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Ruft man »Palmyra Atoll« bei Google Earth auf, sieht man zunächst gar nichts. Erst wenn man heranzoomt, erkennt man zwei winzige, miteinander verbundene Inseln, die einen anblicken wie eine weiße Dominomaske. Wären wir auf kommerzielle Reisemöglichkeiten angewiesen, hätten wir einundachtzig Stunden gebraucht, um die 6750 Meilen dorthin zurückzulegen. Doch mit der Information, sie habe Jed1 lokalisiert, hatte Marena bei Lindsay und Boyle die Wogen geglättet und sie bewegen können, uns eine Gulfstream mit drei Mann Besatzung zur Verfügung zu stellen. Die Maschine brachte uns in fünf Stunden von Orlando nach Twentynine Palms, wo wir in eine von der Air Force ausgemusterte C-17 Globemaster im Besitz der Warren Group umstiegen und in elf Stunden nach Wheeler Base in Wahiawa mitten auf Oahu flogen. Von da aus waren es nur noch fünfeinhalb Stunden bis Kiribati. Nach Palmyra fuhren wir mit einem Rennboot; wir trafen uns dort kurz vor Sonnenuntergang mit Anas Leuten, die auf einem Stealth-Boot namens Gotengo auf uns warteten.
Wie ich Marena ein wenig atemlos erklärt hatte, konnte Jed1 den versteckten Post über Kristen Stewart nur mithilfe des Grandeza-Spiels gefunden haben. Dieses Spiel führte er immer sonntags kurz nach Mitternacht durch. Mitternacht war in diesem Moment nur auf den Linieninseln, die sich fast genau auf der internationalen Datumsgrenze befinden. Und der interessanteste Punkt der Linieninseln war das Palmyra-Atoll, weil dort die neuentdeckten, möglicherweise eusozialen Nacktkiemer lebten. Doch wenn man es so darlegt, wirkt es plötzlich gar nicht mehr so sehr wie von Zauberhand.
Die Gotengo lag tief und dennoch unruhig im Wasser, was vermutlich daran lag, dass sie zu diesen neuartigen ortungsgeschützten Booten gehörte, die ganz aus Kevlar und Kohlefaser bestanden. Sie war dreizehn Meter hoch, was für einen Rifftaucher wie mich normalerweise sehr viel war. Aber das meiste davon lag unter Wasserlinie, und wir acht – außer mir waren es Marena, Ana und fünf männliche Sicherheitsfachkräfte (oder seien wir ehrlich und nennen sie Söldner) – stießen dauernd gegeneinander, als wir auf dem wenig großzügigen Deck hockten. Eigentlich war Gotengo gar nicht der Name des Bootes; es hatte überhaupt keinen Namen, nur eine Registriernummer und eine zwei Terabyte große Spezifikations-Disk, die einem alles darüber verriet, wie sie von VT Halmatic gebaut und auf neunzig Knoten getestet worden war – was eine gewaltige Geschwindigkeit ist. Wir würden aber keine Rennen fahren.
»Sie reden über den Sturm«, sagte Megalon. Natürlich war »Megalon« nicht sein richtiger Name; den erfuhr ich nie. Ich wusste aber, dass er früher Lieutenant-Commander im SBS gewesen war, dem Special Boat Service, der britischen Version der US Navy SEALs. Er redete in dem zurückhaltenden, aber trotzdem eine Herkunft aus der Arbeiterschicht verratenden Ton, den die britischen Muschkoten alle draufhaben, mit einem Hauch von australischem Akzent. Er war groß und von Natur aus jovial, und er hatte sich ein wenig das Haar wachsen lassen, seit er im Privatsektor tätig war, doch er legte nach wie vor eine militärische Haltung an den Tag. Er trug ein Tattoo mit einem knubbeligen römischen Kurzschwert und einem Spruchband, auf dem By Strength and Guile stand, DurchStärke und List, das Motto des SBS. Guter Plan, dachte ich. Er redete über die Leute auf Jed1’ Charterboot, der Blue Sun, oder sollte ich eher sagen, der Matango. Man konnte sie von unserer Position aus nicht sehen, aber das Sonar verriet uns, dass sie dort draußen war, einen Kilometer OSO. Ach ja, Megalon erzählte uns das nur, weil er über sein Ohrstöpselhandy mit unserer Audio-Lady sprach, die mit dem Kapitän und einem IT-Spezialisten unter Deck war. Audio Lady – na, benutzen wir meinetwegen ihren dämlichen Codenamen, der »Mothra« lautete – schien etwas von ihrem Handwerk zu verstehen. Ich hatte mir die Audio-Rohdaten angehört, die uns von der Matango erreichten; sie hatten geklungen wie eine Hyäne im Windkanal. Man musste schon ein alter Audiofreak sein, um aus dem Zeug, das die drei unterschiedlich eingestellten Parabolmikrofone auffingen, etwas herauszuhören, es zu entrauschen, zu interpretieren und für uns andere zusammenzufassen.
»Reptar will, dass er in einer halben Stunde hochkommt. Ogra sagt nein.« Reptar war der Skipper der Matango. Ogra war Jed1.
»Ich bin immer gern nach Sonnenuntergang nach unten gegangen«, sagte ich. Die meisten Nacktkiemer kommen erst in der Dunkelheit aus ihren Ritzen und Winkeln hervor. »Nur …«
»Ha!«, rief Megalon. »Okay, es geht los.« Er sagte, dass Ogra mit zwei weiteren Tauchern, vermutlich Leibwächtern, nach unten gegangen sei; sie schwammen nach Süden, ohne Tauchschlitten im Schlepp, zur äußersten Spitze des Riffs. »Achtzehn Minuten.« Wir wollten so wenig Zeit wie möglich im Wasser verbringen, und ich hatte gesagt, dass meine durchschnittliche Tauchzeit bei siebzig Minuten lag. Wir brauchten zweiundvierzig Minuten, um ihre Position zu erreichen, und wir wollten sie gegen Ende des Tauchgangs erwischen, wenn sie müde waren. Ich verrutschte leicht auf dem kleinen Klappstuhl. Eeekch. Der Beinriemen meines Schleppgeschirrs scheuerte über die zarte Haut auf meiner Dammnaht, aber ich wollte vor Marena und Ana nicht den Reißverschluss öffnen und mir zwischen den Beinen herumfingern. Ein Trio brauner Pelikane bog über uns nach Westen ab. Weit im Osten nahm eine niedrige Wolkenbank den Farbton an, den Joseph Conrad als »jenes finstre Oliv« bezeichnet hat. Ich schaute auf den kleinen Bildschirm an meinem linken Handgelenk. Sechs Minuten vor Sonnenuntergang am Sonntag, dem 2. Dezember, mit anderen Worten, 63 Stunden, seit wir das Boot identifiziert hatten. Wettermäßig war es zwanzig Grad warm, bei siebzig Prozent relativer Luftfeuchtigkeit, Südostwind mit achtzehn Knoten, und bewölkt mit Chance auf Vernichtung. In einer Stunde würde die Flut ihren Höchststand erreichen, und die Wellen waren zwischen einem halben und einem Meter hoch und kabbelig. Die Wolken im Osten gehörten zu einem späten Tropensturm, der sich vierzig Meilen entfernt über Antigua zusammenballte. Laut Meg-Man konnte er zum Problem werden – oder zum »Faktor«, was wahrscheinlich noch schlimmer war als ein Problem –, aber noch war er es nicht.
»Wenn er uns nicht erwartet, warum hat er dann Leibwächter?«, fragte Marena.
»Vielleicht nur zur Sicherheit«, sagte Megalon. »Wegen der Strömungen. Oder es sind nur Freunde.«
»Freunde?«, fragte ich.
»Haben Sie keine Freunde?«, erwiderte er.
»Nein, es ist nur … Ich meine, überwachen wir nicht alle meine Freunde? Den einen, den es gibt, meine ich.«
»Ja«, sagte Ana.
»Dann sind es eben neue Freunde«, sagte Megalon.
Er zog seine Vollmaske über – eine Scheibe aus gelbem Fiberglas, die das Gesicht vollständig bedeckte und ein Nachtsichtgerät sowie Schrauben an den Schläfen aufwies. Sie besaß freiliegende Atemschläuche, die sich um seinen Hals krümmten und ihn aussehen ließen wie die Vincent-Price-Fliege mit einem übergroßen Essix-Retainer.
»Das klingt nicht sehr plausibel«, entgegnete ich. Ich muss diesen Gurt richten, dachte ich.
Sogar über die Leitung klang Megalons Stimme kräftig und entschlossen. »Selbst wenn es Frauen sind, werden wir sie als bewaffnete Froschmänner behandeln«, sagte er. »Ergreifen, kampfunfähig machen, entfernen.«
Sir, jawoll Sir, dachte ich. Jemand gab mir eine BandMask ®, Bandkeepers ® und ein SuperFlow ®-Ventil. Ich legte die Ausrüstung gekonnt an, bis Ana sie mir wegnahm und die Schnallen sadistisch straff zog. JUCKT! AUTSCH! AUA! MUSS! GURT! SOFORT! RICHTEN! Ein gelber Blitz zuckte über die Unterseite des grünen Wolkenbandes, als die Vollmaske vor mein Gesicht klappte. Kein gutes Zeichen. Marena sah es auch; deshalb erhob ich mich halb und schob die Hand heimlich in meinen Schritt hinter dem Gurtzeug. Ahh. Noch ein bisschen. Verdammt, sie schaute mich an. Egal. Ich setzte mich wieder. Hinter der Maske zuckte mein Kopf.
»Haken wir uns ein«, sagte Megalon. Ich fasste an den Ring an meinem Geschirr – das mir im Schritt juckte – und klinkte ein Nylonseil daran ein. Das Seil verlief über die Seite nach achtern zu meinem Tauchscooter, dem Diver Propulsion Vehicle oder kurz DPV. Sieben davon schleppten wir in einer langen Reihe. Sie waren groß – mir erschienen sie gigantisch –, aber angeblich waren alle anderen Modelle viel zu laut, und falls die Matango über Hydrofone verfügte, hätte sie uns sofort bemerkt.
Au. Das Richten war nicht hundertprozentig erfolgreich gewesen. Da unten sollte lieber alles glattgehen, sonst …
»Los geht’s«, sagte Megalon. Er ließ sich nach hinten kippen und glitt diskret ins Meer.
Ich klappte meinen Stuhl zusammen und setzte mich aufs Dollbord. Ana folgte Megalon, wobei sie mehr Geräusche machte, aber zu schämen brauchte sie sich nicht. Ich begann zu hyperventilieren. Die anderen Kampfschwimmer tauchten ein – drei, vier, fünf, sechs. Okay. Atmen. Ein. Aus. Ein. Jetzt. Ich lehnte mich nach hinten, fiel und hörte den Beginn eines amateurhaften Platschers. Sogar in meinem Jack-Browne-Taucheranzug durchfuhr mich die fast unerträgliche Kälte, die aber vorüberging, noch ehe ich sie richtig bemerkte. Dann folgte der allmähliche Übergang ins Treiben und der Moment, wo sich – ganz egal, was für ein Mistkerl da gerade ins Wasser geht – jeder Taucher der Welt auf die rührseligste, denkbar klischeehafteste Weise ein paar Sekunden lang eins fühlt mit der allumfassenden, weindunklen Mutter des Salzwassers. Diesmal musste ich bei diesem Gefühl an eine Bemerkung Kohs denken, die mir einmal erzählt hatte, sie könne sich erinnern, wie sie im Schoß ihrer Mutter Speichel geatmet und im roten Zwielicht dem gedämpften Gesang der Kostümiererinnen zugehört habe.
Okay, konzentrier dich. Ich nahm zwei Lungen voll Nitrox. Aaah. Die Mischung enthielt zusätzliche acht Prozent O2, genug, um einen ein bisschen mehr auf Trab zu bringen, aber nicht so viel, dass man davon albern wurde. Okay. Schritt Zwo. Nimm dein DPV. Ich ergriff die Schleppleine und folgte ihr nach achtern, indem ich mich mit dem Rücken nach unten daran entlanghangelte, bis ich mit dem Kopf gegen den Scooter stieß. Ich brachte mich in Position, löste die Leine und verankerte mein Geschirr in der Klampe auf der Rückseite. Wenn es sein musste, konnte man auf diesem Ding freihändig fahren. Falls man bewusstlos wurde, konnte die Crew auf dem Boot das DPV sogar ferngesteuert zurückholen, und es zog einen mit sich. Ich brachte mich hinter dem Scooter in Position – durch die Handgriffe spürte man die Vibrationen des Motors, aber man konnte ihn nicht hören –, ließ mich mit gesenktem Kopf daran hängen, saugte die zunehmende Wärme auf und lauschte auf diese so andersartige Unterwasserwelt mit ihrer Schallgeschwindigkeit von fünfzehnhundert Metern pro Sekunde und mit Bewohnern, die klackerten wie Steinmarimbas aus dem Märchenland. Fand ich jedenfalls. Okay. Ich schaltete den Scheinwerfer des DPVs ein. Verdammt. Die Sicht war schlechter als vorhergesagt; sie lag bei kaum fünf Metern. Viel zu viel Phytoplankton. Vielleicht lag es am Sturm. Wie immer verdrehte ich mich und warf einen sinnlosen Blick über die Schulter nach hinten. Nichts. Brrrrr. Ganz gleich, wie viele nächtliche Tauchgänge man unternommen hat, man schaudert und fröstelt dennoch, wenn man zum ersten Mal wieder die Gewaltigkeit der Finsternis unter sich und besonders hinter sich spürt – eine Finsternis, die die Amygdala hilfsbereit, wie sie nun mal ist, mit hungrigen Hammerhaien, tödlichen Würfelquallen, dem letzten überlebenden Megalodon, Xib’alb’anern mit Raffklauen und einem bisschen Brut des Cthulhu bevölkerte.
Ich streckte die Arme aus und ließ mich ungefähr einen Fuß unter der Oberfläche in den besänftigenden Druck sinken. Aaah, das ist besser. Schluss mit der dämlichen Schwerkraft. Ich ballte mich zu einer Faust zusammen, zählte bis vier, streckte mich und schüttelte Arme und Beine. Verdammt. Mobilitätsprobleme. Zu viel Mist. Was die Jungs vom SBS »Systeme« nannten. Die Ausrüstung wiegt zwar nichts mehr, wenn man im Wasser ist, aber trotzdem gibt es eine Grenze, wie viele Vorsprünge man an seinen anderthalb Quadratmetern Körperfläche verträgt. Das Geschlossene Kreislauftauchgerät, das kaum verräterische Gasbläschen abgab, war leichter als ein normaler Atemtank, aber sperrig, und sie hatten mich mit all dem anderen Kram beladen, darunter eine Vollgesichtsmaske von Ocean Reef – wir sollten sie lieber als Helm bezeichnen – mit unzerschneidbaren Schläuchen aus Stahlgeflecht und Sicherungsriemen an der Stirn, damit kein Gegner sie mir herunterreißen konnte. Außerdem hatte ich ein Nachtsichtsystem mit vorstehenden Fliegenaugen, die in mein Gesichtsfeld hinein- und wieder hinausschwenkten. Sie wirkten improvisiert und zusammengeschustert. Mein ganzer linker Unterarm war von etwas bedeckt, das wie eine Manschette aus schwarzen Jadeschuppen aussah, aber ein OLED-Display und große Tasten mit aufregend geometrisch gestalteten Icons enthielt. Das Raffinierteste daran war ein LIMIS mit synthetischer Apertur, ein Limpet Mine Imaging Sonar zur Suche nach Haftminen. Ausgewertet wurde auf der Gotengo, aber wir konnten die Bilder auf unserem Head-up-Display sehen, so gedreht, dass sie unserer Perspektive entsprachen. Angeblich waren die Impulse getarnt und zu leise für die meisten Sonarlauscher. Dennoch war die Auflösung großartig. Man konnte eine Bierdose, die eine Viertelmeile entfernt auf dem Meeresboden lag, sehen oder genauer, hören. Dazu kamen ein Kommunikationssystem mit adaptivem Beamforming und ein Kenncodesystem, das mich identifizierte, meine Position angab und über fünf an meine Brust geklebte Elektroden meine Herzfrequenz und meinen Blutdruck überwachte (nach allem, was ich wusste, auch meine Spermienaktivität). Sie hatten mir diese neuen winzigen dünnen superelastischen Flossen angehängt, die Mord für die Knie sind. Am schlimmsten war der angeblich undurchdringliche, viel zu steife Taucheranzug. Mach dir darum keine Gedanken. Atme. Aaah. Okay. Tiefe fünf Meter, Temperatur 20 °C, Luftdruck 1031 mbar. Check, Check und Check. Position 5° 53’ N, 163° 6’ W. Strömung ONO bei fünf Knoten. Meerestiefe zehn Meter. Geschätzte Reisezeit zum Ziel stieg auf fünfzig Minuten. Ich blickte aus zusammengekniffenen Augen auf das Head-up-Display. Es zeigte mir dreißig Meter Umkreis in drei Dimensionen in einem kartesischen Koordinatensystem mit mir als Nullpunkt. Wie in einer 3-D-CAD-Software konnte man vier verschiedene Ansichten abrufen. Im Augenblick zeigten sich viel zu viele Echos. Eine Menge Schnapper in der Menge. Ich schaltete auf Standardmodus, wodurch alles unterhalb Haifischgröße hinausfiel. Nur noch die sechs blauen Punkte für die anderen Taucher und der eine große grüne Punkt für die Gotengo waren zu sehen.
Djoong djoong dhoong djoong, machte Megalon. Formation einnehmen, hieß das. Djoong djoong djoong djoong. Mit den Flossen steuerte ich nach rechts und vor. Drei Blips reihten sich mit mir ein, als wäre ich der Anführer, was ich auf keinen Fall war. Ana war links direkt neben mir, Megalon rechts. Briiieeep, machte Anas Armbandsystem in meinem Ohr. Es bedeutete: »Hier Jiga, alles in Ordnung.« Ich drückte zwei Knöpfe und meldete: »Hier Jed3, alles in Ordnung.« Die anderen meldeten das Gleiche.
Jetzt geht’s los, dachte ich. Mir flatterte ein Schwarm Ligusterschwärmer im Bauch herum.
Selbst wenn wir den Zielen nahe kamen, und obwohl das System Jed1’ Größe und Gewicht kannte, unterschieden sie sich wahrscheinlich physisch für uns nicht genug, um sie auseinanderzuhalten. Was der Grund dafür war, weshalb wir keinerlei Unterwasserschusswaffen trugen, obwohl Waffen hergestellt werden, die anstelle von Kugeln Stahlstäbe verschießen, und Megalon besaß auch welche. Aber wenn das Einsatzziel darin besteht, jemanden quicklebendig in Gewahrsam zu nehmen, sind solche Waffen nutzlos. So viel dazu.
Gestern hatten wir den Einsatz geprobt. Einer von uns hatte das Ziel von hinten festgehalten, der andere hatte es gefesselt. Ich wusste so zumindest, dass es möglich war. Sie sagten sogar, mehr Leute wären überflüssig gewesen. Trotzdem, es …
Gonnng!
Das bedeutete, dass jeder bereit und alles klar war. Einen Augenblick war es still, dann gongte es wieder, höher diesmal, was »Aufbruch!« bedeutete. Ich drehte den Handgriff und spürte die Vibrationen des lautlosen Propellers. Das DPV setzte sich träge in Bewegung und zog mich hinterher. Vorwärts!, dachte ich. Wieder in den Lendenschurz! Halt deinen Mut nur am Punkt des Schraubs. Ich richtete mich nach der Strömung aus. Schneller und schneller zog der wellige Schlickboden unter mir vorbei. Eine Schule von smaragdgrünen Stachelmakrelen schoss vor uns aus der Dunkelheit, machte kehrt und verschwand wieder mit völlig synchronen Bewegungen wie bei abgerichteten Tauben. Weiter. Die Strömung war stärker, als die Armbandanzeige behauptete. Vielleicht war ich aber auch verweichlicht, weil ich die ganze Zeit nur Geld gezählt hatte. Während der Probeläufe hatten die SBS-Jungs meine Taucherfähigkeiten ziemlich belächelt. Klar, die hatten ja auch ein paar Jahre lang unsere Freiheit verteidigt, indem sie in fünfunddreißig Grad warmer Rohbrühe im Persischen Golf umhergetunkt und Blindgänger aus Wracks gefischt hatten. Ich hatte versucht, ihren Spott mannhaft zu ertragen. Gott sei Dank besaß wenigstens Marena nicht genügend Taucherfahrung, um den SEAL zu spielen. Trotzdem hatte sie sich geweigert, am Ufer zu bleiben.
Komm schon. Das schaffst du. Von wegen Schweiß, Blut oder Tränen. Vorwärts! Vorwärts marschiert! Wasserschlieren umströmten mich wie Anime-Geschwindigkeitslinien. Wenn man in purer Schwärze taucht, kommt es einem vor, als bewegte man sich nicht waagerecht, sondern fiele. Bewegung, Bewegung … Youch!
Verdammt. Immer noch Probleme im Schritt. Einfach ignorieren.
Okay. Nachdenken. Jed1’ Boot ist fürs Tauchen eingerichtet. Die Leine kommt daher wahrscheinlich von der Leeseite. Von Backbord. Hmm.
Vor allem durch Glück hatten die beiden Kerle, die Ana ihre »konventionellen Detektive« nannte – Ermittler, die digitale und papierne Spuren verfolgten –, uns ein gutes Foto der Blue Sun verschafft. Sie waren eine Liste mit allen mehr als zehn Meter langen Booten durchgegangen, die in Jed1’ »aktiver Zone« registriert waren, einem Gebiet, das er in weniger als einem Tag Reisezeit an der Oberfläche erreichen konnte. Sie waren dabei auf achtundsechzig infrage kommende Boote und deren Standorte gestoßen. Ich hatte sie mit den Bio-Karten verglichen und nach weniger als fünf Minuten das richtige Riff ermittelt. Es war eine nicht allzu bekannte Kolonie von Dendrogyra cylindricus, Kandelaberkorallen, die die Nahrungsquellen einiger Nacktkiemer sind, darunter Lasidorus greenamyeri, die möglicherweise eusoziale Spezies, die Sun-Hin Hsu und Tobi Ramadan in der Dezemberausgabe des Journal of Malacological Studies beschrieben hatten. Jedenfalls sprachen Anas Detektive daraufhin mit einigen Skippern aus der Gegend und erfuhren, dass die meisten Riffe im Laufe der vergangenen zehn Jahre gestorben waren. Doch fünf Kilometer vor der Küste, am Südende eines dieser Riffe, lebte noch ein Stück und war nahezu unberührt. Daraufhin waren die Ex-SBSler mit der Gotengo dort hinausgefahren. Nach nur vierzig Minuten Lauschen war Ogras Stimmabdruck auf dem Wellenformmonitor erschienen.
Wir waren alle ziemlich aufgeregt. Megalon war froh, dass Jed1 tauchte und nicht an Deck in der Sonne lag. »Ihn unter Wasser zu fassen ist erheblich sicherer«, sagte er. »Die meisten Fehlschläge gibt es bei Enterversuchen.« Als er mich fragte, ob es möglich wäre, dass Jed1 sich eher das Leben nimmt, als sich gefangen nehmen zu lassen, hatte ich genickt. Deshalb wollten sie ihm lieber keine Zeit lassen.
Megalon sagte, dass es früher – also vor ungefähr zehn Jahren – ziemlich schwierig gewesen sei, eine Zielperson in solch einem so großen Bereich des Meers zu lokalisieren. Heutzutage benutzte der Boat Service piezoelektrische Wandler, die ihre Daten an ein Kurzweil’sches Programm übermittelten, das sich auf von Menschen erzeugte Geräusche einschoss, besonders auf den typischen Rhythmus von Unterwasseratemgeräten. Solange sie nicht die Luft anhielten, wussten wir, wo sie waren.
Die Blue Sun war kein bekanntes Schmugglerboot; daher war es unwahrscheinlich, dass jemand an Bord eine Waffe trug. Dennoch hatte Ana darauf beharrt, dass ich nicht mitgehen dürfe, und es hatte viel Hin und Her gegeben, da meine Kenntnisse über das Opferspiel zu wichtig seien, um sie auch nur dem geringsten Risiko auszusetzen. Ich entgegnete, dass meine Spielkenntnisse nichts mehr wert seien, wenn der ganze Planet in die Nichtexistenz gesaugt wurde, dass wir aber alle Informationen brauchen würden, die wir bekommen könnten, wenn die Sache schiefging. Sollte Jed1 uns bemerken und auf sein Boot zurückkehren, müssten wir verhandeln, und auf mich würde er besser reagieren als auf sonst jemanden. Vielleicht ließ er sich sogar von uns gefangen nehmen. Wenn Jed1 aber bis zum bitteren Ende Widerstand leistete, konnte ich ihn vielleicht bewegen, etwas auszuplaudern, das er anderen Leuten nie gesagt hätte. Oder vielleicht bemerkte ich einfach etwas, das die anderen übersahen – etwas an seinem Verhalten, das einen Hinweis auf die Domino-Kaskade lieferte. Aber dazu musste ich vor Ort sein.
Ich drehte den linken Handgriff für einen Beschleunigungsstoß und kehrte in die Formation zurück. Schleichfahrt in der Tiefe. Mein HUD meldete mir, dass wir sechshundertachtzig Meter gefahren waren, also war die Blue Sun hundert Meter entfernt. Megalon sandte eine Reihe kurzer As-Töne aus, die ein 2-3-2-Muster wiederholten. Verdammt, ich hatte vergessen, was das hieß. Ich wurde müde. Ich berührte den Signalcodelistenknopf an meinem Dick-Tracy-Zweiwege-Armbandfernseher. SINKEN, las ich. Ich ließ ein wenig Gas aus dem Auftriebskompensator und sank gut drei Meter. Dabei überkam mich das angenehme Gefühl, das Meer umarme mich noch enger. Wenn du einfach hierbleiben könntest, dachte ich, bräuchtest du kein Citalopram.
In dieser Gegend waren die Spitzen der Korallen bei Flut sieben Meter unter der Oberfläche, also war Jed1 vermutlich auf dieser Höhe oder tiefer. Oder er hatte …
Bling grong, machte Megalon. Zeit, die Scheinwerfer auszuschalten. Plötzlich krochen wir alle nur noch. Jeddo-Eins würde seinen Scheinwerfer vermutlich gar nicht erst einschalten. Nacktkiemer beobachtet man besser in der natürlichen Chemolumineszenz des umgebenden Planktons. Ich schaltete die Lampe aus. Sofort schob sich die Nachtsichtbrille in meiner Maske auf Position und erhellte den schlickbedeckten Meeresboden in körnigem Grün.
Hmm. Nicht okay, dachte ich. Ich signalisierte »Nicht okay«. Die Reihen roter Ziffern auf dem HUD meiner Maske waren viel zu hell. Ich fummelte an den Tasten. Teufel. Es dauerte mehr als eine Minute, um die Frage »Wie stellt man die verdammten Lichter vor seinen Augen ab?« vollständig einzutippen. Die Tasten waren zwar groß, wie auf einer Tastatur für Kleinkinder, und jede besaß eine charakteristische Form, die man mit der Fingerkuppe ertasten konnte (man konnte die Fingerspitze leicht aus dem elektrisch erwärmten Handschuh heraus- und wieder hineinschieben). Trotzdem war das Ganze noch immer unmöglich. Schiefertafeln wären nützlicher gewesen. Neue Gadgets kosten einen in der Hälfte aller Fälle nur Zeit. Ich gab noch einen denkbaren Befehl ein. Nichts. Briep djoong briep, hörte ich Megalon in meinem Ohr. Das hieß, ich solle mich zusammenreißen. Briep briep briep briep briep, gab ich zurück, und das hieß: Jetzt machen Sie mal halblang. Mann, die ganze Show kostete Marena ungefähr fünfzehntausend Dollar pro Minute. Erst vorhin hatte sie mir erzählt, dass sie ihre letzten Anteile am Warren-Film veräußert habe, einschließlich der Rechte an Fortsetzungen, Videoveröffentlichungen und die meisten Computerspielerechte, die nicht auf der Neo-Teo-Welt basierten; trotzdem musste sie noch Schulden machen. Finanziell zumindest würde sich das Ende aller Zeiten für sie lohnen …
Oh, okay. Geschafft. Ich dimmte das HUD, bis es kaum noch zu sehen war, und ging durch zwei Stadien zornabbauender Atmungsübungen. Abbruch, Abbruch. Jeder tut sein Bestes. Sie sind Profis, sie machen gute Arbeit, du machst gute Arbeit, du bist tüchtig, du bist erfinderisch, und die Leute mögen dich. Okay.
Ich rieche Nacktkiemer, dachte ich. Sehen kann ich so etwas Kleines aber nicht.
Hmm.
Die sechs blauen Punkte, mein Team, waren dreizehn Meter westlich, also hinter mir. Angemessen nahe, dachte ich. Die Taucher von der Blue Sun waren zu weit entfernt, um sie aufzulösen, und wurden als einzelner großer, orangefarbener Punkt dargestellt.
Ich schaltete die Nachtsicht ab.
Während eines lampenlosen nächtlichen Tauchgangs etwas auszumachen ist ein wenig so, als stünde man an einer offenen Tür mit dem Licht im Rücken, würde hinaus in die Dunkelheit blicken und seinen Hund rufen. Irgendwann dreht er sich um und kommt, vielleicht nicht allzu eilig, wieder zurück, und als Erstes sieht man dieses schmutzig-smaragdgrüne Leuchten seiner Augen. Hier sah ich nur die Enden einiger fingerförmiger Spitzen, das Vorgebirge der Sierra aus schlafenden Korallen.
Dichter. Halt still.
Nacktkiemer.
In den spärlichen zwei Lumen Licht sahen sie stumpfblau mit schwarzen Streifen aus, fast genau wie Tambja mullineri.
Aber sie bewegten sich anders als alle Nacktkiemer, die ich bisher gesehen hatte. Fast wie eine Schule Fische. Ich ließ eines meiner Zweipfundgewichte fallen und schwebte in die Schule hinein, ließ mich in die gleiche Richtung treiben, in die sie unterwegs war, nach Südosten, zur Spitze des Riffs. Eine Stimme erklang in meinem Ohr und sagte mir, dass ich mich unverzeihlich weit vom Rest des Teams entfernte. Wenn …
Hmm. Orange Striche auf meinem Masken-HUD. Was hat das zu bedeuten? Nein, Moment, sie sind da draußen. Striche aus Licht, in gleichen Abständen, und nicht …
Holla. Das war die Leine von der Blue Sun, in Fadenabständen mit einem Leuchtstab markiert. Ach du Schande! Ich legte den Rückwärtsgang ein, setzte sieben Meter zurück, richtete das DPV nach unten und sank drei Meter auf die Stelle zu, wo ich den Anker vermutete.
BEEP. DONG. DONG-DANG, BEEP.
Gefahr.