(78)

Duuuump,

Duuuump …

FUMMP.

Die Erschütterung lief wellenartig durch den Stein. Dann kam der Schall und verstummte plötzlich wieder – eine echofreie Explosion wie eine Platzpatrone in einem Tonstudio. Dann kam ein migräneartiger Schmerz im Kopf über einer absoluten Stille, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Der Druck hatte mir die Trommelfelle zerfetzt.

Na und?, dachte ich. Die brauche ich nicht mehr. Endlich Ruhe, nach einem Leben voller Lärm. An diese Art Frieden konnte man sich gewöhnen.

Ich war bereits in dem gebärmutterförmigen Sarkophag. Ich saß aufrecht darin wie in einer Badewanne und muss ganz schön albern gewirkt haben. Im Raum waren nur drei weitere Personen: Hun Xoc, Alligator-Wurzel und mein Diener. Maske-von-Jaguar-Nacht und die anderen Arbeiter und Diener lagen unter den Steinen, mit denen der Zugang zur Kammer verschüttet worden war. Gut, dass ich nicht hören kann, wie sie schreien, dachte ich – falls sie noch schreien. Das hätte mich ziemlich belastet.

Hun Xoc stützte sich mit den schwieligen Ellbogenstümpfen auf den Rand des Sarkophags. Wir lächelten einander an. Ein Blutstropfen lief ihm aus dem Ohr, zog einen Streifen über die Wange, drohte sich abzulösen und auf mich zu fallen, was aber doch nicht geschah. Ich zeigte auf mein Ohr, und Hun Xoc nickte und machte eine »weg«-Gebärde. Ich schlug mit der rechten Hand auf seine linke Schulter, das Gegenstück zum erhobenen Daumen. Er hob seinen linken Ellbogenstumpf an seine rechte Schulter, die Geste der Ergebenheit. Noch immer nur zwei alte Kämpen.

Die innere Grabkammer war nicht geschmückt, aber die weißen Kalkwände waren mit Kohleskizzen für Reliefs bedeckt, die niemals gehauen würden. Der kleine quadratische Raum war kahl bis auf vier Haufen Magnetsteine, einer in jeder Ecke, und in der Mitte das Mahagonigerüst, das den eiförmigen Sarg mit seinen halbmeterdicken Granitwänden umgab. Der armlängendicke Deckel hing an Hanfseilen gut eine halbe Seillänge über mir; als Gegengewichte dienten zwei riesige bestickte Sandsäcke, die wie abgetrennte Hoden auf dem Boden lagen. Dazu kamen vier angeschwollene Flüssigkeitskörbe, die von der Decke hingen, je zwei auf beiden Seiten des Gerüsts; sie waren mit der dünnflüssigen Lösung gefüllt, die die Grundlage des Aminoplastikgels bildete. Sie bestand aus Salzen, meinem Ersatzkampferpulver und verschiedenen Betäubungsmitteln in einer Lösung aus Formaldehyd, Harnstoff und Methanol. Jeder Korb enthielt genug von dem Zeug, um den Sarkophag zum Überlaufen zu bringen. Der Rest war nur für Notfälle. Und das war es auch schon.

Okay, Schritt Zwo, dachte ich. Das ist leicht. Überstürze nichts.

Ich gab Alligator-Wurzel ein Zeichen. Er stach einen Knochendolch in die markierte Null auf den Flüssigkeitskörben. Eine entsetzlich stinkende gelbe Brühe schoss heraus, als wäre das Ding ein urinierendes Mastodon. Alligator-Wurzel ließ den Diener die Bambusrinne unter den Strom halten, damit das Zeug in den Sarkophag floss. Die Lösung fühlte sich kälter an als Wasser, wie Isopropylalkohol, und es spritzte mir zuerst ins Gesicht. Alligator-Wurzel wischte mich ab und reichte mir den Kleinen Becher. Darin waren Minz-Pulque mit ungefähr fünf Prozent Tollkirschentee und ein paar anderen Beruhigungsmitteln. Ich trank den Becher aus. Wenn ich das Zeug richtig dosiert hatte, würde ich einschlafen, ehe ich ertrank. Egal, was behauptet wird – Ersticken ist kein schöner Tod.

Alligator-Wurzel faltete den Sandsack zurecht, den ich als Kissen benutzte, damit ich den Kopf über der Flüssigkeit halten konnte.

Okay. Schritt Drei.

Ich griff nach unten und öffnete mit meinem kleinen Fingermesser meine rechte Oberschenkelvene. Der Formaldehyd brannte ein wenig in der Wunde, doch der Schmerz wurde rasch betäubt. Der Gedanke dabei war, dass beim langsamen Verbluten Teile meines Körpergewebes die Lösung aufnahmen, um verlorene Flüssigkeit zu ersetzen. Damit wurde keineswegs der Körper lebensfähig gehalten – was das anging, stand ein Totalverlust bevor –, aber auf diese Weise ließ sich ein Zustand starker Unterkühlung herbeiführen. Ich warf einen letzten Blick auf die acht Krüge mit eingesalzenen Kröten und Skorpionen und Hundeschwänzen und dem anderen Zeug, das sich dort befand, wo sonst die Wegzehrung des Dahingeschiedenen gestanden hätte. Sie machten einen guten Eindruck. Ich brachte genügend kleine Drogentierchen mit, um eine ganze Gnuherde einzuschläfern.

Vier. Ich gab Alligator-Wurzel ein Zeichen. Hun Xoc grinste matt. Es bedeutete: »Leider kann ich nicht auch helfen.« Alligator-Wurzel hob einen versiegelten Krug von der Größe einer Kaffeekanne. Ich bekundete mein Einverständnis, und er brach den Hals ab und goss nahe bei meinem Fuß den Härter in den Sarg. Der Härter war zähflüssiger als die Grundlösung und erinnerte an Ahornsirup; als er in die Flüssigkeit rann, sank er in Klumpen zu Boden und bildete Schlieren, die wie Fäden meine Beine umwanden, sich ausbreiteten und in der Lösung verteilten. Im Grunde wurde ich in eine Art Epoxidharz eingeschlossen, das Metallsalze enthielt, die meine neuronale Struktur mehr oder weniger perfekt konservieren sollten – es wäre zwar nicht möglich, das Gehirn noch mal ans Laufen zu bringen, aber es wurde so weit erhalten, dass Marena es auslesen, die veränderten Verbindungen kartieren und auf das Gehirn von Jed1 übertragen konnte, sodass er meine Erinnerungen erhielt.

Die Erinnerungen, dachte ich. Nicht das Bewusstsein. Du stirbst, Junge. Jed1 bekommt die Erinnerungen, nicht du, du wirst …

Aufhören. Aufhören.

Schritt Fünf. Alligator-Wurzel reichte mir den Großen Becher.

Er enthielt verdünnten Härter. Wenn alles funktionierte, würde er sich in mir ausbreiten und mit der Lösung reagieren, sobald sie sich über Haut und Lunge auf und in meinen Körper ausbreitete. Auf der Oberfläche hatte sich ein Häutchen gebildet. Ich stach es auf und trank den Inhalt des Bechers in zwei großen Schlucken, ganz wie ich es geübt hatte. Pfui Teufel! Das Zeug war mit honiggesüßtem Pulque verdünnt, aber es schmeckte trotzdem widerlich bitter. Grässlich! Jetzt nicht kotzen, dachte ich, bloß nicht kotzen, behalt’s drin. Nicht kotzen! ’Gator gab mir noch einen Becher Pulque und zwang ihn mir geradezu hinein, um den Glibber runterzuspülen. Ich besabberte ihm die Hand, aber er beruhigte mich und half mir, mich in den Sarg zurückzulehnen. Ich sank gegen die Sandkissen und kam ungefähr eine Armlänge unter dem Sargrand zur Ruhe. Ich würgte noch immer und versuchte, das widerliche Zeug unten zu halten. Mir war, als wüchsen in meiner Speiseröhre Bocciakugeln aus kaltem Chrom. Ich schluckte mehrmals trocken. Es war, als würden die Kugeln gefrostet. Ich wurde innerlich ganz taub; nur noch die Hülle hatte Gefühl.

Mannomann, das ist ja superbequem hier drin, dachte ich. So musste es sich im Mutterleib angefühlt haben. Die Lösung hatte das Sargbecken schneller gefüllt, als ich angenommen hätte, und floss nun schon über den Rand. Sie roch schlimmer als die Ballplätze von Xib’alb’a. Ich wünschte, mir wären nicht die Trommelfelle geplatzt; ich hätte mir lieber die Riechschleimhäute verätzt.

Ich gab wieder ein Zeichen. ’Gator beugte sich vor und stach das Messer in die beiden großen Sandsäcke aus Bärenhaut, die das Gegengewicht zum Deckel bildeten. Ich konnte die silbrigen trockenen Düsenstrahlen aus feinem Sand sehen, aber am Deckel bemerkte ich zuerst keine Bewegung. Er sitzt fest, dachte ich. Er wird irgendwann runterstürzen und zerbrechen, und das war’s dann. Dann aber wuchs der Schatten leicht und der Deckel kam herunter, sanft wie ein Augenlid. Ich blinzelte zu ihm hoch. Er war an der Unterseite konvex, damit keine Luftblase über der Flüssigkeit eingeschlossen wurde. Für immer, sagte dieser Deckel. Und das war noch zu schwach. Er strahlte diese totale ewige Unbeweglichkeit aus, stoisch, egal was geschah.

Alligator-Wurzel nahm den Sandsack unter meinem Kopf weg, und er sank zurück, trieb auf der Flüssigkeit, die die Konsistenz homogenisierter Milch angenommen hatte. Der dunkle Deckel wuchs drohend über mir an wie die Erde unter einem Fallschirmjäger beim Nachtabsprung. Nur hatte ich keinen Fallschirm. Ich rückte den wachsversiegelten Kasten auf meiner Brust zurecht und legte den linken Arm darüber. Der Kasten enthielt zwei Dinge: Kohs zusammengefaltete Spielmatte aus Federgewebe und ein Hirschlederbuch, gefüllt mit meinen ausführlichen und wahrscheinlich redundanten Anmerkungen zum Opferspiel. Auf die Anmerkungen war ich ziemlich stolz. Ich ging davon aus, dass mit ihrer Hilfe und mithilfe der Drogen jemand von rascher Auffassung wie Marena das Spiel über Nacht lernen konnte. Sie wird es schaffen, dachte ich, sie wird es spielen und die Raucher des Zufalls schlagen, und schon in ihrem ersten Spiel wird sie über den Rand hinausblicken.

Ich hielt die rechte Hand an Hun Xocs Stirn, bis der Deckel nur noch ungefähr sechs Fingerbreiten über dem Rand schwebte; dann zog ich die Hand zurück und legte sie auf die Schachtel. Wir schauten uns ein letztes Mal in die Augen. Ehe der Stein zwischen uns sank, wandte ich den Blick ab, nach links, um im letzten Licht noch einmal Koh von der Seite anzuschauen. Sie war noch immer schön und glänzte in ihrer Umhüllung aus flüssigem Wachs. Ihr Kopf trieb auf dem Gel. Eine Schande, dass wir nicht auch dein Gehirn zurückbringen können, dachte ich. Ich nahm ihre Hand. Das Schweigen wurde tiefer, aber im Kopf hörte ich sie noch immer den Abzählreim mit den Hirschteilen singen.

Entspann dich, dachte ich. Es ist sicher. Sicherer, als herumzulatschen und auf den Tod zu warten. Ich senkte mich in die ewige unterirdische Kälte. Ich fühlte mich wie eine Flasche mit einem großartigen alten Burgunder. Mein Bein war kalt, aber nicht so sehr, dass es zitterte. Und dann spürte ich es nicht mehr, als wäre es ohne großes Federlesen erfroren. Das Kolloid baute Wasserstoffbrückenbindungen zu den Wänden meiner Kapillaren auf.

Das ist gar nicht so schlecht, dachte ich. Es wäre wirklich nicht übel, wenn ich für immer hierbleiben könnte. Ganz für mich, völlig abgetrennt von meiner alten und neuen Zeit. Zivilisationen würden aufblühen, Ableger bilden und verrotten, und ich bräuchte mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen. Und schließlich, in einem Nanobruchteil dieses Universums voll Zeit, würde ich geboren. Ich wäre ein kleiner Junge, hätte Freunde und Feinde und würde Dinge unternehmen und Marena kennenlernen und hierherkommen, würde Koh begegnen und könnte sie nicht beschützen, und das Universum würde wieder in eine unvorstellbare Leere verebben, und ich läge hier behaglich in unendlicher Zeitlupe, von der Uhr befreit wie ein Dämon auf einem Lichtstrahl. Vielleicht war es okay; vielleicht war ich endlich dort, wo ich immer sein würde, und Koh und ich hatten ewige Ruhe gefunden, waren ganz unter uns und müssten nie wieder irgendwelche mistigen Dinge tun. Und die Erde drehte sich weiter.

Okay, vergiss nicht zu blinzeln, dachte ich. Da gab es diese Geschichte von dem französischen Adligen, der während der Revolution hingerichtet werden soll und der seinen Freunden sagt, sie sollen bei seiner Exekution zusehen. Er habe dafür gesorgt, dass der Henker den Kopf aus dem Korb nehmen und der Menge zeigen werde. Wenn er dann noch lebte und bei Bewusstsein wäre, werde er blinzeln; es sei nur ein Experiment. Und sein abgetrenntes Haupt blinzelte tatsächlich. Bei mir ging es natürlich nicht um das Blinzeln, sondern um die Frage, ob ich noch denken konnte, nachdem mein Herz zu schlagen aufgehört hatte, und wie lange die Denkfähigkeit anhielt. Das interessierte mich einfach. Ein letzter kleiner Glanzpunkt.

Mein Herz poche bereits mühsam, TUB-bub, TUB-bub. Ganz ruhig, du stirbst, dachte ich. Ich holte tief Luft und musste mich beherrschen, um nicht zu husten von dem Staub, den der Einsturz aufgewirbelt hatte, und dem Rauch der Minze-Moschus-Fackel, die in der sauerstoffarmen Luft flackerte.

Cortez und Pizarro und DeLanda können hier rumfuhrwerken, so viel sie wollen, dachte ich. Ich werde alles wieder aufbauen, und schöner als zuvor. Ozelot wird sich erheben, die Herren der Matte können im nächsten Zeitalter wieder Schädel knacken, der blaue …

2012 - Tag der Prophezeiung: Roman
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