Grenzgänge

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Mai 1983

Der russische Oberst trat langsam und vorsichtig aus dem Schatten, obwohl er das Signal gesehen und erkannt hatte. Begegnungen mit seinem britischen Führungsoffizier waren gefährlich und daher tunlichst zu vermeiden. Um die heutige aber hatte er selbst gebeten. Er mußte ihm Dinge sagen, Forderungen stellen, die nicht in Form einer schriftlichen Nachricht in einen toten Briefkasten geworfen werden konnten. Ein Stück Blech auf dem Dach eines Schuppens weiter unten am Bahngleis flatterte knarrend, als es von einem frühmorgendlichen Windstoß erfaßt wurde. Er drehte sich um, registrierte die Quelle des Geräuschs und starrte wieder auf den dunklen Fleck neben der Lokomotivendrehscheibe.

»Sam?« rief er leise.

Sam McCready lag schon auf der Lauer. Bereits seit einer Stunde wartete er im Dunkeln auf dem aufgelassenen Rangierbahnhof am Stadtrand von Ost-Berlin. Er hatte gesehen oder vielmehr gehört, wie der Russe eintraf, aber trotzdem gewartet, um sich zu vergewissern, daß auf dem staub- und schuttbedeckten Gelände keine anderen Schritte zu hören waren. So oft er das alles auch schon erlebt hatte, der Knoten unten im Magen wollte sich nicht auflösen.

Zur verabredeten Zeit, nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß außer ihnen beiden niemand hier war, hatte er mit dem Daumennagel das Zündholz angerissen, so daß es einmal kurz aufflammte und dann verlosch. Der Russe hatte das Signal gesehen und war hinter dem alten Wartungshäuschen zum Vorschein gekommen. Die beiden Männer hatten allen Grund, lieber in der Dunkelheit zu operieren, denn der eine war ein Verräter und der andere ein Spion.

McCready trat aus dem Dunkel und blieb stehen, damit der Russe ihn sehen und sich vergewissern konnte, daß auch er allein war. Dann trat er auf den Russen zu.

»Jewgeni! Lange nicht gesehen, mein Freund.«

In einem Abstand von fünf Schritten konnten sie einander deutlich sehen und feststellen, daß sie keinem Double gegenüberstanden, daß sie nicht hinters Licht geführt worden waren. Denn das war immer das Gefährliche bei einer Begegnung von Mann zu Mann. Es hätte sein können, daß man den Russen enttarnt und ihm bei den Verhören das Kreuz gebrochen hatte, so daß der KGB und der Staatssicherheitsdienst der DDR einen hochrangigen britischen Geheimdienstmann in eine Falle locken konnten. Oder aber die Nachricht des Russen war abgefangen worden, und nun ging er in die Falle und anschließend in die lange dunkle Nacht der Verhöre, die schließlich mit einem Genickschuß endete. Mütterchen Rußland kannte kein Erbarmen mit seiner Verräter-Elite.

McCready umarmte den andern nicht, gab ihm nicht einmal die Hand. Manche Spitzenleute brauchten das; die persönliche Note, den ermutigenden körperlichen Kontakt. Jewgeni Pankratin, Oberst der Roten Armee, Angehöriger der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, war eine kalte Natur, reserviert, verschlossen, voll selbstbewußter Arroganz.

Er war zum erstenmal 1980 in Moskau dem scharfen Auge eines Attachés an der Britischen Botschaft aufgefallen. Auf einem diplomatischen Empfang mit höflich-banaler Konversation plötzlich die beißende Bemerkung des Russen über die Gesellschaft seines eigenen Landes. Der Diplomat hatte sich nichts anmerken lassen, kein Wort gesagt. Aber er hatte die Bemerkung registriert und weitergemeldet. Ein möglicher Kandidat. Zwei Monate danach war ein erster, tastender Annäherungsversuch unternommen worden. Oberst Pankratin hatte unverbindlich, aber nicht abweisend reagiert. Das galt als ein positives Zeichen. Dann war er versetzt worden, nach Potsdam, zur Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, der aus zweiundzwanzig Divisionen mit 330.000 Mann bestehenden Armee, die dafür sorgte, daß die Ostdeutschen botmäßig blieben, daß die Marionette Honecker sich an der Macht hielt, die Westberliner in Furcht lebten und die NATO sich für einen alles niederwalzenden Vormarsch durch die norddeutsche Tiefebene in Bereitschaft hielt.

McCready hatte den Fall übernommen; es war sein Revier. 1981 unternahm er selbst einen Annäherungsversuch, und Pankratin wurde gewonnen. Kein großes Theater, keine Gefühlsausbrüche, die man sich anhören und für die man Verständnis zeigen mußte. Er machte kein Hehl daraus, daß er Geld sehen wollte.

Menschen verraten das Land ihrer Väter aus vielerlei Gründen: aus persönlichem Groll, aus ideologischen Motiven, wegen einer entgangenen Beförderung, aus Haß auf einen bestimmten Vorgesetzten, aus Scham wegen bestimmter sexueller Vorlieben, aus Angst, wegen eines Versagens zur Rechenschaft gezogen zu werden. Bei den Russen war es in der Regel eine tiefe Ernüchterung; sie hatten genug von der Korruption, den Lügen und der Vetternwirtschaft, die sie rings um sich erlebten. Pankratin jedoch handelte aus rein materiellen Beweggründen, ihm ging es schlicht und einfach nur ums Geld. Eines Tages, sagte er, werde er hinüberkommen, aber dann wolle er ein reicher Mann sein. Er hatte das Treffen in Ost-Berlin, das im Morgengrauen stattfand, vereinbart, um mehr herauszuschinden.

Pankratin griff in seinen Trenchcoat und zog einen dicken, braunen Umschlag heraus, den er McCready reichte. Kühl beschrieb er den Inhalt des Umschlags, während McCready das Päckchen in seiner dicken Jacke unsichtbar verstaute: Namen, Örtlichkeiten, Gefechtsbereitschaft einzelner Divisionen, Operationsbefehle, Truppenbewegungen, Abkommandierungen, Verbesserungen von Waffensystemen. Am wichtigsten war natürlich, was Pankratin über die SS-20 beizusteuern hatte, die schreckenerregenden Mittelstreckenraketen auf mobilen Abschußrampen, jede mit drei nuklearen Sprengköpfen bestückt, die individuell gesteuert werden konnten und auf britische oder kontinental-europäische Städte gerichtet waren. Pankratin zufolge rückten sie zu dieser Zeit in die Wälder Sachsens und Thüringens, in größere Grenznähe vor, so daß sie Ziele in einem Bogen, der von Oslo über Dublin bis nach Palermo reichte, bedrohen konnten. Im Westen zogen gleichzeitig gewaltige Kolonnen naiver Linker, die es aufrichtig meinten, hinter den Bannern der Friedensbewegung durch die Städte und forderten, ihre Regierungen sollten als Zeichen ihrer Friedensliebe auf ihre Defensivwaffen verzichten.

»Es hat natürlich seinen Preis«, sagte der Russe.

»Klar.«

»200.000 Pfund Sterling.«

»Einverstanden.« Seine Regierung hatte zwar nicht ihr Einverständnis erklärt, aber McCready wußte, daß man das Geld irgendwo auftreiben würde.

»Noch etwas. Soviel ich weiß, bin ich für eine Beförderung vorgesehen. Zum Generalmajor. Und für eine Versetzung. Zurück nach Moskau.«

»Gratulation. Und was sollen Sie dort werden, Jewgeni?«

Pankratin legte eine Pause ein, um seine Eröffnung wirken zu lassen.

»Stellvertretender Direktor des gemeinsamen Planungsstabs im Verteidigungsministerium.«

McCready war beeindruckt. In Moskau, in der Frunse-Straße Nr. 19, einen Mann zu haben, das wäre einzigartig.

»Und wenn ich hinüberkomme, möchte ich eine große Luxuswohnanlage haben. In Kalifornien. Auf meinen Namen im Grundbuch eingetragen. Vielleicht in Santa Barbara. Dort soll es sehr schön sein.«

»Das stimmt«, sagte McCready. »Sie möchten sich nicht in England niederlassen? Wir würden uns um Sie kümmern.«

»Nein, ich möchte in der Sonne leben. In der Sonne Kaliforniens. Und eine Million Dollar, US-Dollar, auf mein Konto dort.«

»Eine Wohnung, das ließe sich einrichten«, sagte McCready. »Und auch eine Million Dollar. Wenn das Material stimmt.«

»Keine Wohnung, Sam. Eine Luxuswohnanlage. Damit ich von den Mieteinnahmen leben kann.«

»Jewgeni, Sie verlangen da zwischen fünf und acht Millionen US-Dollar. Ich glaube nicht, daß meine Leute eine solche Summe aufbringen können. Nicht einmal für Ihr Material.«

Unter dem militärischen Schnauzbart des Russen schimmerten in einem kurzen Lächeln die Zähne auf.

»Wenn ich in Moskau bin, wird das Material, das ich Ihnen liefern werde, Ihre kühnsten Erwartungen übertreffen. Sie werden das Geld schon auftreiben.«

»Warten wir erst mal ab, bis Sie befördert werden, Jewgeni. Dann sprechen wir über eine Wohnanlage in Kalifornien.«

Fünf Minuten später trennten sie sich, der Russe, um an seinen Schreibtisch in Potsdam zurückzukehren, der Engländer, um durch die Mauer nach West-Berlin zurückzuschlüpfen. Am Checkpoint Charlie würde man ihn durchsuchen. Daher würde das Päckchen die Mauer auf einem anderen Weg, sicherer, aber langsamer, überwinden. Erst wenn er es in West-Berlin wieder in Händen hatte, würde Sam McCready nach London zurückfliegen.

 

 

Oktober 1983

Bruno Morenz klopfte an die Tür und trat ein, als er das joviale »Herein« hörte. Sein Vorgesetzter war allein in dem Büro, er saß in seinem gewichtigen, ledernen Drehsessel hinter seinem gewichtigen Schreibtisch. Er rührte gerade genüßlich seine erste Tasse Kaffee an diesem Tag um, den ihm das aufmerksame Fräulein Keppel, die gepflegte alte Jungfer, die alle seine legitimen Bedürfnisse befriedigte, in der Tasse aus Chinaporzellan serviert hatte.

Wie Morenz gehörte auch der >Herr Direktor< der Generation an, die sich noch an das Kriegsende und an die Nachkriegsjahre erinnerte, als die Deutschen sich mit Zichorienkaffee behelfen mußten und nur die amerikanischen Besatzer und gelegentlich die Engländer an echten Kaffee herankamen. Diese Zeiten waren vorüber. Dieter Aust genoß seinen kolumbianischen Kaffee am Morgen. Morenz bot er keinen an.

Beide Männer gingen auf die Fünfzig zu, doch damit waren die Gemeinsamkeiten auch schon zu Ende. Aust war klein, rundlich, sorgfältig rasiert und gekleidet und stand an der Spitze des Kölner Amtes. Morenz war größer, kräftig, ergraut. Aber er hielt sich schlecht, schien beim Gehen zu watscheln, und bot einen klobigen, schlampigen Anblick in seinem Tweedanzug. Außerdem war er ein bescheidener Beamter, der nicht im Traum daran gedacht hätte, nach dem Direktorentitel zu streben, samt dem dazugehörigen hochbedeutsamen Büro und einem Fräulein Keppel, das ihm seinen kolumbianischen Kaffee in Chinaporzellan servierte, ehe er sich an die Arbeit setzte.

Die Szene, wie ein Vorgesetzter einen Untergebenen zu einem Gespräch zu sich bestellte, spielte sich an diesem Morgen wahrscheinlich in zahlreichen Chefbüros überall in Deutschland ab, doch der Arbeitsbereich dieser beiden Männer hätte wohl schwerlich einen Vergleich gefunden. Und dies galt auch für die anschließende Unterhaltung. Denn Dieter Aust war Chef der Kölner Außenstelle des Bundesnachrichtendienstes (BND).

Die Zentrale des BND befindet sich in einem ausgedehnten, von einer hohen Mauer umgebenen Gelände am Rand der bayerischen Gemeinde Pullach, rund acht Kilometer südlich von München auf dem Hochufer der Isar gelegen - auf den ersten Blick eine Kuriosität, wenn man bedenkt, daß seit 1949 Bonn am Rhein, Hunderte von Kilometern entfernt, Bundeshauptstadt ist. Der Grund ist historischer Natur. Die Amerikaner nämlich schufen nach dem Krieg eine westdeutsche Spionageorganisation, um ein Gegengewicht zu den Bemühungen des neuen Feindes, der UdSSR, auf diesem Gebiet zu schaffen. Zum Leiter dieses Dienstes bestimmten sie Reinhard Gehlen, früher Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, und der Dienst selbst trug nur die schlichte Bezeichnung >Organisation Gehlen<. Die Amerikaner wollten Gehlen innerhalb ihrer Besatzungszone halten, und dazu gehörte eben auch Bayern.

Konrad Adenauer, Oberbürgermeister von Köln, war damals ein noch nicht sehr bekannter Politiker. Als 1949 die Bundesrepublik Deutschland ins Leben gerufen und Adenauer ihr erster Kanzler wurde, bestimmte man erstaunlicherweise seine Heimatstadt Bonn zur Hauptstadt. Beinahe sämtlichen Bundesorganen wurde nahegelegt, dort ihren Sitz zu nehmen, doch Gehlen widersetzte sich, und seine Organisation, inzwischen in BND umbenannt, blieb in Pullach, wo sich noch heute die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes befindet. Allerdings unterhält der BND in sämtlichen Bundesländern Außenstellen, und eine der wichtigsten findet sich in Köln. Der Grund liegt darin, daß Köln Bonn am nächsten liegt. Schon allein die zahlreichen Ausländer in Bonn boten ein reiches Betätigungsfeld für den BND, der sich im Unterschied zu seiner Schwesterorganisation, dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), mit der Auslandsaufklärung befaßt.

Morenz folgte Austs Aufforderung, Platz zu nehmen, und überlegte, was er, wenn überhaupt, falsch gemacht haben könnte. Die Antwort lautete: nichts.

»Mein lieber Morenz, ich will nicht lange um die Sache herumreden.« Aust betupfte sich mit einem frischen Leinentaschentuch die Lippen. »Nächste Woche tritt unser Kollege Dorn in den Ruhestand, wie Sie natürlich wissen. Seine Pflichten übernimmt sein Nachfolger. Er ist viel jünger und, das dürfen Sie mir glauben, ein Typ, der es noch weit bringen wird. Eine Aufgabe aus seinem Bereich verlangt jedoch einen Mann in reiferen Jahren. Ich hätte gern, daß Sie sie übernehmen.«

Morenz nickte, als hätte er verstanden, was keineswegs der Fall war. Aust formte mit seinen pummeligen Fingern eine Art Giebel und blickte versonnen zum Fenster hinaus, wobei sein Gesicht einen Ausdruck des Schmerzes über die Extravaganzen seiner Mitmenschen annahm. Er wählte seine Worte mit Bedacht.

»Hin und wieder treffen bei uns Gäste ein, ausländische Politiker, die nach einem mit Verhandlungen oder offiziellen Begegnungen verbrachten Tag das Bedürfnis nach Zerstreuung... nach Unterhaltung verspüren. Unsere verschiedenen Ministerien arrangieren natürlich gerne Besuche in erstklassigen Restaurants, von Konzerten, von Opern und Ballettaufführungen. Sie verstehen?«

Morenz nickte wieder. Die Sache war klar wie Kloßbrühe.

»Leider gibt es unter unseren Gästen einige, zumindest aus arabischen oder afrikanischen Ländern, gelegentlich auch aus europäischen, die recht deutlich zu verstehen geben, daß sie sich lieber in weiblicher Gesellschaft entspannen würden. In bezahlter weiblicher Gesellschaft.«

»Callgirls«, sagte Morenz.

»Kurzum: ja. Und, um zu vermeiden, daß wichtige ausländische Besucher die Dienste von Hotelportiers oder Taxifahrern in Anspruch nehmen, den Rotlichtbezirk in der Hornstraße aufsuchen oder in Bars und Nachtklubs in Schwierigkeiten geraten, bietet die Bundesregierung ihnen eine bestimmte Telefonnummer an. Glauben Sie mir, lieber Morenz, so etwas geschieht in jeder Hauptstadt der Welt. Wir bilden da keine Ausnahme.«

»Wir beschäftigen Callgirls?« fragte Morenz. Aust war schockiert.

»Beschäftigen? Davon kann keine Rede sein. Wir beschäftigen und wir bezahlen sie nicht. Das tut der Kunde. Und, ich muß das betonen, wir werten auch nicht die Erkenntnisse bezüglich der Gepflogenheiten einiger unserer hochgestellten ausländischen Gäste aus, die dabei vielleicht anfallen. Die sogenannte Honigfalle. Wir können uns nicht über die Vorschriften und Bestimmungen unserer Verfassung hinwegsetzen, die ganz eindeutig sind. Die Honigfallen überlassen wir den Russen und.« Er rümpfte die Nase, ». den Franzosen.«

Er nahm drei Aktendeckel von seinem Schreibtisch und reichte sie Morenz.

»Es handelt sich um drei junge Frauen. Körperlich ganz verschiedene Typen. Ich bitte Sie, diese Sache zu übernehmen, weil Sie ein reifer, verheirateter Mann sind. Beaufsichtigen Sie die drei jungen Damen mit einem väterlichen Blick. Sorgen Sie dafür, daß sie sich regelmäßig ärztlich untersuchen lassen und auf ihr Äußeres achten. Kontrollieren Sie, ob sie in der Stadt oder krank oder auf Urlaub sind - kurzum: ob sie verfügbar sind.

Und als letztes: Es kann sein, daß Sie hin und wieder von einem Herrn Jakobsen angerufen werden. Denken Sie sich nichts, wenn sich die Stimme des Anrufers verändert - es handelt sich immer um Herrn Jakobsen. Entsprechend den Neigungen des jeweiligen Gastes, über die Herr Jakobsen Sie aufklären wird, wählen Sie eine der drei Damen aus, legen den Zeitpunkt für einen Besuch fest, sorgen dafür, daß sie zur Verfügung steht. Herr Jakobsen wird sich dann bei Ihnen telefonisch nach Zeit und Ort erkundigen und beides dem Besucher mitteilen. Das übrige überlassen wir dem Callgirl und dem Kunden. Wirklich keine sehr beschwerliche Aufgabe. Sie dürfte Ihre übrigen Pflichten kaum beeinträchtigen.«

Morenz, die Aktendeckel in der Hand, rappelte sich schwerfällig hoch. Toll, dachte er, als er das Chefbüro verließ, da habe ich dem BND dreißig Jahre lang treu gedient, und drei Jahre vor der Pensionierung kommt es so weit, daß ich Nutten für Ausländer betreuen muß, die eine Nacht über die Stränge schlagen wollen.

 

 

November 1983

Sam McCready saß in einem abgedunkelten Raum in einem tiefen Kellergeschoß des Century House in London, der Zentrale des britischen Geheimdienstes SIS, von der Presse zumeist fälschlich MI-6 und von den Insidern >die Firma< genannt. McCready blickte auf einen zuckenden Bildschirm, auf dem die geballte militärische Macht der UdSSR (beziehungsweise ein Teil davon) in endloser Formation über den Roten Platz zog. Die Sowjetführung hält zweimal in jedem Jahr auf diesem Platz voller Stolz eine gewaltige Parade ab; die eine zum 1. Mai und die andere zur Feier der Großen Oktoberrevolution. Letztere findet am 7. November statt, und heute war der 8. November. Die Kamera verließ die Kolonnen dahinrumpelnder Panzer und schwenkte über die Reihe der Gesichter auf der Tribüne oberhalb des Lenin-Mausoleums.

»Langsamer«, sagte McCready. Der Techniker neben ihm fuhr mit einer Hand über das Pult, und der Schwenk wurde langsamer. Präsident Reagans >Reich des Bösen< (wie er die Sowjetunion später nannte) machte mehr den Eindruck eines Altersheims. Vor dem kalten Wind verschwanden die verfallenen, vom Alter gezeichneten Gesichter beinahe in den hochgeschlagenen Mantelkrägen, die fast bis zu den grauen Filzhüten oder Tschapkas reichten.

Der Generalsekretär selbst war nicht anwesend. Juri V. Andropow, KGB-Chef von 1963 bis 1978, der Ende 1982 die Nachfolge des allzu spät verstorbenen Leonid Breschnew angetreten hatte, ging in der Politbüro-Klinik draußen in Kunzewo selbst Schritt für Schritt dem Tod entgegen. Er hatte sich seit dem vergangenen August nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt, und dazu sollte es auch nicht mehr kommen.

Tschernenko (der ein paar Monate später Andropows Nachfolger werden sollte) stand oben auf der Tribüne, zusammen mit Gromyko, Kirilenko, Tichonow und dem Parteitheoretiker Suslow. Der Verteidigungsminister, Ustinow, war in seinen Marschallmantel gehüllt, der vom Kinn bis zur Taille derart mit Orden geschmückt war, daß er sicher einen guten Windschutz abgab. Ein paar der Anwesenden waren immerhin noch jung genug, daß man qualifizierte Arbeit von ihnen erwarten konnte, beispielsweise der Moskauer Parteichef Grischin und der Parteiboß von Leningrad, Romanow. Am Rand stand der jüngste von allen und noch immer ein Außenseiter, ein untersetzter Mann namens Gorbatschow.

Die Kamera schwenkte nach oben, um die Gruppe der Offiziere ins Bild zu bringen, die hinter Marschall Ustinow standen.

»Moment«, sagte McCready. Das Bild erstarrte. »Der dort, der dritte von links. Kann ich den schärfer haben, können Sie ihn ranholen?«

Der Techniker warf einen Blick auf sein Pult und tat das Gewünschte. Die Gruppe der Offiziere kam immer näher.

Manche gerieten aus dem Bild. Derjenige, den McCready gemeint hatte, rückte zu sehr nach rechts. Der Techniker ging drei oder vier Bilder zurück, bis der Mann ganz in der Mitte war, und holte ihn näher heran. Der Offizier war durch einen General der Strategischen Raketentruppen halb verdeckt, aber sein Schnauzbart, bei sowjetischen Offizieren etwas Unübliches, beseitigte jeden Zweifel. Die Schulterstücke auf dem Offiziersmantel zeigten, daß er Generalmajor war.

»Donnerwetter«, flüsterte McCready, »er hat es geschafft! Er hat es nach dort oben geschafft.« Er wandte sich dem Techniker mit seiner unbewegten Miene zu. »Jimmy, wie zum Teufel kommen wir an eine Luxuswohnanlage in Kalifornien ran?«

»Nun, die Antwort ist kurz, mein lieber Sam«, sagte Timothy Edwards zwei Tage später. »Das schaffen wir nicht. Ich weiß, es ist bitter, aber ich habe die Sache dem Chef und den Geldfritzen vorgelegt, und die Antwort lautet: Er ist für uns zu kostspielig.«

»Aber sein Material ist von unschätzbarem Wert«, protestierte McCready. »Der Mann ist mehr wert als Gold. Er ist eine Hauptader aus reinem Platin.«

»Das ist unbestritten«, sagte Edwards ruhig. Er war zehn Jahre jünger als McCready, ein Erfolgstyp mit einem guten Universitätsdiplom, und kam aus begüterten Verhältnissen. Er hatte kaum die Dreißiger hinter sich und war bereits Stellvertreter des Chefs. Die meisten Männer seines Alters würden sich glücklich schätzen, wenn sie an der Spitze einer Auslandsstation stünden, Abteilungschef wären, würden sich danach sehnen, es zum Controller zu bringen. Und Edwards hatte schon beinahe die oberste Etage erreicht.

»Sehen Sie«, sagte er, »der Chef war gerade in Washington. Er hat Ihren Mann erwähnt, für den Fall, daß der wirklich befördert wird. Unsere amerikanischen Vettern haben immer sein Material bekommen, seit Sie ihn an Land gezogen haben.

Sie waren immer begeistert darüber. Und jetzt hat es den Anschein, daß sie ihn mit Freuden übernehmen und auch die Kohle rausrücken werden, die er verlangt.«

»Er ist empfindlich, mimosenhaft. Er kennt nur mich. Vielleicht will er für niemand anderen arbeiten.«

»Jetzt aber, Sam. Sie werden mir als erster zugeben, daß es ihm nur ums Materielle geht. Der Typ geht dorthin, wo das Geld lockt. Und wir bekommen ja das Material. Sorgen Sie bitte dafür, daß die Übergabe glatt vor sich geht.«

Er legte eine Pause ein und strahlte McCready mit seinem gewinnendsten Lächeln an.

»Übrigens, der Chef möchte Sie sehen. Morgen früh um zehn. Ich denke nicht, daß ich meine Kompetenzen überschreite, wenn ich Ihnen verrate, daß er an einen neuen Auftrag für Sie denkt. Ein Schritt nach oben, Sam. Sehen Sie, manchmal entwickelt sich alles so, daß es gar nicht besser gehen könnte. Pankratin ist wieder in Moskau, und damit kommen Sie schwerer an ihn heran; Sie haben sich eine ganze Ewigkeit mit Ostdeutschland beschäftigt. Unsere Vettern sind bereit, die Sache zu übernehmen, und Sie bekommen eine wohlverdiente Beförderung. Vielleicht eine Abteilung.«

»Ich bin ein Mann für die Front«, sagte McCready.

»Warum hören Sie sich nicht erst einmal an, was der Chef Ihnen erzählen wird«, schlug Edwards vor.

Vierundzwanzig Stunden später wurde Sam McCready zum Chef von DD and P ernannt. Betreuung, Führung und Bezahlung von General Jewgeni Pankratin übernahm die CIA.

 

 

Juli 1985

In diesem Sommer war es in Köln sehr heiß. Wer es sich leisten konnte, hatte Frau und Kinder an die Seen, in waldige Gegenden, ins Gebirge oder auch in die Villa am Mittelmeer geschickt und plante, sich ihnen später zuzugesellen. Bruno Morenz besaß kein Feriendomizil. Er war ein unermüdlicher Arbeiter. Sein Gehalt war nicht hoch und würde vermutlich auch nicht mehr steigen, denn eine weitere Beförderung war ganz unwahrscheinlich, da er nur noch drei Jahre bis zu seiner Pensionierung hatte.

Er saß auf einer Caféterrasse und trank kleine Schlucke aus seinem hohen Bierglas. Er hatte die Krawatte gelockert und das Sakko über die Stuhllehne gehängt. Niemand würdigte ihn auch nur eines flüchtigen Blickes. Er hatte seinen winterlichen Tweedanzug gegen einen aus Leinen vertauscht, der womöglich noch formloser wirkte. Er saß vornübergebeugt bei seinem Bier und fuhr sich hin und wieder mit der Hand durch das dichte, graue Haar, bis es zerzaust war. Bruno Morenz war ein Mann ohne jede Eitelkeit, was sein Äußeres anging, denn sonst wäre er sich mit einem Kamm durchs Haar gefahren, hätte er sich ein bißchen sorgfältiger rasiert, ein anständiges Kölnisch Wasser benutzt (schließlich lebte er in der Stadt, wo es erfunden worden war) und sich einen eleganten, gutgeschnittenen Anzug zugelegt. Er hätte das Hemd mit den leicht ausgefransten Manschetten weggeworfen und die Schultern durchgedrückt. Dann hätte er durchaus den Eindruck eines Mannes gemacht, von dem Autorität ausgeht. Nein, persönliche Eitelkeit kannte er nicht.

Träume immerhin hatte er. Oder vielmehr: Er hatte sie gehabt. Früher, vor langer Zeit. Sie waren nicht in Erfüllung gegangen. Ein Mann von zweiundfünfzig Jahren, verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder, starrte Bruno Morenz düster auf die Passanten drunten auf dem Gehsteig. Er litt, ohne sich dessen bewußt zu sein, an Torschlußpanik.

Hinter der Fassade des stämmigen, freundlichen Mannes, der unverdrossen seiner Arbeit nachging, am Monatsende sein bescheidenes Gehalt entgegennahm und jeden Abend in den trauten Familienkreis zurückkehrte, war Bruno Morenz ein zutiefst unglücklicher Mann.

Er war in einer Ehe ohne Liebe an seine Frau Irmtraut gekettet, ein Wesen von abgrundtiefer Torheit und den Konturen einer Kartoffel, die es sich, indes die Jahre dahingingen, sogar abgewöhnt hatte, über sein kärgliches Gehalt und die ausgebliebenen Beförderungen zu jammern. Was seinen Beruf betraf, wußte sie nur, daß er in einer der staatlichen Dienststellen arbeitete, die sich mit der Beamtenversorgung beschäftigten, und es interessierte sie auch gar nicht. Wenn er ungepflegt aussah, mit ungebügelten Hemden und in einem unförmigen Anzug, lag das zum Teil daran, daß Irmtraut Morenz sich auch dafür nicht mehr interessierte. Sie sorgte dafür, daß ihre kleine Wohnung in einer gesichtslosen Straße in Porz halbwegs in Schuß und aufgeräumt war, und wenn er abends nach Hause kam, stand zehn Minuten später sein Abendessen auf dem Tisch, kalt, wenn er verspätet eintraf.

Seine Tochter Ute hatte sich sofort nach dem Schulabschluß von den Eltern abgesetzt, sich verschiedenen linken Ideen verschrieben (er hatte sich wegen Utes politischer Aktivitäten in seinem Amt überprüfen lassen müssen, ob er nicht ein Sicherheitsrisiko darstelle) und lebte nun zusammen mit mehreren gitarrenklimpernden Hippies in einem besetzten Haus in Düsseldorf. Bruno Morenz wurde sich nie klar darüber, mit welchem von ihnen sie etwas hatte - vielleicht mit allen. Sein Sohn Lutz lebte noch zu Hause, wo er unausgesetzt vor der Glotze hockte. Der picklige Jüngling war durch jede Prüfung gerasselt, an der er jemals teilgenommen hatte, und wollte von Bildung und einer Welt, die auf derlei Dinge viel Wert legte, nichts mehr wissen. Statt dessen hatte er sich, als Zeichen seines persönlichen Protests gegen die Gesellschaft, eine Punkfrisur und entsprechende Klamotten zugelegt, und sich zugleich gehütet, irgendeine Arbeit zu akzeptieren, welche ihm diese Gesellschaft vielleicht anzubieten bereit war.

Bruno Morenz hatte sich Mühe gegeben; jedenfalls sah er es so. Er hatte sein Bestes getan, so wie er es verstand. Er hatte fleißig gearbeitet, seine Steuern gezahlt, seine Familie nach bestem Vermögen durchgebracht und selbst nicht viel, ja, herzlich wenig vom Leben gehabt.

In drei Jahren, in ganzen sechsunddreißig Monaten, würde man ihn aufs Altenteil schicken. Im Büro würde es eine kleine Party geben, Aust eine Rede halten, man würde mit Sektgläsern anstoßen, und dann ging er seiner Wege. Wohin? Er bezog dann seine Pension, und er hatte die Ersparnisse aus seiner >anderen Arbeit<, die er in verschiedenen deutschen Städten auf kleinen bis mittleren Konten sorgsam gehortet hatte. Es würde genug da sein, mehr als irgend jemand annahm oder argwöhnte; genug, um ein Heim für seinen Lebensabend zu kaufen und zu tun, woran ihm wirklich etwas lag.

Hinter seiner freundlichen Fassade hatte Bruno Morenz auch seine Geheimnisse. Er hatte niemals Aust oder sonst jemandem in der Organisation von der >anderen Arbeit< erzählt - es war schließlich eine streng verbotene Tätigkeit, und wäre sie ruchbar geworden, hätte dies zu seiner sofortigen Entlassung geführt. Auch Irmtraut hatte er nie etwas über diese Arbeit und ebensowenig über seine geheimen Ersparnisse anvertraut. Aber das war nicht sein eigentliches Problem - so, wie er die Sache sah.

Sein wirkliches Problem, so wie er es sah, das war sein Wunsch, frei zu sein. Er wollte noch einmal von vorne anfangen, und genau zur rechten Zeit war ihm auch klar geworden, wie. Denn Bruno Morenz, ein Mann in vorgerückten Jahren, hatte sich verliebt. Hatte sich bis über beide Ohren rettungslos verliebt. Und das Wunderbare daran war, daß Renate, seine phantastische Renate in ihrer jugendlichen Schönheit, in ihn ebenso verliebt war, wie er in sie.

Dort, in diesem Café, an diesem Sommernachmittag, faßte Bruno Morenz endlich seinen Entschluß. Ich werde es tun, nahm er sich vor, ich werde es ihr sagen. Er würde ihr sagen, daß er vorhatte, Irmtraut - wohlversorgt - zu verlassen, in Frühpension zu gehen und sie mitzunehmen in ein neues Leben, in dem Traumhaus, das sie sich droben im Norden seiner Heimat an der Küste zulegen würden.

Bruno Morenz’ wirkliches Problem, wie er es nicht sah, bestand darin, daß er auf eine massive Midlifecrisis nicht etwa zusteuerte, sondern daß er schon mitten drin steckte. Weil er das nicht erkannte und weil er in seinem Beruf gelernt hatte, sich zu verstellen, bemerkte auch sonst niemand etwas davon.

Renate Heimendorf war sechsundzwanzig, eine mit 1,75 Meter hochgewachsene und wohlproportionierte Brünette. Mit achtzehn Jahren war sie die Geliebte und Gespielin eines wohlhabenden Unternehmers, dreimal so alt wie sie, geworden, und dieses Verhältnis hatte fünf Jahre gedauert. Als ihr Liebhaber an einer Herzattacke verschied, die er sich vermutlich durch allzu üppigen Genuß von Essen, Trinken, Zigarren und Liebesfreuden mit Renate zugezogen hatte, hatte er ungalanter Weise vergessen, sie in seinem Testament zu bedenken, und die rachsüchtige Witwe war nicht gesonnen, diesem Versäumnis abzuhelfen.

Renate Heimendorf war es gelungen, die Ausstattung ihres teuer eingerichteten Liebesnestes zu verscherbeln, die zusammen mit dem Schmuck und den Kinkerlitzchen, die er ihr im Laufe der Jahre geschenkt hatte, bei einer Versteigerung eine ansehnliche Summe erbrachte.

Allerdings nicht genug, um sich damit zur Ruhe zu setzen, nicht genug, um den Lebensstil, an den sie sich gewöhnt hatte, aufrechterhalten zu können. Sie hatte nicht die Absicht, darauf zu verzichten und sich mit der Position und dem armseligen Gehalt einer Sekretärin zu begnügen. So beschloß sie, ins Geschäftsleben einzusteigen. Angesichts ihrer Begabung, aus einem übergewichtigen älteren Mann ohne jede Kondition eine gewisse Erregung herauszukitzeln, gab es eigentlich nur eine einzige Branche, in der sie sich etablieren konnte.

Sie schloß einen langfristigen Mietvertrag für ihre Wohnung im ruhigen und bürgerlich-gesetzten Hahnwald ab, einem baumreichen Villenvorort von Köln. Die Behausungen in dieser Gegend waren solide Back- oder Sandsteinhäuser, auch das Haus, in dem sie wohnte und wirkte. Es war ein vierstöckiges Gebäude, dessen Wohnungen jeweils eine ganze Etage einnahmen. Ihr Zuhause befand sich im ersten Stock. Nachdem sie eingezogen war, ließ sie einige Umbauten vornehmen.

Die Wohnung hatte ein Wohnzimmer, eine Küche, ein Bad, zwei Schlafzimmer sowie eine große Diele und einen Korridor. Das Wohnzimmer befand sich links von der Diele, die Küche daneben. Noch weiter hinten, links vom Korridor, der von der Diele aus nach rechts führte, waren ein Schlaf- und das Badezimmer. Das größere der beiden Schlafzimmer befand sich am Ende des Flurs, so daß das Badezimmer zwischen den Schlafzimmern lag. Bis zur Tür des größeren Schlafzimmers war in die linke Wand ein zwei Meter breiter Schrank für Winterkleidung eingebaut, der dem Badezimmer etwas Platz wegnahm.

Renate Heimendorf schlief in dem kleineren Schlafzimmer und benützte das größere am Ende des Korridors als Arbeitsstätte. Zu den Arbeiten, die sie hatte vornehmen lassen, hatte neben dem Einbau des Schranks die Schallisolierung des großen Schlafzimmers gehört: die Wände wurden mit Korkplatten verkleidet, die Tür erhielt an der Innenseite eine dicke Polsterung. Aus dem Zimmer konnten nur wenige Geräusche nach außen dringen und die Nachbarn stören oder alarmieren, was kein Schaden war. Der Raum mit seiner ungewöhnlichen Ausstattung war immer sorgfältig verschlossen.

Der Schrank im Korridor enthielt nur normale Wintersachen und Regenmäntel. Weitere Schränke im >Arbeitszimmer< bargen ein reichhaltiges Sortiment exotischer Damenunterwäsche, alle möglichen Outfits vom Schul- und Dienstmädchen über Braut und Kellnerin, Kinderfrau, Krankenschwester, Erzieherin, Schuldirektorin, Stewardeß, Polizistin, BDM-Mädchen und KZ-Wärterin bis zur Pfadfinderführerin; und dazu noch die üblichen Leder- und PVC-Gerätschaften, samt hüfthohen Stiefeln, Umhängen und Gesichtsmasken.

Eine Kommode enthielt ein kleineres Sortiment von Kleidungsstücken für Kunden, die nichts mitgebracht hatten, so etwa für die Verkleidung als Pfadfinder, Schuljungen und römische Sklaven. In einem Winkel waren der Hocker für den Missetäter und der Fußblock versteckt, während eine Truhe die Ketten, Handschellen, Riemen und Reitpeitschen enthielt, die für die Versklavungs- und Züchtigungsszene gebraucht wurden.

Sie war eine Hure, die ihre Sache verstand, und erfolgreich sowieso. Viele ihrer Kunden kamen regelmäßig wieder. Ein Stück weit Schauspielerin - alle Nutten müssen etwas von einer Schauspielerin haben, das Umgekehrte kommt wahrscheinlich eher selten vor -, konnte sie sich vollkommen überzeugend in die Wunschphantasien ihrer jeweiligen Kunden einleben. Doch zugleich blieb sie immer distanziert-beobachtend, registrierend, von heimlicher Verachtung erfüllt. Nichts an ihrer Tätigkeit berührte sie selbst - ihre persönlichen Vorlieben sahen ganz anders aus.

Sie war seit drei Jahren in der Branche tätig und beabsichtigte, sich nach zwei weiteren Jahren zurückzuziehen, einmal wirklich ordentlich abzusahnen und irgendwo weit weg von ihrem gutangelegten Geld ein Leben im Luxus zu führen.

An diesem Nachmittag klingelte es an der Wohnungstür. Sie war, wie immer, spät aufgestanden und noch im Negligé und Morgenmantel. Sie runzelte die Stirn; Kunden kamen nur zu der vereinbarten Zeit. Ein Blick durch das Guckloch in ihrer Wohnungstür zeigte, wie in einem Goldfischbecken, das zerzauste graue Haar von Bruno Morenz, ihrem väterlichen Freund aus dem Außenministerium. Sie seufzte, setzte ein ekstatisches Willkommenslächeln auf und öffnete die Tür.

»Bruno, Liiiiiebling...«

Zwei Tage später wurde Sam McCready von Timothy Edwards zum Lunch in den Brook’s Club im Londoner Stadtteil St. James ausgeführt. Edwards war in mehreren Herrenklubs Mitglied, aber zum Mittagessen suchte er am liebsten Brook’s auf. Dort bestand immer eine gute Chance, daß man bei einem zufälligen Zusammentreffen ein paar Worte mit Robert Amstrong, dem Kabinettssekretär, wechseln konnte, der als der vielleicht einflußreichste Mann in England galt, ganz sicher aber als der Wortführer der fünf Weisen, die eines Tages beschließen würden, wen sie Margaret Thatcher als neuen Chef der SIS empfehlen wollten.

Beim Kaffee in der Bibliothek, unter den Porträts der Dilettantes, der Gründer des Klubs, kam Edwards allmählich zur Sache.

»Wie ich unten schon gesagt habe, Sam, alle sind sehr zufrieden mit Ihnen, wirklich sehr zufrieden. Aber jetzt bricht eine neue Ära an, Sam, eine Ära, die, dafür spricht viel, unter dem Leitmotiv >immer äußerst korrekt< stehen muß. Es geht darum, daß ein paar von den alten Methoden, zum Beispiel das Umgehen von Vorschriften - wie soll ich mich ausdrücken? - gezügelt werden müssen.«

»Gezügelt ist sehr gut ausgedrückt«, pflichtete Sam McCready bei.

»Ausgezeichnet. Nun, und wenn man die Unterlagen durchblättert, dann zeigt sich, daß Sie nach wie vor - zugegeben: nur von Fall zu Fall - gewisse Mitarbeiter einsetzen, die wirklich nicht mehr von Nutzen sind. Alte Freunde vielleicht. Kein Problem, sofern sie nicht in sensiblen Positionen sitzen und die Firma nicht in echte Schwierigkeiten gerät, wenn die Leute von ihren eigentlichen Arbeitgebern enttarnt werden.«

»Beispiel?« fragte McCready. Das war das Dumme an schriftlichen Belegen: sie waren immer auffindbar, bei den Akten. Sobald man irgend jemanden für einen Auftrag bezahlte, entstand ein Zahlungsbeleg. Edwards hörte auf, um den heißen Brei herumzureden.

»Ich spreche von Poltergeist. Sam, ich verstehe nicht, wie das so lange übersehen werden konnte. Poltergeist ist fest angestellter Mitarbeiter beim BND. Es gäbe einen Riesenskandal, sollte man in Pullach irgendwann dahinterkommen, daß er schwarz für sie gearbeitet hat. Er verstößt gegen sämtliche Vorschriften. Wir >führen< niemals, ich betone niemals, Angehörige befreundeter Dienste. Das ist völlig indiskutabel. Streichen Sie ihn von der Gehaltsliste. Lassen Sie die Finger von ihm, Sam. Und zwar umgehend.«

»Er ist ein alter Kumpel«, sagte McCready. »Wir kennen uns schon sehr lange. Seit dem Bau der Berliner Mauer. Er hat damals gute Arbeit geleistet, gefährliche Aufträge für uns durchgeführt, wenn wir Leute wie ihn brauchten. Wir wurden von den Ereignissen überrumpelt, wir hatten niemanden oder nicht genügend Leute, die bereit und imstande waren, nach drüben zu gehen, ohne lange zu fackeln.«

»Ich lasse mich auf keinen Handel ein, Sam.«

»Ich habe Vertrauen zu ihm, und er zu mir. Er würde mich nie im Stich lassen. Sowas kann man nicht kaufen. Es braucht Jahre, bis sich so etwas entwickelt. Ein kleiner Ehrensold ist dafür ein geringer Preis.«

Edwards stand auf, zog sein Taschentuch aus einem Ärmel und tupfte sich den Rest des Portweins von den Lippen.

»Lassen Sie die Finger von ihm, Sam. Es tut mir leid, aber das ist ein Befehl. Poltergeist wird abgeschafft.«

An diesem Wochenende saß Majorin Ludmilla Wanawskaja in ihrem Büro. Sie stieß einen müden Seufzer aus, streckte sich und lehnte sich zurück. Es war eine mühselige Arbeit gewesen. Sie griff nach ihrem Päckchen Marlboro aus sowjetischer Produktion, bemerkte, daß der Aschenbecher überquoll, und drückte auf einen Klingelknopf an ihrem Schreibtisch.

Aus dem Vorzimmer erschien ein junger Korporal. Sie sagte kein Wort zu ihm, deutete nur mit einer Fingerspitze auf den Aschenbecher. Er nahm ihn rasch weg, verließ das Büro und brachte ihn ein paar Sekunden später gesäubert zurück. Sie nickte. Er ging wieder hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Kein Wort war gefallen, schon gar kein neckendes. Majorin Wanawskaja hatte diese Wirkung auf Männer. In früheren Jahren hatten ein paar von den jungen Schürzenjägern das glänzende, kurz geschnittene Blondhaar über der frischen Dienstbluse und dem schmalen, grünen Rock bemerkt und ihr Glück versucht. Zwecklos. Mit fünfundzwanzig hatte sie, aus Karrieregründen, einen Oberst geheiratet, und drei Jahre später waren sie geschieden worden. Seine Karriere war ins Stocken geraten, ihre hatte steil nach oben geführt. Jetzt, mit fünfunddreißig, trug sie nicht mehr Uniform, sondern das strenge, maßgeschneiderte dunkelgraue Kostüm und darunter die weiße Bluse mit der schlaff herabhängenden Schleife am Hals.

Manche dachten immer noch, sie könnten sie ins Bett bringen, bis sie eine Salve aus ihren eiskalten blauen Augen abbekamen. Im KGB - keine Organisation von Liberalen - stand Majorin Wanawskaja im Ruf einer Fanatikerin. Und Fanatiker wirken einschüchternd.

Der Fanatismus der Majorin galt ihrer Arbeit - und Verrätern. Als treue Kommunistin, von keinerlei ideologischen Zweifeln angefochten, hatte sie sich aus eigenem Entschluß die Verfolgung von Verrätern zum Anliegen gemacht. Sie haßte sie mit einer eisigen Leidenschaft. Sie hatte es zuwege gebracht, daß sie aus dem Zweiten Hauptdirektorat, dessen Objekte gelegentliche Erscheinungen wie ein aufsässiger Dichter oder ein unzufriedener Arbeiter waren, ins unabhängige Dritte Direktorat versetzt wurde, das auch Streitkräfte-Direktorat genannt wurde. Wenn es hier Verräter gab, würden sie höhere Ränge bekleiden: gefährlichere Typen, die des Eifers und des Hasses der Majorin würdig waren.

Die Versetzung ins Dritte Direktorat - von ihrem Ehemann, dem Oberst, in den letzten Tagen ihrer Ehe eingefädelt, als er sich noch verzweifelt bemühte, sie wieder für sich einzunehmen - hatte sie in dieses gesichtslose Bürogebäude an einer Seitenstraße der Sadowaja-Spasskaja, eines Abschnitts der Moskauer Ringstraße, an diesen Schreibtisch und zu dem Dossier geführt, das jetzt vor ihr lag.

Zwei Jahre Arbeit waren in diese Akte eingegangen; allerdings hatte sie sie zwischen ihre anderen Pflichten einschieben müssen, bis man ihr höheren Orts Glauben zu schenken begann. Zwei Jahre, in denen sie Spuren geprüft und wieder überprüft, um die Mitarbeit anderer Abteilungen gebettelt hatte, immer im Kampf gegen die

Vertuschungsmanöver jener Kerle in der Armee, die unentwegt füreinander Partei ergriffen. Zwei Jahre lang hatte sie winzige Informationssplitter zusammengefügt, bis sich ein Bild herauszuschälen begann.

Majorin Wanawskajas Aufgabe beziehungsweise Berufung bestand darin, auf die schiefe Bahn geratene oder subversive Elemente oder gelegentlich auch einen richtiggehenden Verräter innerhalb der Armee, Marine oder Luftwaffe aufzuspüren. Die Veruntreuung wertvoller Ausrüstungsgegenstände aus staatlichem Besitz war schon schlimm genug, ein Mangel an Tatkraft auf dem afghanischen Kriegsschauplatz war schlimmer, doch das Dossier auf ihrem Schreibtisch war etwas ganz anderes. Sie war überzeugt, daß irgend jemand in der Armee Geheimnisse verriet. Und der Betreffende war ein hochgestellter, ein verdammt ranghoher Offizier.

Auf dem ersten Blatt des vor ihr liegenden Dossiers stand eine Liste mit acht Namen. Fünf davon waren durchgestrichen. Hinter zweien stand ein Fragezeichen. Aber ihr Blick fiel immer wieder auf den achten Namen. Sie hob einen Telefonhörer ab und bat, man möge sie mit einem Major, dem Sekretär von General Schaljapin, Chef des Dritten Direktorats, verbinden.

»Ja, Majorin. Ein persönliches Gespräch? Mit niemand anderem? So. Das Problem ist, daß der Genosse General sich im Fernen Osten befindet. Nicht vor nächsten Dienstag. Also schön, wenn es sein muß, nächsten Dienstag.«

Majorin Wanawskaja legte den Hörer auf und zog die Stirn kraus. Vier Tage. Na ja, sie hatte zwei Jahre gewartet, da konnte sie noch weitere vier Tage zulegen.

»Ich denke, die Sache ist gelaufen«, sagte Bruno Morenz am folgenden Sonntagvormittag mit kindlicher Begeisterung zu Renate. »Ich habe den Kaufpreis beisammen und außerdem noch ein bißchen Geld für die Malerarbeiten und die Ausstattung. Es ist eine wunderbare, kleine Bar.«

Sie lagen in ihrem eigenen Schlafzimmer im Bett - es war eine Gunst, die sie ihm manchmal gewährte, weil ihm das >Arbeitsschlafzimmer< ebenso sehr verhaßt war wie ihr >Beruf<.

»Erzähl mir noch einmal davon«, gurrte sie. »Ich hör es zu gern.«

Er lächelte. Er hatte das Häuschen zwar erst ein einziges Mal gesehen, war ihm aber richtig verfallen. Es war, was er sich immer erträumt hatte, und auch genau dort, wo er es hatte haben wollen: am offenen Meer, wo die Brisen aus dem Norden dafür sorgten, daß die Luft immer frisch war. Im Winter war es natürlich kalt, aber es gab eine Zentralheizung, die nur noch repariert werden mußte.

»Also - es heißt >Laternenbar< und hat ein Kneipenschild mit einer alten Schiffslaterne. Es steht am Kai, direkt am Bremerhavener Hafenbecken. Von den Fenstern im ersten Stock aus hat man freien Blick bis zur Insel Mellum - wir könnten uns ein Segelboot zulegen, wenn das Geschäft gutgeht, und im Sommer hinsegeln.

In der Bar gibt es einen Tresen mit einer altmodischen Messingplatte - dahinter stehen wir später und bedienen die Gäste -, und oben ist eine hübsche, gemütliche Wohnung. Nicht so groß wie die hier, aber schnuckelig, sobald wir sie instandgesetzt haben. Ich habe den Kaufpreis akzeptiert und die Anzahlung geleistet. Ende September ist alles fertig. Dann kann ich dich aus alledem hier herausholen.«

Sie konnte sich kaum davon abhalten, laut herauszulachen.

»Liebling, ich kann es nicht erwarten. Es wird ein wunderbares Leben werden. Möchtest du es noch einmal versuchen? Vielleicht klappt es diesmal.«

Wäre Renate gutmütiger gewesen, dann wäre sie mit dem Mann, der ja schon in die Jahre gekommen war, glimpflicher umgesprungen, hätte sie ihm erklärt, daß sie nicht die Absicht habe, sich aus >alledem< herausholen, geschweige denn an einen öden Kai in Bremerhaven schleppen zu lassen. Aber es machte ihr Spaß, ihn in seinen Wahnideen zu wiegen, damit das Erwachen um so grausamer wurde.

Eine Stunde nach diesem Gespräch in Köln rauschte eine Jaguar- Limousine vom Motorway M 3 herunter und über die stilleren Landstraßen der Grafschaft Hampshire, unweit des Dorfes Dummer. Es war Timothy Edwards’ Privatwagen, und am Steuer war sein Dienstchauffeur. Im Fond saß Sam McCready, der durch einen Anruf des stellvertretenden Chefs aus den gewohnten Sonntagsfreuden in seiner Wohnung in Abingdon Villas gerissen worden war. »Es geht nicht anders, tut mir leid, Sam. Es ist dringend.« Er war genießerisch in einem heißen Bad gelegen, mit Vivaldi aus der Kompaktanlage, als der Anruf kam. Überall auf dem Fußboden im Wohnzimmer waren in einem schönen Durcheinander die Sonntagszeitungen verstreut. Er hatte gerade noch Zeit, ein Sporthemd und einen Cordsamtanzug anzuziehen, da stand John, der den Jaguar aus der Fahrbereitschaft geholt hatte, schon an der Haustür.

Die Limousine rollte auf den kiesbedeckten Vorhof eines ansehnlichen georgianischen Landhauses und kam zum Stehen. John ging um den Wagen herum, um die hintere Tür zu öffnen, doch McCready kam ihm zuvor. Es war ihm verhaßt, wenn man ein Getue um ihn machte.

»Ich soll Ihnen sagen, daß sie hinten sind, Sir, auf der Terrasse«, sagte John.

McCready begutachtete das Herrenhaus. Timothy Edwards hatte zehn Jahre vorher die Tochter eines Herzogs geheiratet, der entgegenkommenderweise schon in mittleren Jahren das Zeitliche gesegnet und seinen beiden Sprößlingen, dem neuen Herzog und Lady Margaret, ein ansehnliches Erbe hinterlassen hatte. Lady Margaret hatte an die drei Millionen Pfund eingestrichen. Nach McCreadys Schätzung war ungefähr die Hälfte dieser Summe in diesem hervorragenden Beispiel ländlicher Architektur in Hampshire angelegt worden. Er ging um das Haus herum zur Rückseite mit der säulengeschmückten Terrasse.

Vier Korbsessel waren im Kreis gruppiert, drei davon besetzt. Weiter hinten war auf einem weißlackierten Tisch aus Gußeisen für drei Personen zum Lunch gedeckt. Lady Margaret würde also sicher im Haus bleiben. Nicht am Lunch teilnehmen. Und er selbst auch nicht. Die beiden Männer in den Rohrsesseln erhoben sich.

»Sieh an, Sam«, sagte Edwards, »freut mich, daß Sie kommen konnten.«

Das ist doch ein starkes Stück, dachte McCready. Als hätte mir der Schuft eine Wahl gelassen.

Edwards musterte McCready und fragte sich, nicht zum erstenmal, warum sein so hochbegabter Kollege zu einer Party in einem Herrenhaus in Hampshire unbedingt in einem Aufzug erscheinen mußte, als käme er gerade von der Gartenarbeit - auch wenn er nicht lange blieb. Edwards selbst trug glänzend gewienerte, perforierte Halbschuhe, eine gelbbraune Hose mit messerscharfen Bügelfalten und über einem Seidenhemd mit Halstuch einen Blazer.

McCready erwiderte den starren Blick und fragte sich, warum Edwards sein Taschentuch immer in den linken Ärmel stecken mußte. Der Brauch stammte aus der Armee und war in den Kavallerieregimentern aufgekommen, weil die Offiziere an den Abenden, an denen auch Frauen Zutritt zum Kasino hatten, derart enge karierte Hosen trugen, daß ein hervortretendes Taschentuch in einer Hosentasche den Damen das Gefühl gegeben hätte, sie hätten eine Spur zuviel Parfüm aufgelegt. Aber Edwards war nie bei der Kavallerie gewesen. Er war aus Oxford zur Truppe gekommen.

»Ich glaube, Sie kennen Chris Appleyard noch nicht«, sagte Edwards, als der hochgewachsene Amerikaner die Hand ausstreckte. Er hatte das lederne Aussehen eines texanischen Cowboys, kam aber in Wirklichkeit aus Boston. Das lederne Aussehen hatte seinen Grund in den Camels, von denen er eine an der anderen ansteckte. Sein Gesicht war nicht sonnengebräunt, sondern nur halb durchgebraten. Deswegen also, ging es McCready durch den Kopf, wird im Freien gegessen. Edwards wollte vermutlich nicht, daß seine Canalettos einen Nikotinüberzug bekamen.

»Schätzungsweise nicht«, sagte Appleyard. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Sam. Ihre Ruf ist mir bekannt.«

McCready wußte nach dem Namen und von Fotos, an die er sich erinnerte, wen er vor sich hatte: den stellvertretenden Chef der Europaabteilung der CIA. Die Frau in dem dritten Korbsessel beugte sich nach vorne und streckte eine Hand aus.

»Hallo, Sam, wie geht’s Ihnen in der letzten Zeit?«

Claudia Stuart, noch mit vierzig eine toll aussehende Frau. Sie hielt seinen Blick und seine Hand eine Winzigkeit länger als nötig fest.

»Großartig, danke, Claudia. Einfach großartig.«

Aus ihren Augen sprach, daß sie ihm das nicht abnahm. Keine Frau, mit der einmal ein Mann das Bett geteilt hat, schätzt die Vorstellung, daß dieser sich von dem Erlebnis je wieder ganz erholen könnte.

Jahre vorher, in Berlin, hatten sie eine kurze, aber leidenschaftliche Affäre gehabt. Sie gehörte damals der WestBerliner CIA-Filiale an; er war zu Besuch in der Stadt. Er hatte ihr nie erzählt, was ihn nach Berlin geführt hatte. Tatsächlich warb er den damaligen Oberst Pankratin an. Das erfuhr sie erst später, als sie Pankratin übernahm.

Die Körpersprache war Edwards nicht entgangen. Er überlegte, was sich dahinter verbergen mochte, und tippte richtig. Immer wieder erstaunte es ihn, daß Frauen Sam offenbar sympathisch fanden. Er war doch so. zerknautscht. Es wurde gemunkelt, daß etliche der jungen Dinger im Century House ihm gern die Krawatte zurechtrücken, einen Knopf annähen würden - oder auch mehr. Er fand das unerklärlich.

»Es tut mir leid, daß May gestorben ist.«

»Danke«, sagte McCready. May. Seine Frau. Drei Jahre waren seit ihrem Tod vergangen. May, die in den frühen Jahren all die langen Nächte auf ihn gewartet hatte, die immer dagewesen war, wenn er von seinen Ausflügen hinter den Eisernen Vorhang nach Hause kam, die nie eine Frage gestellt, sich nie beklagt hatte. Die Multiple Sklerose ist eine Krankheit, die rasch oder langsam zum Tod führen kann. In Mays Fall war es rasch gegangen. Schon nach einem Jahr war sie an den Rollstuhl gefesselt gewesen, zwei Jahre später gestorben. Seither lebte er in der Wohnung in Kensington allein. Gottlob war ihr gemeinsamer Sohn im College gewesen und nur zum Begräbnis nach Hause geholt worden. Er hatte nicht mitbekommen, wie sehr sein Vater litt, wie verzweifelt er war.

Ein Butler - hier muß es doch einen Butler geben, dachte McCready - erschien mit einem Glas Champagner auf einem Tablett. McCready zog eine Augenbraue hoch. Edwards flüsterte dem Butler etwas ins Ohr, der daraufhin verschwand und mit einem Humpen Bier zurückkehrte. McCready nahm einen kleinen Schluck davon. Sie beobachteten ihn. Lager. Modegesöff. Ein ausländisches Produkt. Er seufzte. Ein bitteres Ale, Zimmertemperatur, nach schottischem Malz und Hopfen aus Kent duftend, wäre ihm lieber gewesen.

»Wir haben ein Problem, Sam«, sagte Appleyard. »Claudia, erklären Sie es doch Sam.«

»Pankratin«, sagte Claudia. »Erinnern Sie sich an ihn?«

McCready hielt den Blick auf seinen Bierhumpen gerichtet und nickte.

»In Moskau haben wir ihn in der Hauptsache über tote Briefkästen gesteuert, par distance. Sehr wenig Kontakte. Phantastisches Material und sehr teure Entlohnung. Aber kaum persönliche Begegnungen. Jetzt hat er eine Nachricht geschickt. Eine dringliche Nachricht.«

Schweigen ringsum. McCready hob den Blick und starrte Claudia an.

»Er behauptet, er hätte ein nicht registriertes Exemplar des Aufmarschplans der sowjetischen Armee in die Hand bekommen. Für die Westfront in ihrer ganzen Ausdehnung. Wir brauchen es, Sam, wir brauchen es unbedingt.«

»Dann holt es euch doch«, sagte McCready.

»Diesmal will er keinen toten Briefkasten benutzen. Er sagt, es ist zu umfangreich. Zu auffällig. Er will es nur jemandem übergeben, den er kennt und dem er vertraut. Er möchte Sie.«

»In Moskau?«

»Nein, in Ostdeutschland. Er tritt demnächst eine Inspektionsreise an. Die dauert eine Woche. Er möchte, daß die Übergabe in Thüringen stattfindet. Seine Rundreise wird ihn nach Süden und Westen führen, über Cottbus, Dresden, Karl-Marx-Stadt und weiter nach Gera und Erfurt. Er möchte das Material am Dienstag- oder Mittwochvormittag übergeben. Er kennt sich in der Gegend nicht aus. Er möchte Parkplätze benützen. Alles übrige hat er schon genau geplant; wie er sich absetzen und die Sache abwickeln kann.«

»Ich glaube, ich sollte darauf hinweisen, daß Sam das nicht übernehmen kann«, mischte sich Edwards ein. »Ich habe darüber bereits mit dem Chef gesprochen, und er ist auch meiner Meinung. Sam ist vom Staatssicherheitsdienst zum Abschuß freigegeben.«

Claudia zog eine Augenbraue hoch.

»Sie werden ihn verhören und erschießen«, fügte Edwards überflüssigerweise hinzu. Appleyard stieß einen Pfiff aus.

»Boy, das ist gegen die Regeln. Sie müssen die ganz schön aufgescheucht haben.«

»Man tut, was man kann«, sagte McCready wehmütig.

»Übrigens, wenn ich nicht in Frage komme, gibt es einen Mann, der die Sache übernehmen könnte. Timothy und ich haben letzte Woche im Club über ihn gesprochen.«

Edwards hätte sich beinahe an seinem Champagner verschluckt.

»Poltergeist? Aber Pankratin hat doch erklärt, daß er das Material nur jemandem aushändigen wird, den er kennt.«

»Er kennt Poltergeist. Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen erzählt habe, wie er mir in der Anfangszeit geholfen hat? Anno 81, als ich ihn angeworben habe, mußte Poltergeist auf ihn aufpassen, bis ich dort ankam. Er mag Poltergeist übrigens. Er würde ihn wiedererkennen und ihm das Material

aushändigen.«

Edwards schob das seidene Halstuch zurecht.

»Also in Gottes Namen, Sam. Aber das ist das letzte Mal.«

»Die Sache ist gefährlich, höchst riskant. Ich möchte eine Belohnung für ihn. Zehntausend Pfund.« »Einverstanden«, sagte Appleyard, ohne zu zögern. Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Hier sind die Details, die Pankratin für die Übergabe angegeben hat«, sagte er. »Zwei Treffpunkte müssen vereinbart werden. Der zweite für den Notfall. Können Sie uns in vierundzwanzig Stunden die Parkplätze angeben, die Sie ausgesucht haben? Wir werden ihn darüber informieren.«

»Ich kann Poltergeist nicht zwingen hinüberzugehen«, sagte McCready warnend. »Er ist ja kein Mitarbeiter von uns, sondern operiert unabhängig.«

»Versuchen Sie es, Sam, versuchen Sie bitte Ihr Bestes«, sagte Claudia. McCready stand auf.

»Übrigens, dieser >Dienstag< - welcher ist damit gemeint?«

»Übermorgen in einer Woche«, sagte Appleyard. »In genau acht Tagen.«

»Mein Gott!« sagte McCready.