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Beim »Rauch«, dem Nachspiel des Mattenkreises, konnte man Einzelgespräche führen. Alles war noch da, saß aber nicht mehr unbedingt an seinem Platz, und es wurde sogar als höflich angesehen, wenn jemand einnickte. Schlafen ist ein wichtiger Aspekt, wenn man sich näherkommt. Die Gemütlichkeit der riesigen Pflegefamilie ist nur schwer zu beschreiben. Die Sippe bestimmte so nachdrücklich und umfassend, wer und was man war – mit der Naturkraft von F = m∙a –, dass man bereit war, binnen eines Schlages für sie zu sterben. Sie war es, was man war, und nicht man selbst. Wie auch immer, am südwestlichen Ende des Raumes bekamen Hun Xoc, 1-Gila und 2-Hand ihre Knieschwielen massiert und tranken mit langen Binsenhalmen aus dem B’alche’-Topf. Auf der weißen, nordöstlichen Seite, unweit der kleinen Tür, saßen die beiden Großen Mütter der Rassler stocksteif vor ihren Rückenlehnen, schwatzten, rauchten und woben kunstvolle Schleier. Coati schürte das Feuer. Die Gesandten hatten ihren großen Abschied bereits hinter sich, und 0-Stachelschwein-Narr hatte sie zu ihrem Sturmhaus geführt, dazu ein paar Sexarbeiter und Spieler der Rasslersippe, von denen einige ausgebildete Lauscher und Mnemoniker waren – nur für den Fall, dass die Gesandten noch etwas sagten. Koh hatte den Spielern befohlen, sie gewinnen zu lassen. Die meisten von ihnen würden mit uns nach Ix zurückkehren, aber ein paar Boten sollten bereits zu 2JS aufbrechen, sobald der Sturm nachließ. Ich ruhte mich auf meinen beiden Kostümierern und den Schoßtieren aus; der jüngere Bruder massierte mir Öl auf Füße und Fußgelenke, die noch immer schorfig waren von der Vulkanasche. Vielleicht klingt das ein wenig seltsam, aber es hatte nichts Sexuelles an sich. Keiner von uns sollte während der Reise irgendwelchen Sex haben, auch wenn die lokalen Miezen und Miezekater uns Halbgöttern gern zu Diensten gewesen wären. Die Addierer sagten, eine Samenspur mache es den Mordkommandos von Abgetrennte Rechte Hand sehr leicht, uns zu verfolgen. Ich ließ mich nur versorgen, weil wir froren und weil ich ein Recht auf den Dienst hatte. Allgemein berührte man sich hier mehr als in den USA des 21. Jahrhunderts, aber wenn man jemanden anfasste, von dem man die Finger lassen sollte, war es aus mit einem. Angeblich haben die Kaiser der Shang-Dynastie auf ganzen Menschenbergen geschlafen. Jedenfalls hatte ich mich gerade ausreichend beruhigt, um die Augen zu schließen, als Koh sich über mich kniete. Ihre große gesteppte blautürkise Manta war zugebunden wie ein steifer, riesiger Bademantel. Meine Kostümierer erhoben mich in eine etwas förmlichere Haltung. Koh nahm ihren Platz auf der Matte ein und entrollte eine Weltkartenvariante des Opferspielbretts, die ich noch nicht kannte, eine weniger komplizierte Reiseausführung. Auf ihr entsprach der Mittelkreis unserem Heer oder unserem Flüchtlingszug oder wie man es nennen wollte, und Koh hatte Steine darin aufgehäuft, die zeigten, aus wie vielen unterschiedlichen Leuten wir bestanden: 62 mal zwanzig Geblüte, neun mal zwanzig verletzte oder kranke Geblüte, 410 mal zwanzig Späher, Kostümierer und Kalligrafen, etwa 700 mal zwanzig bekehrte Männer und grob 1202 mal zwanzig bekehrte Frauen und Kinder, 812 mal zwanzig Träger, 2108 mal zwanzig Leibeigene und Gefangene und über 3500 mal zwanzig Mitläufer, die keinen triftigen Grund hatten, uns zu begleiten. Natürlich wurden die Sternenrassler-Gemeinschaften in anderen Städten durch Kohs Erfolge neu belebt und versprachen Zehntausende Neubekehrter, aber sie zählte ihre Hühner erst, wenn sie angekommen waren.
Koh subtrahierte, wie viele Personen aus jeder Kategorie wir wahrscheinlich durch Überfälle, Zermürbung und Entkräftung verlieren würden. Viele Menschen haben keinen Sinn für Logistik, beispielsweise für die Frage, wie viele Schalen Haferbrei jeder Soldat pro Woche isst und dergleichen. Sie wollen lieber hören, wie ein einsamer Held den Krieg ganz alleine gewinnt. Koh war das Gegenteil. Sie wollte die Unsicherheiten so weit wie möglich reduzieren, ehe sie mit wirklich ernsthaften Berechnungen begann.
Sie legte geschnitzte Scheiben aus, die die großen Städte darstellten; eine untertassenähnliche grüne Scheibe stand für Ix. Dann begann sie, Hieroglyphensteine einzusetzen. Ich erkannte die Steine, die für 2-Juwelenbesetzter-Schädel standen, für 9-Reißzahn-Kolibri, für Abgetrennte Rechte Hand, für 3-Kralle – dem Patriarchen der »internationalen« Allianz von Himmelssippen –, für unsere Soldaten und Gefolgsleute, für viele andere Sippen und für uns selbst. Im Großen und Ganzen begriff ich aber nur ein Zehntel ihrer Verbildlichung. Schon bald legte sie braune Saatkörner aus, oft zwei oder drei, die für Hypothetisches standen.
Die Mordkommandos, die uns jagten, setzte sie an vier verschiedene Stellen. Sie legte fest, wo auf dem Weg nach Ix sie Nahrungsquellen vermutete und welches Wetter sie wo postulierte. Und als sie am Ende ihres Wissens angelangt war, begann sie, mir Fragen zu stellen. Was hatten meiner Ansicht nach die anderen Karakara-Großhäuser vor? Um wie viel Hilfe hatte 2-Juwelenbesetzter-Schädel sie wohl gebeten? Worin bestand seine Beziehung zu der kleinen Rassler-Gemeinschaft von Ix wirklich? Warum hatte der ixianische Rasslerfütterer ihre Botschaften nicht beantwortet?
Weshalb sind deiner Meinung nach die Ozelots so selbstsicher?, fragte sie im Flüsterton.
Ich antwortete, das Ende Teotihuacáns habe viele von ihnen verängstigt. Doch einige von ihnen glaubten, sie könnten die entstandene Lücke füllen und die Geschäfte des Reiches weiterführen wie bisher, nur dass in Zukunft ein größerer Gewinn für sie abfiel. Dazu mussten sie vorher die Harpyien loswerden; deshalb versuchten sie, die angeblich unparteiischen Schiedsrichter zu bestechen, wobei sie wahrscheinlich mehr boten, als 2-Juwelenbesetzter-Schädel sich leisten konnte.
Aber 2-Tote-Koralle höre sich an, als sei 2-Juwelenbesetzter-Schädel zuversichtlich, erwiderte Koh.
Ich entgegnete, dass es vielleicht Aufgabe des Gesandten sei, es so darzustellen.
Koh erwiderte, sie halte 2JS für ziemlich clever. Er habe mit Sicherheit einen Plan, eine unangenehme Überraschung für die Ozelots, unabhängig von dem, was wir taten.
Ich schaute ihr in die Augen, was man normalerweise nicht tat, aber ich konnte nicht anders. Ich sah, dass ihre Augen wach und misstrauisch blickten; es war nicht zu übersehen, dass sie befürchtete, 2JS könne sie im Austausch gegen die Sicherheit seines Hauses an die Ozelots verschachern.
»2-Juwelenbesetzter-Schädel hat alles begonnen«, sagte ich.
»Deine Schuld ist die seine.«
»Das könnte er abstreiten«, erwiderte Koh. »Jetzt, wo mehr
Katzensippengeblüte mein Haus hassen als das seine.«
Selbst wenn er Koh im Stich ließe, würden die Ozelots ihn fertigmachen, entgegnete ich. Koh erwiderte nichts darauf, doch ihr Gesicht verriet mir, dass sie das nur zu gut wusste. Die Ozelots würden ihr Wort in jedem Fall brechen. Sie wussten, dass 2JS von Anfang an die Fäden gezogen hatte, und das würden sie ihm niemals verzeihen.
»Und wenn er gewonnen hat, braucht er mich dann noch?«, fragte sie.
»Brauchen wird er das Tzam lic, und eine Neun-Schädel-Addiererin«, sagte ich.
»Ich bin nicht so sicher«, erwiderte sie. »Er wird sie von
9-Reißzahn-Kolibri bekommen, sobald er ihn gefangen nimmt,
Wenn er das Spiel überhaupt zu brauchen glaubt.«
Koh legte zwei Unsicherheitssteine auf 2JS’ Stapel. Ich spürte meine gespaltene Loyalität. Koh musste es mir angemerkt haben, denn plötzlich machte sie einen Rückzieher:
»Ich vertraue meinem Vater 2-Juwelenbesetzter-Schädel«, sagte sie.
»Ich würde keine Ränke gegen ihn schmieden, und ich
Erwäge es auch nicht; beschirmen nur möchte ich
Unsere Gefolgsleute, und ihnen einen Ausweg lassen,
Sollte noch eine Stadt über ihnen zerfallen.«
Ich erwiderte, das hielte ich für das Richtige. Manchmal erschien Kohs Vierzigerjahre-Picasso-Gesicht rein und durchsichtig, und ich fand sie richtig niedlich – nicht dass ich sie je angerührt hätte, aber ich fühlte mich zu Hause und gut aufgehoben. Dann aber verschlossen ihre Züge sich wieder, und es kam mir vor, als wäre ich allein im Zimmer.
Koh entrollte etwas, das ich zuerst für eine weitere kleine Spielmatte hielt, doch es entpuppte sich als detaillierte und ziemlich naturgetreue Karte von Ix. »Der Hüftballplatz ist hier, abgetrennt«, sagte sie und fuhr mit dem kleinen Finger den Graben entlang. Sie hatte recht. Der gesamte Tempelbezirk war ursprünglich auf einem Hügel errichtet worden, den auf drei Seiten ein seichter, unregelmäßiger See einschloss: eine Art San Francisco im Miniaturformat. Seither hatte man den Wasserspiegel immer mehr erhöht, und Teile des Palasts waren bis ins Wasser erweitert worden, sodass der Tempelbezirk von breiten Kanälen umgeben war wie das Rialto in Venedig. Zum Tempelbezirk gehörten die fünf größten der einhundertzehn Mulob’ – Pyramiden – von Ix, außerdem sechs Hüftballplätze, das Smaragd-Großhaus des Ozelots, das Mattenhaus – eine Art Ratsgebäude – und der heilige alte Brunnen der Ozelots, der nun über Aquädukte aus den umliegenden Bergen gespeist wurde, aber noch immer von einem Garten umgeben war, in dem einige der alten himmlischen Giftbäume standen. Im Osten, Norden und Westen gab es keine festen Brücken, nur treibende Fußgängerbarken, die leicht fortzubewegen waren. Selbst wenn wir unsere Plätze auf den Tribünen bewaffnet und kampfbereit eingenommen hätten, wären wir dennoch im Zentrum des Ozelotviertels gewesen, vom Festland durch die Berge hinter der smaragdgrünen und scharlachroten Mul der Ozelots getrennt. Zweihundert von uns konnten in der Falle sitzen und ohne große Schwierigkeiten ausgeschaltet werden. Ich schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass uns entweder während des Ballspiels oder gleich danach etwas Unangenehmes widerfuhr, auf wenigstens zehn zu eins.
Was könnten wir dagegen unternehmen?, fragte ich. Gar nicht erst hingehen? Uns woanders niederlassen?
Nein, erwiderte Koh, aber wir könnten andere Maßnahmen ergreifen. Wir seien vielleicht nicht in der Lage, ein zweites Teotihuacán zu errichten, aber wir könnten etwas Ähnliches erschaffen. Es sei allerdings möglich, dass ich einiges davon persönlich ausführen müsse.
Yo?, dachte ich. Moi? Ich Armer? Wieso wieder ich? Weil ich sowieso immer als Erster auf die Ersatzbank komme?
Immer ich, ich, ich.
Weil ich ein Genie mit dem Ball sei, beantwortete Koh meine Gedanken.
Schakal sei das Genie gewesen, sagte ich, und er sei fort. Koh saß nur da und blickte mich an, als wüsste sie, dass ich noch immer so gut spielen konnte wie früher. Ich hatte irgendwie das Gefühl, als habe sie recht. Trotz allem, was passiert war, fühlte ich mich noch immer großartig. Schließlich sagte ich, also gut, ich übernehme es, ich werde es schon irgendwie schaffen.
Sie erwiderte, als drittletzten Plan hielte sie es für angebracht, mich als einen weniger bekannten Ballspieler der Harpyien-Mannschaft zu verkleiden und zu versuchen, mich für ein paar Runden in das halach pitzom einzuwechseln, das Hüftball-Großspiel.
»Dann könntest du ein oder zwei Tore schießen und das Spiel gewinnen«, sagte sie.
»Die Ozelots müssten für jeden ersichtlich betrügen
Und kämen damit vielleicht nicht durch.«
Holla, dachte ich, warte mal einen Schlag.
Ich sagte ihr, ich würde mich freuen, ihren Plan zu befolgen, und das stimmte: Schon bei dem Gedanken, wieder einen Ballplatz zu betreten, strömten die Schakal eigenen Neurotransmitter zu einem brodelnden Cocktail zusammen.
Ich solle mir mal die Reaktion vorstellen, sagte Koh. Die Fans würden durchdrehen. Vielleicht ehrte man mich als großen Helden, und ich könnte den Laden übernehmen. (Natürlich drückte sie das alles ein bisschen anders aus.)
Ich erwiderte, das höre sich ein wenig zu gut an, um wahr zu sein.
Nun, entgegnete sie, was immer geschähe, es würde die Ozelots wenigstens ablenken: Sie würden aus dem Tritt gebracht.
Für wie lange, fragte ich, und sie antwortete, sie wisse es nicht.
Was dann also, fragte ich.
Dann gingen wir zum vorvorletzten Plan über, sagte sie. Toll, dachte ich. Der letzte Plan bestand, wie immer, darin, dass wir uns so schnell wie möglich gegenseitig umbrachten.
Und worin besteht der vorvorletzte Plan?, fragte ich sie, so beiläufig ich konnte.
Koh streckte die dunkle Hand vor und drehte sie langsam, bis die Fläche nach unten wies. »Das will ich dir zeigen«, hieß es.