haben.

Er stand gerade in der Schlange vor der Arbeitsvermittlung, als er merkte, wie ihm jemand leicht auf den Arm klopfte. Ein älterer Mann in einem Tweedjackett und mit einem weichen Filzhut auf dem Kopf schlug ihm vor, mit ihm auf ein Gläschen in das nächstgelegene Pub zu gehen. Nach zwei Wochen und drei weiteren Einstellungsgesprächen wurde er in die >Firma< aufgenommen. Seither, dreißig Jahre lang, war für ihn die >Firma< die einzige Familie gewesen, die er je gehabt hatte.

Plötzlich hörte er, wie jemand seinen Namen nannte, und fuhr aus seinen Träumereien hoch. Es wäre eigentlich besser gewesen, aufzupassen, wies er sich zurecht. Schließlich sprechen die ja über meine eigene Karriere.

Es war Denis Gaunt, der ein umfangreiches Dossier in den Händen hielt.

»Ich denke, meine Herren, daß es vielleicht nützlich wäre, wenn wir uns jetzt eine Reihe von Ereignissen aus dem Jahr 1986 vornehmen, die allein schon eine nochmalige Überprüfung von Sam McCreadys vorzeitiger Pensionierung rechtfertigen könnten. Diese Reihe von Ereignissen begann, zumindest soweit es uns betrifft, an einem Frühjahrsvormittag auf dem Truppenübungsplatz der Salisbury Plain.«