(90)
Auf dem HUD waren die drei orangefarbenen feindlichen Punkte zu einem weiten Dreieck aufgefächert, dessen nächste Ecke nur sieben Meter entfernt war. Sie blinkten, was bedeutete, dass die Positionen dieser Taucher nur annähernd ermittelt worden waren.
Riesenfinger von Korallen, gut drei Meter hoch. Noch anderthalb Meter tiefer. Kälter. Folge einer Strömung. Ich benutzte den alten Trick, über die Koralle zu kriechen, als wäre es Zeit zum Füttern, und mich ihr zu nähern, als wollte ich die Polypen heraussaugen. Ein bisschen spät wurde ich gewahr, dass Sics unvertrauter Körper das Tauchen nicht gewöhnt war und anders reagierte, als mein Originalkörper reagiert hätte; daher waren meine Tritte unbeholfen und nicht synchron mit meinem amateurhaften krampfartigen Atmen. Ich konzentrierte mich auf mein HUD. Der Rest des Teams fiel zurück. Der entfernteste Punkt befand sich in einer schwer einzuschätzenden Ballung, bei der es sich um Feinde handeln konnte. Was hatten sie vor? Waren sie noch immer mit dem Leibwächter beschäftigt? Dem Piepsen entnahm ich, dass sie glaubten, ich wäre meinen Beschützern absichtlich ausgewichen. Aber warum redeten sie nicht mit mir? Wurde ich vom eigenen Team hintergangen? Nein, das wäre zu umständlich gewesen. Sie hätten mich jederzeit beseitigen können, hätten sie es darauf angelegt. Vielleicht arbeitete einer von ihnen für die andere Seite – irgendeine andere Seite – und wollte einen Anschlag auf mich verüben. Nein, das leuchtete mir auch nicht ein. Eher machte der Leibwächter mehr Mühe als erwartet. Oder waren mehr Leute von Jed1’ Boot aufgetaucht? Das würde den Punkt erklären …
Hm.
Vor der stumpfgrünen Koralle hob sich ein schwarzer Umriss ab. In weniger als einer Sekunde bemerkte ich, dass er keine anderthalb Meter entfernt war, dass er sich mir zugewendet hatte und dass er mich sah und die Hand nach mir ausstreckte. Und mit einem Mal wusste ich, dass ich Jed1 vor mir hatte. Ich erkannte ihn nicht an seinem maskierten Gesicht oder seinem Kopf, der eingehüllt war, sondern an seinen Bewegungen, die so unverkennbar waren wie der Schrittrhythmus der eigenen Mutter.
Ehe ich begriff, schienen wir einander zu umarmen. Glitschi-glitsch. Ich ließ das DPV los, doch mein Geschirr hielt es fest. Ich packte ihn. Mir ging die Szene aus einem der späteren Oz-Bücher nicht aus dem Sinn, wo der Blechmann seinem Kopf begegnet. Nicht ablenken lassen. Das war schon immer dein Problem, Jed, du verfällst immer zum ungünstigsten Zeitpunkt in eine Digression … Abbruch, Abbruch!, dachte ich. Konzentrier dich auf das Bling. Angeblich war das ein großes Problem, das Menschen in Kampfsituationen haben. Sie fangen an, über irgendein Buch nachzudenken, oder ein Lied, das sie mögen, und im nächsten Moment strecken sie den Kopf über den Rand des Schützengrabens. Ganz ruhig, dachte ich. Stärke und List. In diesem Fall nur List. Wo blieb der Rest des Teams? Verdammt, das DPV zog uns in die Tiefe. Ich schaffte es, die linke Hand hineinzubekommen und den Riemen zu öffnen, löste mich von dem Ding und befreite mich halb von Jed1. In meiner Maske war nun Nebel, und ich konnte das HUD nicht mehr deutlich erkennen, aber den Umrissen und den Tonsignalen entnahm ich, dass Jed1 uns beide mit den Flossen von den übrigen Tauchern forttrieb, seinen und meinen, fort vom Riff, hinaus ins tiefe Wasser. Ich folgte ihm.
Klick. Er hatte in seinem Sprechgerät meinen Kanal gefunden.
»Du hast mich gefunden«, quäkte Jed1 mit meiner alten Stimme. Er stieß sich von mir fort.
»Komm mit uns«, sagte ich. »Ehrlich, sie werden dich nicht foltern, sie …«
Er tauchte in die Tiefe. Ich folgte ihm. Er bringt sich um, dachte ich. Er geht auf zwanzig Meter, und dann reißt er sich die Maske runter. Das ist ein schneller Tod, wie mit einer Handgranate.
Nach unten hin wird es rasch dunkel. Der Druck baut sich allerdings noch viel schneller auf. Durch meinen Kopf hallte ein Knirschen wie das Geräusch des Columbia-Gletschers, wenn er in den Prinz-William-Sund kalbt. Atme, dachte ich. Ich atmete. Ich fühlte mich schon wie ein Korken in einer Weinflasche. Runter. Atme. Tatsächlich sollte das Atemgerät in größerer Tiefe sogar noch besser arbeiten. Nur dass Jed1 vielleicht Tiefsee-Nitrox dabei hatte, für alle Fälle. Falls ja, hatte er den längeren Atem. Haha. Runter.
»Das ist doch völlig verkorkst«, sagte ich in dieser Fistelstimme, die man unterhalb von vier Faden bekommt.
»Ja«, stimmte er mir zu.
Ich richtete das Licht auf ihn, entließ alle Luft, die in meinem Auftriebskompensator übrig war, und schob mich mit den Flossen abwärts.
Da.
Ich hatte ihn.
Einen Kampf konnte man es kaum nennen. Bestenfalls war es ein Handgemenge. Ich dachte, es mir käme mir vor, als kämpfte ich mit einem Spiegelbild meiner selbst, aber so war es nicht. Er hatte sich verändert. Er trug sein Haar kurz. Dazu kam die Maske. Und sein Gesichtsausdruck, soweit ich ihn überhaupt sehen konnte, war so … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Halte ihn hier fest, beschwor ich mich, halte ihn vom Boot fern, Ana ist jeden Augenblick hier, sie weiß, was zu tun ist, halte ihn nur fest. Ich schlug ihm in den Magen, war mir aber nicht sicher, ob ich damit viel bewirkte. Ich spürte einen Aufprall an meiner Maske. Auuu! Salzig. Teufel. Blut. Ich hatte mich in die Wange gebissen. Verdammt. Angeblich gab es Hammerhaie in der Gegend, die abends in die Nähe der Küste kamen. Hammerhaie sind wie Unterwasserspürhunde. Wenn auch nur ein bisschen Blut aus der Maske leckte, rochen sie es von hier bis nach Kuba. Lecker-lecker, Jungs. Hölle.
Jed1 verdrehte sich und kam beinahe frei. Doch mit der linken Hand hielt ich ihn gepackt. Ich flösselte und erreichte mit der rechten Hand seinen Gürtel. Nicht loslassen. Neugruppieren. Okay.
Attacke!