DAS TOTENSCHIFF
FELIX KREUTZMANN
Schweißnass und mit blutverschmierten Händen standen sie am Rand der Steilküste. Hinter ihnen lagen zwanzig Hektar Küstenwald und unter ihnen das von der Brandung geformte Ufer der Bucht.
Die See war ruhig, die Sonne schien und selbst der missgestaltete Untote, der wie ein Insekt auf einem Marmeladenbrot am regennassen Lehm des Hanges festklebte, konnte die Idylle nicht stören.
Rike fasste das Geschöpf ins Auge. »Sogar hier?«
Thomas stopfte sich einen Müsliriegel in den Mund und antwortete entsprechend undeutlich: »So wie eben überall.«
»Und du glaubst, es ist dort besser als auf dem Festland?«, fragte Rike.
Er schnippte die zerknüllte Verpackung über die Böschung. Der Wind spielte ein wenig damit und trug den Plastikfetzen schließlich hinunter zum Strand.
»Besser ist relativ. Auf Inseln wird die Lebensmittelversorgung früher oder später zu einem Problem. Außerdem gibt es vor der deutschen Ostseeküste gar nicht so viele Inseln.«
Ein kehliger Laut unterbrach ihn. Das Ding am Hang hatte sie entdeckt und zappelte so wild, dass ganze Brocken verwesenden Fleisches im Matsch zurückblieben und dicke Maden den Hang hinunterkullerten. Thomas‘ Blick streifte die Kreatur flüchtig und wanderte über das Wasser zu der aufgebrochenen Nehrung, die Bucht und Meer voneinander trennt.
»Von hier aus wäre es am logischsten, wenn wir nach Ærø übersetzen würden. Da gab es … na ja, so um die 6000 Einwohner. Nimmt man Touristen und Besucher dazu, waren es vielleicht 6700, maximal 7000.«
»Aber das ist Dänemark! Sobald wir die deutschen Gewässer verlassen, stürzen sich Hubschrauber und NATO-Schiffe auf uns.«
»Ærø und Langeland wurden gleich zu Beginn kontaminiert. Dänemark hat die Inseln aufgegeben. Niemand hält uns auf, wenn wir dem Grenzgebiet im Nordwesten nicht zu nahe kommen.«
Rike sah wieder hinab zu dem Geschöpf. Die fortschreitende Verwesung und der graubraune Lehm machten es unmöglich, Geschlecht und Alter zu bestimmen. Es ruderte mit den Armen, während sich das, was von den Beinen übrig war, schmatzend im Lehm auf und ab bewegte.
»7000 sind eine ganze Menge«, murmelte sie.
»Ein Teil der Insulaner ist bestimmt in Panik gen Festland aufgebrochen, außerdem dürften sie einige von den Stinkern ausgeschaltet haben. Ich bin optimistisch. Ich glaube, mehr als 1000 sind es nicht mehr.«
Rike zog die Stirn kraus. »Wir wissen nicht einmal, ob es dort Gebäude gibt, in denen man sich verschanzen kann!«
»Doch, das wissen wir. Außerhalb der Ortschaften gibt es Fachwerkhäuser mit dicken Wänden. Es gibt Supermärkte und Vorratskammern und keine Chance, dass sich die Dinger vermehren. Keine Brückenverbindung, wenig Verkehr – etwas Besseres fällt mir wirklich nicht ein.«
Eine Bö fuhr ihnen durch die Kleider und zerzauste ihre Haare. Rike straffte sich und nickte kaum merklich, während ihr Blick an einem unbestimmten Punkt am Horizont haftete.
»Einige Monate könnten wir da wohl ganz gut leben«, bemerkte sie – mehr zu sich selbst als zu Thomas.
Sie errichteten am Waldsaum ihr Lager. Thomas breitete auf der Decke vor ihnen die übrig gebliebenen Ausrüstungsgegenstände und Lebensmittel aus. Neben einigen Konserven und einer mit Wasser gefüllten Plastikflasche war da nur noch ihr spärliches Waffenarsenal: Ein schwarzes Einhandmesser, das ursprünglich zu einer Camping-Ausrüstung gehört hatte, eine Machete, deren Klinge langsam stumpf zu werden drohte, und ein Golfschläger mit gummiertem Griff.
»Tja, das muss dann wohl für die kommenden Tage reichen«, murmelte er.
»Ja.« Rike war aufgestanden und blickte wieder zum Strand hinunter. »Zumindest Boote liegen da unten ja zuhauf.«
»Das stimmt zwar, aber die wenigsten werden für die Überfahrt zu gebrauchen sein. Die liegen hier schon wer weiß wie lange und gammeln vor sich hin. Sollten wir eine brauchbare Schaluppe samt Ruder finden, wäre das wirklich unser Glückstag.«
»Haben wir außer den Konserven noch irgendetwas zu essen?«, fragte Rike.
»Nein«, antwortete Thomas. »Was du hier siehst, ist wirklich alles, was noch übrig geblieben ist.«
Sie griff sich den Golfschläger. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren.«
Thomas steckte sich das Einhandmesser in die Hosentasche, verstaute die Lebensmittel und wickelte die Machete in die Decke ein. Gemeinsam stiegen sie den Hang hinab, vorbei an dem zappelnden Leichnam.
Nur eines der am Strand liegenden Boote erweckte den Eindruck, die Überfahrt überstehen zu können. Nachdem sie es vom Ufer ins flache Wasser gezogen hatten, befand Thomas es für seetüchtig. Rike taufte das hellgrüne Bötchen auf den Namen »Kronsgaard« und tat so, als würde sie feierlich eine Fregatte vom Stapel lassen. Ruder fanden sie zwar keine, doch Thomas schnitt mit seinem Einhänder die Planken eines lädierten Fischerbootes derart zurecht, dass man sie anschließend ganz gut greifen konnte.
Etwa eine Stunde später schmissen sie ihre Rucksäcke ins Boot und warfen noch einmal einen Blick auf das Schleswig-Holsteinische Festland. Die violetten Wolken über der Steilküste ließen die Szenerie wie ein Gemälde Caspar David Friedrichs erscheinen. Allein der Untote wirkte wie ein Schandfleck. Er hatte sich ihnen zugewandt und versuchte nun, hinunter zum Strand zu kriechen. Mit Abscheu bemerkte Rike, dass diese Drehung einen langen Riss an der Hüfte verursacht hatte – Unter- und Oberkörper der Kreatur lösten sich langsam voneinander.
Sie wandten sich ab und ruderten auf die offene Ostsee hinaus. Es herrschte kaum Wellengang und mit dem Westwind im Rücken ließen sie das Festland schnell hinter sich. Als die Wipfel der Hainbuchen, Eichen und Birken am Horizont verschwanden, wurde Thomas zusehends nervös. »Ich glaube, wir liegen auf Kurs, aber wenn wir jetzt zu weit nach Steuerbord oder Backbord abdriften, landen wir entweder vor dem Flensborg Fjord und werden versenkt oder wir treffen auf die Küste Langelands, was eigentlich nicht weiter schlimm wäre.«
»Eigentlich?«, fragte Rike.
»Na ja, die Anzahl hungriger Stinker dürfte dort wesentlich höher liegen.«
Stumm ruderten sie weiter.
Der Wind drehte, und da sie nun gegen die Strömung ankämpfen mussten, bewegte sich die Kronsgaard nur sehr langsam voran. Die Dunkelheit brach binnen weniger Minuten über sie herein, und als auch nach einer gefühlten Ewigkeit kein Land am Horizont erschien, wurde ihnen mulmig zumute. Dann tauchte es vor ihnen auf: Es war nicht groß, eigentlich mehr ein größerer Fischkutter, aber es wirkte in der Dunkelheit auf der ansonsten leeren Ostsee bedrohlich. Das Schiff musste auf der ihnen abgewandten Seite ein Leck haben, denn es lag mit Schlagseite ziemlich tief im Wasser. Das Deck war, soweit sie das von unten sehen konnten, leer. Rike und Thomas zogen die Ruder ins Boot und betrachteten das langsam sinkende Geisterschiff.
»Da könnten Vorräte an Bord sein«, flüsterte Rike.
»Auf keinen Fall gehen wir da rauf. In der Dunkelheit überrascht uns vielleicht die untote Crew oder der ganze Pott sinkt plötzlich mit uns auf den Grund der Ostsee. Wir rudern einfach weiter und freuen uns über den Umstand, dass die Stinker nicht schwimmen können.«
Kaum hatte er das gesagt, klatschte eine Hand auf den Rand des Bootes, und sofort machte sich ein ungeheuerlicher Gestank bemerkbar. Die Kronsgaard neigte sich zur Seite, sodass nicht viel gefehlt hätte und Thomas, der halb aufgestanden war, wäre hinausgefallen. Mit der nächsten Welle schwappte das Ding schließlich an Bord. Der hünenhafte Körper war aufgeschwemmt und die Haut nahezu durchsichtig. Rike wich schreiend bis an das Heck des Bootes zurück, während Thomas perplex an seinem Platz verharrte. Wie ein an Bord gehievter Fisch lag der Untote bäuchlings vor ihm und zappelte. Dann spürte er eine nasse Hand an seinem Fußknöchel; der Aufgeschwemmte griff nach ihm. Im letzten Moment ließ er sich nach hinten fallen und kroch zu Rike, die wie versteinert das Scheusal anstarrte. Er packte sie bei den Schultern. »Wo sind der Schläger und die Machete?«
»Vorne! Bei den Rucksäcken!«
»Scheiße!«
Hinter ihnen richtete sich die Wasserleiche mit einer ruckartigen Bewegung auf, doch ihre Beine schienen sie nicht mehr zu tragen. Als sie auf die Knie fiel, vernahmen Rike und Thomas ein unappetitliches Platschen. Das Fleisch an den Oberschenkeln der Kreatur war abgeplatzt und die Bauchdecke gerissen. Aus der Öffnung ergoss sich ein Strom von Maden zusammen mit einer dunkelgrünen, breiigen Flüssigkeit auf die Bootsplanken. Die bis zum Bersten mit Aas gefüllten Tartaros-Parasiten, Ursprung und Hauptüberträger der Seuche, wirkten größer als gewöhnlich und schimmerten in der Dunkelheit in unterschiedlichen Grüntönen. Ein Teil von ihnen hatte die Zeit im Meerwasser nicht überlebt, aber gut ein Drittel wand sich, bäumte sich auf und wackelte mit den Mundhaken.
Einen Moment lang herrschte Stille. Rike fasste sich wieder, hechtete nach vorne und ergriff eines der Paddel. Sie schlug und stieß auf die Gestalt ein, bis eine dickflüssige Masse am Schaft herablief. Thomas ging derweil in die Hocke und suchte auf dem Boden nach dem zweiten Ruder. Plötzlich fiel ihm das Messer in seiner Hosentasche ein. Mit der linken Hand griff er nach Rikes Schulter und zog sie sanft nach hinten, während er gleichzeitig mit der rechten das Messer hervorholte und die Klinge ausklappte. Er sprang nach vorne und schlug die Stahlklinge mit der größtmöglichen Wucht in den Schädel des Untoten. Der Kopf zerbarst, ein Madenteppich rutschte über das wabbelnde Doppelkinn und Schleim spritzte Thomas ins Gesicht. Unter Würgegeräuschen spuckte er mehrfach aus. Das Messer fiel polternd zu Boden.
Nachdem sie die Leiche und sämtliche Maden über Bord geworfen hatten, wusch sich Thomas das Gesicht und sank entkräftet auf die Knie. Rike schöpfte mit bloßen Händen Wasser vom Boden des Bootes und weinte leise. Sobald sie sich gefasst hatte, wandte sie sich an Thomas. »Du hast gesagt, sie können nicht schwimmen.«
»Können sie auch nicht. Wahrscheinlich trieb der aufgeblähte Körper an der Wasseroberfläche.«
»Er schwamm nicht, als wir ihn ins Wasser geworfen haben.«
»Ich weiß es doch auch nicht. Vielleicht ist das Gas raus. Wir haben ihn ja ordentlich angestochen.«
Er sammelte das Messer auf, spülte es im Meerwasser ab und steckte es wieder ein. Plötzlich drehte er sich um und suchte Rikes Blick. Dann deutete er mit dem Finger auf den Horizont.
Als Rike die Insel erkannte, weiteten sich ihre Augen. Fast hätte sie gelacht, doch dann bemerkte sie Thomas‘ versteinerte Miene. »Was ist denn? Ist das nicht die Insel?«
»Doch.«
»Das ist doch gut! Wir haben‘s geschafft!«
»Ich bin mir nicht sicher … da ist irgendwas.«
»Was? Was ist da?«
»Wir sind noch viel zu weit entfernt. Ich kann so gut wie nichts erkennen. Aber da auf dem oberen Küstenabschnitt scheint mir Bewegung zu sein.«
»Bäume? Oder vielleicht Büsche?«
Thomas antwortete nicht. Stattdessen reichte er Rike eines der Ruder. Schweigend paddelten sie der Insel entgegen, während die Morgenröte langsam den Himmel verfärbte. Dann, als sie nur noch etwa einhundert Meter von der Küste entfernt waren und das erste Tageslicht den Strand und die Dünen erhellte, hielten sie inne. Jetzt konnten sie die ruhelos umherstreifenden Gestalten mit bloßem Auge erkennen.
Rike erbleichte. »Mein Gott! Die ganze Insel ist verseucht!«
»Das sind keine Untoten«, sprach Thomas mit bebender Stimme.
»Was meinst du?«
»Schau hin! Sie tragen alle dieselbe Kleidung. Und sie wanken nicht ziellos umher. Sie patrouillieren.«
»Heißt das …?« Rikes Unterlippe zitterte.
»Ja. Wir müssen hier verschwinden! Nimm das Paddel und leg dich ins Zeug!«
Sie wendeten das Boot und stießen die Ruder mit aller Kraft und so schnell sie konnten ins Wasser. Da sie nun wieder mit der Strömung fuhren, nahm das Boot rasch Fahrt auf.
»Hörst du das?«, schrie Thomas.
Rike hatte das Rotorengeräusch schon einige Sekunden vor seinem Ausruf bemerkt. Panisch suchte sie den Himmel ab. »Wo ist er?«
»Wir müssen aus dem Boot raus!«
»Der sieht uns trotzdem!«
»Verdammt noch mal! Spring!«
»Thomas!«
»Springen und tauchen!«
Er sprang zuerst, Rike folgte ihm mit einem Hechtsprung. Sie tauchten tief hinab und versuchten gleichzeitig, sich möglichst weit vom Boot zu entfernen. Unter Wasser hörten sie, wie das Geräusch immer lauter wurde. Dann begann eine lange, dumpf knatternde Folge von Schusssalven die See aufzuwühlen. Ihre Lungen brannten und Panik stieg in ihnen auf. Kurz darauf entfernte sich das Rotorengeräusch wieder. Rike und Thomas tauchten auf.
Die Kronsgaard war versenkt. Einzelne grüne Planken schwammen auf der Wasseroberfläche und ein Hubschrauber setzte über der Insel zur Landung an.
»Und was jetzt?«, fragte Rike.
Thomas sah zur Insel hinüber. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
Er wandte sich um und blickte auf den Horizont, hinter dem irgendwo die deutsche und die dänische Küste verborgen lagen. Salz brannte in seinen Augen und er spürte, wie die Kälte seine Glieder schwer werden ließ.
Über ihnen stand die Sonne an einem wolkenlosen Himmel. Unter ihnen wartete die Finsternis.