(91)

Wenn man auf diesem Niveau mit einem Gegner kämpft, wenn man versucht zu töten und Haut und Fleisch berührt, erscheint der Gegner weich und verletzlich. Man spürt, wie er auf den Schmerz reagiert. Und wenn man nicht von Natur aus Sadist ist wie ich, schlägt man nicht mit voller Kraft zu. Nur kann man nicht zurück. Und dann sah er in meiner überaktiven, aber im Moment nicht allzu originellen Fantasievorstellung obendrein noch aus wie ich, sodass es mir vorkam, als kämpfte ich gegen einen Spiegel, und das machte es …

Hoppla. Beinahe wäre ich abgeschweift. Halt aus. Nur noch eine Minute. Halt. Aus. Ha. Lt.

Wo blieben sie denn? Die Kavallerie kam einfach nicht. Und wir sanken noch immer. Selbst durch das dicke Neopren fühlte sich das Wasser an, als hätte es vierzig Grad unter null. Sic hatte den größeren und kräftigeren Körper, aber er war kein Taucher, und je tiefer wir kamen, desto schlechter fand ich mich zurecht, und umso mehr gewann der gute alte Jed1 die Oberhand.

»Wo seid ihr denn, verdammte Scheiße?«, brüllte ich in mein Mikro. Zur Antwort bekam ich: »Waraschuchstuwaarooo?«, oder so ähnlich. Zu spät begriff ich, dass ich die anderen Kanäle nicht abgestellt hatte, und jetzt hörten Jed1, Jed1’ Leibwächter, die Besatzung von Jed1’ Boot und jeder bis nach Key West mich laut und deutlich, und alle wussten, dass ich allein und verzweifelt war.

Brop. Wir sanken. Brop. Au. Da lacht die Nebenhöhle. Brop.

Wir sanken weiter. Acht Faden. Brop brop brop brop. Zehn.

Der denkt nicht an Selbstmord, begriff ich. Er hat vor, mich auf diese Weise umzubringen. Er wird warten, bis ich vom Druck bewegungsunfähig bin, und dann hakt er mir ein Gewicht an und winkt mir zum Abschied hinterher, und ich sinke ab und …

Wo zum Teufel bleiben sie? Die lassen mich im Stich! Faule Scheißer! Locken mich in eine Todesfalle, damit sie mich nicht selbst liquidieren müssen, damit sie Aufzeichnungen und Zeugenaussagen haben, dass es jemand anderer getan hat … Nein, nein. Hör auf. In Augenblicken wie diesem ist die Paranoia gar nicht dein Freund … Nur dass es allmählich plausibel erschien, denn sie waren nicht da, sie waren nicht da.

BRORK. Au, Scheiße. Das tut weh. Verdammt. Schnapp dir seine Gewichte!, dachte ich. Und ich bekam eines von ihnen zu fassen, doch er packte es ebenfalls und hielt es fest. Eine merkwürdige Pause stellte sich ein. Ich hielt sein Bein mit meinem Bein. Ich bekam meine andere Hand in seinen Gürtel. Wenn du seine Gewichte nicht bekommst, dann halt dich fest. Sie kommen schon bald, versicherte ich mir. Wenn …

»Ich habe noch immer Angst«, sagte Jed1.

»Was?«, antwortete ich automatisch. »Du meinst …«

Uff. Er hatte mir in den Magen geschlagen. Ich rückte von ihm ab und packte ein Fußgelenk. Halt dich einfach fest. »Du meinst … vor dem Sterben«, sagte ich.

»Ja«, sagte er und trat zu. Es kam mir vor, als würde er mit dem Fuß meine rechte Hand treffen, aber ich war mir nicht sicher.

»Dann … lass es sein!« Er trat wieder zu. »Verdammt, Anderer Jed, hör auf, mich zu treten.« Ich konnte nicht anders, ich musste grinsen.

Ich krallte mich hoch, oder hinunter, über seinen Körper, am Gürtel vorbei und zum Gurtkreuz vor seiner Brust. Ich spürte trotz des ganzen Gerödels, das an ihm baumelte, dass er trotz der Kälte eine Erektion hatte. Ich kam fast auf eine Höhe mit seiner Maske. Er hatte die Hände an meinen Luftschläuchen und versuchte sie zu lösen, aber sie waren ein SEAL-taugliches Produkt und auf genau so etwas ausgelegt, und er schaffte es nicht. Er wand sich wieder los. Er war so glitschig wie ein riesiger Nacktkiemer, und diesmal kam er frei. Durch mehr Glück als Verstand erfasste ich ihn mit der Lampe und sah, wie er in den Graben hinunterschwamm. Hölle. Ich schwamm ihm hinterher. Mein rechtes Bein fühlte sich eigenartig warm an. Ich holte ihn wieder ein. Mit der Flosse traf er mein Gesicht, aber mein Maskenhelm blieb auf. Ich packte sein Fußgelenk, sein rechtes Knie, dann das linke.

Für einen Augenblick herrschte Pause. Wir beide waren völlig erschöpft. Es war, als hätten wir uns auf eine Pause geeinigt.

»Weißt du«, sagte er mit seiner Falsettstimme, »selbst wenn du Domino bekommst … bedeutet das nur, dass du und Marena … die Zeit, die ihr noch habt … in einem Käfig verbringt.«

»Wirklich?« War das ein Hinweis?, fragte ich mich.

BPOK! Autsch! Nebenhöhlen knacken. Druck, Druck. Jetzt wusste ich wenigstens, wie sich Sardinen in der Dose fühlen …

Sprooong.

Schmerz.

Wo waren sie, wo waren sie, wo waren sie, WO WAREN SIE?!?!?!?!?

Trieb ich aufwärts? Ja. Ich hatte die Gewichte gelöst bekommen. Oberfläche, wir kommen nach Hause. Aber zu schnell. Meine Hand funktionierte nicht mehr richtig. Die Wassertemperatur schien auf den absoluten Nullpunkt gesunken zu sein. Blutete ich wirklich so stark? Oder hatte es mehr mit Angst zu tun? Na, geschieht dir … ihm … egal wem … nur recht. Bastard. Irgendwo mussten Flutlichter brennen, denn ich konnte sehen. Endlich die guten Jungs? Wenn ja, kamen sie zu spät, zu spät, ich war tot, er war tot, alles auf Erden war tot, zu spät, zu spät, zu spät, denn jetzt konnte ich Jeds Umriss erkennen, der sich vor dem dunkelgrünen Wasser abhob, nur dass es keine menschliche Silhouette war, sondern eine Art riesiger schwarzer siamesischer Tintenfisch mit viel zu vielen Tentakeln. Ich spürte, wie das Blut in meinen Zehen und Fingerspitzen zu sprudeln begann. Wir stiegen weitere drei Meter. Ich konnte sehen, dass es Jed1’ Blut war, was ich für Tentakel gehalten hatte. Er hatte irgendwo eine Schnittwunde abbekommen, irgendwo außerhalb der in gewissem Rahmen selbstheilenden Eigenschaften von Neopren, und der Druckunterschied quetschte das Zeug aus ihm raus wie aus einer Zahnpastatube, die an beiden Enden offen ist. Igitt. Die schlimmste Angst des Bluters. Ich glaubte einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, auf mein Gesicht also, mit einem Ausdruck, als betrachtete er sein sterbendes Kind, wenn er eins gehabt hätte. Beinahe ein Ausdruck des Abscheus. Zwei Faden weiter oben hatte sich meine Maske ebenfalls mit Blut gefüllt. Irgendwie bekam ich sie herunter. Halt den Atem an, dachte ich, aber ich konnte es nicht und saugte eine brennende Schlange aus Meerwasser ein. Das war es dann wohl, dachte ich. Goodbye, Columbethius. Bye, bye, Birdie. Hallo, Toty. Bring es Mutter schonend bei. Sowieso ’ne grausame Welt. So …

Autsch! Klauen zerrten von hinten an mir. Vielleicht würde ich gerade noch lange genug leben, um Schmach und Schande meines Versagens auszukosten. Es kam mir vor, als wäre es schon ein Jahr her, dass ich Jed1 entdeckt hatte. Das bedeutete, es mussten wenigstens zehn Minuten vergangen sein. Was war schiefgelaufen? Ich meine, außer allem anderen … Au, au! Diese verdammten Dekompressionsschmerzen.

Sie zogen mich an Bord und legten mich mit dem Gesicht nach unten auf eine Art Trage. Ich erbrach mich. Da ich noch immer glaubte, an der Taucherkrankheit zu sterben, konnte ich mich auf nichts anderes konzentrieren als auf das Muster auf dem grauen, linoleumähnlichen Decksbelag, über den irgendeine Flüssigkeit in Wellen hinweglief. Sie sah aus wie starker Tee … oder verdünntes Blut. Nachdem ich das ganze Wasser und, wie es mir vorkam, auch einige meiner Innereien herausgewürgt hatte, drehten sie mich auf den Rücken. Mein Blick fiel kurz auf Jed1, der neben mir lag. Er sah nicht gut aus. Ich bemerkte, dass meine Zähne klapperten, und ich hörte sinnloses Geplapper … das heißt, ich konnte nicht klar genug denken, um zu verstehen, was sie sagten; deshalb klang es wie eine mir unbekannte Sprache. Dann hörte ich ein Summen, spürte eine Vibration in meiner linken Wade und begriff, dass sie von einer Art elektrischer Chirurgenschere stammte, mit der sie mir den Anzug aufschnitten. Eine Frauenhand – Lisuartes? – hielt eine Art Tasse über meinen Schritt, an die linke Seite meiner Geschlechtsteile. Scheißeverdammtescheiße ichfassesnicht, dachte ich. Ich hatte unten zu sehr unter O2 und Adrenalin gestanden, um es zu merken, aber der kleine Heimtücker musste mich mit seinem Tauchermesser gestochen haben. Hatte es auf die Beinarterie abgesehen. Wenn er sie getroffen hätte, wäre für mich nach drei Minuten alles vorbei gewesen. So viel zum durchdringungsfesten Taucheranzug … au! Das ist doch nicht auszuhalten. Autsch! Herr im Himmel. Ich kann doch nicht so sterben. Ich bin ein Filmstar, verflucht noch mal.

Neben mir krümmte sich Jed1 zusammen wie eine riesige Faust und entspannte sich wieder. Ich bemerkte, dass sie bereits ein Tütchen von Tony Sics mit Leukozyten angereichertem B+-Saft angeschlossen hatte, das Dr. Lisuarte mich vor vier Tagen vorausschauend für mich selbst hatte spenden lassen.

Na, Hölle. Das war es. Ich bin tot, dachte ich, oder er war tot, oder noch genauer, die Welt war tot … würde es jedenfalls bald sein. Ich hatte es vermasselt. Gründlich. Gründlicher ging’s nicht. Todo por mi culpa. Alles nur meine Schuld. Ich bin der größte Versager in der Geschichte der Schöpfung. Jawoll. Seit dem Urknall hatte niemand im ganzen Universum so vollständig und auf ganzer Linie versagt wie ich. Ich hörte, wie der Motor des Bootes in den ersten Gang schaltete. Etwa zwei Minuten später bekam ich mit, wie Dr. Lisuarte mit der Crew am Ufer telefonierte und bestätigte, dass Jed1 tot war.

2012 - Tag der Prophezeiung: Roman
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