KINDER DER NACHWELT

DANIEL HUSTER

Das kleine Mädchen hatte dringend eine Dusche nötig. Ihr blondes Haar war ungekämmt, zerzaust und schimmerte fettig im fahlen Licht der Nacht, das durch das geöffnete Fenster ins Kinderzimmer fiel. Schon seit über einer Woche hatten sie sich nicht mehr richtig waschen können, denn das Wasser, das aus den Leitungen kam, war nur noch eine rostig braune Brühe. Und diese Brühe stank entsetzlich nach Moder, Fäulnis und Tod.

Auf nackten Füßen machte sie einen Schritt in Richtung Flur. Im Arm hielt sie Luke, ihren Stoffhund, und sie drückte ihn fest an sich, als wieder dieses Klopfen durch die leeren Räume zu ihnen drang. Nur ein einziges lautes Pochen, dann ein Kratzen und es herrschte wieder Stille.

Elias schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf.

»Annabelle?«

Seine Schwester erstarrte.

»Du darfst nicht zu ihr gehen«, flüsterte er. »Du weißt doch, warum.«

Sie drehte sich zu ihm um, nickte zaghaft und presste ihr Gesicht in Lukes Rücken. Elias wusste, weshalb sie das tat. Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah.

»Sie ist krank«, sagte er. »Sie braucht Ruhe.«

Er hasste es, sie anzulügen, und wie um darauf hinzuweisen, klopfte es genau in diesem Moment wieder von innen an die Wand des Elternschlafzimmers. Gerade so, als hätte sie ihn gehört. Als hätte sie die geflüsterten Worte ihres Sohnes verstanden.

Elias schluckte und spürte, wie auch seine Kehle sich zuzuschnüren begann. Aber er unterdrückte es. Wenn Annabelle nicht weinte, durfte er es erst recht nicht tun.

»Ich wollte ihr nur einen Gutenachtkuss geben.«

Die Stimme seiner Schwester klang wegen des Stofftiers vor ihrem Mund ganz dumpf. Selbst im schwachen Mondlicht konnte er sehen, wie gerötet ihre Augen waren. Er nahm eines der Taschentücher aus der Packung neben dem Bett, stand auf und ging zu ihr. Während sie Luke vor sich auf den Boden setzte, um sich anschließend die Nase zu putzen, schloss Elias leise die Tür, zog den Schlüssel ab und legte ihn auf die obere Kante des Türrahmens. Selbst er musste sich dafür strecken. Seine sechs Jahre alte Schwester hätte wahrscheinlich eine Leiter gebraucht.

»Komm, wir gehen wieder schlafen, ja?«

Annabelle sah zu ihm auf, rieb sich die Augen und zeigte mit ausgetrecktem Arm auf das geöffnete Fenster. Sie konnte es nicht leiden, wenn es offen war. Weil dann diese Dinger reinkommen könnten; diese Leute mit den kaputten Kleidern und den blutigen Gesichtern. Natürlich war das vollkommen unmöglich, da das Zimmer im fünften Stock lag und die Feuerleiter auf der anderen Seite der Wohnung angebracht war. Aber darüber wollte Elias jetzt nicht streiten, außerdem hatte sich die Luft, die durch das Fenster hereinkam, mit stinkendem, schwarzen Rauch vermischt, der schon jetzt unangenehm im Hals kratzte. Vor drei Tagen war das Möbelhaus an der A40 in Flammen aufgegangen, und da selbst die Leute vom Militär nicht mehr kamen, um die Brände zu löschen, hatte sich das Feuer ungehindert ausgebreitet. Bis es dann durch das stundenlange Gewitter am Vortag einfach ausgegangen war. Aber vielleicht hatte es sich nur verkrochen und kam jetzt wieder hervor. Genau wie es diese Dinger immer taten.

Elias schloss das Zimmerfenster, sodass es ihm jetzt noch dunkler, aber auch ein wenig sicherer vorkam. Annabelle ging mit Luke voraus, kletterte unter die Bettdecke und rollte sich wie ein Embryo zusammen. In den dunklen Schatten wirkte sie manchmal sogar noch jünger, obwohl das eigentlich kaum möglich war. Sie sah fast wie das Baby aus, das sie einmal gewesen war, und auf das Elias so oft aufgepasst hatte. Und das würde er auch jetzt tun. Egal, wie lange das alles noch dauerte.

»Wann wird Mami wieder gesund?«

Elias war sich nicht sicher, ob die Frage ihm oder dem Stoffhund in Annabelles Arm galt. Er strich seiner Schwester über den Kopf, wickelte die Decke mit ihrer knallbunten Spongebob-Bettwäsche noch fester um sie, legte sich ebenfalls auf die Matratze und starrte an die Zimmerdecke, die übersät war mit fluoreszierenden Klebesternchen, kleinen Monden und ganzen Galaxien, die die Nacht noch ein wenig erhellten. Annabelle murmelte eine Weile vor sich hin, redete mit Luke und erklärte ihm, dass ihre Mutter den eingerissenen Stoff an seinem Rücken ganz schnell wieder zusammennähen würde, sobald es ihr wieder besser ging. Denn es würde ihr bald besser gehen. Ihre Mutter würde gesund sein und alles wäre dann wie früher.

Es dauerte noch fast eine Viertelstunde, bis sie endlich eingeschlafen war. Ihr Schlaf musste tief und angenehm sein, denn als das Klopfen wieder begann, drehte sie sich nur von einer Seite auf die andere und lächelte ihr sorgloses Kinderlächeln. Elias hingegen sah sie noch lange an und beobachtete, wie das Mondlicht seine Strahlen über ihr Gesicht wandern ließ. Schließlich fiel auch er in einen traumlosen Schlaf, und keiner der beiden wachte auf, als das eingesperrte Ding im Schlafzimmer damit begann, immer lauter nach seinen Kindern zu brüllen.

***

Das Frühstück bestand aus einer kalten Dose Maggi-Ravioli und einem halben Glas Orangensaft. Ohne Strom waren die Kochplatten nutzlos, und bei dem Versuch, sich einen eigenen kleinen Grill zu bauen, hätte Elias beinahe die Küche angezündet. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen, denn auf Dauer schmeckte alles, was sie aßen, wie aufgeweichte Pappe. Er hatte das Essen eingeteilt, aber leider waren die Vorräte schon fast aufgebraucht, sodass er heute wieder runtergehen musste, um in den anderen Wohnungen nach weiteren Konserven, Wasserflaschen, Tetrapacks und eingekochtem Obst zu suchen. Seitdem diese Dinger da draußen herumliefen, war das nicht gerade ungefährlich, und darum hatten weder er noch seine Schwester das Haus in den letzten Wochen verlassen. Selbst die Wohnungstür wurde nur geöffnet, wenn es unbedingt notwendig war. Die meiste Zeit stand eine schwere Kommode davor, die Elias nur mit Annabelles Hilfe hatte verschieben können. Sie stand nun genau vor der Tür, fest verkeilt zwischen ihr und der gegenüberliegenden Wand.

»Elias?«

Gerade sah er dabei zu, wie pikante Hackfleischsoße von seinem Löffel auf den Teller tropfte, als seine Schwester ihn am Arm berührte. Sie trug ihren gelben Lieblingspullover, auf dem vorne zwei unheimlich überschminkte Comic-Barbies auf Rollschuhen liefen. Eine von ihnen hatte einen dicken, roten Soßenfleck mitten im Gesicht.

»Bist du schon fertig?«, fragte Elias und sah auf ihren Teller. Sie hatte das Essen bisher kaum angerührt.

»Du kannst noch nicht aufstehen, Annabelle. Du musst erst …«

»Da drüben ist jemand, sieh doch mal!«

Das Küchenfenster gab die Aussicht auf das Nachbarhaus frei – ein nichtssagender, grauer Klotz. Die Fenster waren tot und leer, die Balkone von eingerissenen Markisen verdeckt. Aus irgendeinem Grund hatten sich an einem der Balkone viele Krähen und andere Aasvögel versammelt, die aufgeregt flatternd auf dem Geländer hin und her hüpften.

»Was meinst du, Annabelle?«

Dann sah er es auch. Es waren Blitze, helle Lichter, die in dem mit Glasbausteinen verkleideten Treppenhaus immer weiter hinauf zu wandern schienen. In immer kürzer werdenden Abständen erhellten einzelne Feuerstöße das Haus, und letztlich zersprangen einige der Fensterscheiben.

»Ist das ein Feuerwerk?«, fragte Annabelle.

Elias nickte und ließ die Lichter dabei nicht aus den Augen. Es war tatsächlich ein Feuerwerk, aber keines für kleine Kinder. Das letzte Mal hatte er es gesehen, als die Männer mit den Maschinengewehren das Stadtviertel abgesperrt hatten. Er hatte es gesehen, als diese Dinger über sie hergefallen waren wie über ein frisch angerichtetes Büffet.

»Schade«, sagte Annabelle, »schon wieder vorbei.«

Die Lichter waren tatsächlich verschwunden, und Elias wusste, was das bedeutete. Entweder gab es nichts mehr, auf das man schießen konnte, oder es gab niemanden mehr, der hätte schießen können. Letzteres war um einiges wahrscheinlicher.

»Willst du nicht aufessen?«, fragte er und deutete auf Annabelles Teller.

»Ich habe keinen Hunger«, antwortete sie, aber ebenso wie sie wusste auch er, dass das nicht stimmte. Sie wollte nur, dass genug übrig war, damit Elias es noch ins Schlafzimmer bringen konnte.

»Ich habe noch genug für sie, Annabelle. Bitte iss etwas! Ich will nicht, dass du auch noch krank wirst.«

Annabelle blickte ihn an, dann nahm sie ihren Löffel und schob sich etwas Hackfleischsoße in den Mund. Sie kleckerte dabei noch mehr davon auf ihren Pulli, aber Flecken waren Elias egal. Hauptsache, seine Schwester hatte etwas zu essen.

»Ich muss nachher runter und nach Vorräten suchen«, sagte er und versuchte dabei so beiläufig wie möglich zu klingen. Sie mochte es nicht, wenn er sie allein ließ und er hatte keine Lust, wieder mit ihr diskutieren zu müssen.

»Ich will mitkommen.«

Sie schmatzte zwar mehr als dass sie sprach, aber dennoch konnte Elias den Trotz in ihrer Stimme deutlich heraushören. Er seufzte, nahm seinen letzten Schluck Orangensaft und stellte das Glas etwas lauter als nötig auf der Tischplatte ab.

»Du weißt genau, dass das nicht geht, Annabelle. Hier oben ist es sicherer für dich.«

»Aber ich kann dir helfen«, entgegnete sie.

Elias versuchte zu lächeln, aber sie kannte sein Gesicht zu gut. Sie wandte den Blick von ihm ab und rührte stumm in ihrem Essen herum. Es war jedes Mal dasselbe Spiel und es hatte stets denselben Ausgang.

Nach dem Essen putzten sie die Teller und das Besteck nur mit ein paar Küchentüchern ab. Das Wasser aus den Flaschen war zu kostbar, um es beim Spülen zu vergeuden. Dann nahm Elias die Dose mit den übrigen Ravioli, griff nach dem Besenstiel in der Ecke und ging in den Flur, um seiner Mutter das Frühstück zu bringen.

***

Sie blickte ihren Sohn aus trüben Augen an. Es wirkte fast, als würde sie trauern, aber Elias wusste es besser. Dieser Blick war trügerisch. Einmal war er ihr schon zu nahe gekommen, hatte zu ihr gewollt, um ihre Hand zu halten. Sie hatte ihn, ohne sich zu rühren, bis auf wenige Zentimeter an sich herangelassen, nur um dann mit ihren zu Klauen geformten, bis auf die Knochen abgenagten Fingern nach ihm zu greifen. Sie hatte ihn an der Schulter gepackt, ihn zu sich gezerrt, den Griff fest um seinen Arm geschlossen. Nur mit einem kräftigen Schlag gegen ihre Schläfe hatte er sich wieder losreißen können. Seitdem schob er ihr das Essen nur noch mit dem Besenstiel zu; von da an war die Kette um ihren Hals noch straffer um den Bettpfosten gespannt.

Das lange, stumpfe Haar hing ihr in Strähnen ins Gesicht. An einer Stelle hatte sie sich selbst eine ganze Handvoll davon ausgerissen, doch die Wunde blutete nicht, schien ihr nicht das Geringste auszumachen. Kleine Maden krochen darin herum, fraßen sich durch das faulende Fleisch. Auch die Kleider waren zerrissen, ihre Bluse zerfetzt, sodass eine einzelne entblößte Brust zum Vorschein kam. Bleiche Haut mit grünlich blauen Adern wippte langsam auf und ab. Elias versuchte, nicht hinzusehen, doch das Bild hatte sich schon in seinem Innersten eingenistet. Wie die Maden, dachte er und verdrängte den Gedanken sofort.

»Annabelle hat dir heute etwas mehr übriggelassen«, sagte er, stellte die Ravioli-Dose auf das Laminat und schob sie mit dem Besenstiel langsam zu ihr hinüber. Das Metall kratzte scharf über den glatten Boden, dann blieb die Dose in einer Fuge hängen, kippte um und verteilte ihren Inhalt nur eine Handbreit vor dem Bettvorleger.

»Tut mir leid«, sagte er und wäre fast aufgesprungen, um das Malheur schnell wieder zu bereinigen. Dann sah er aber ihren Blick und diesen eigenartigen, erwartungsvollen Glanz, der sich nun darin bemerkbar machte. Er setzte sich zurück auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Tür, und spürte erst jetzt, wie sehr er eigentlich zitterte. Er war froh, das feste Holz an der Wirbelsäule zu spüren.

»Ich hole nachher einen Lappen und wische es auf, ja?« Auch seine Stimme zitterte jetzt. »Vielleicht finde ich noch etwas anderes für dich.«

Natürlich war ihr das alles vollkommen gleichgültig, das wusste er selbst. Sie hatte in all der Zeit nicht ein einziges Mal so etwas wie normale Nahrung zu sich genommen, nicht ein einziges Mal auch nur die Finger danach ausgestreckt. Sie wollte kein totes Fleisch, denn daraus bestand sie schließlich selbst. Für sie war nur noch das Lebende von Interesse; das Pulsierende, Zappelnde und Warme. Elias konnte sich nicht erklären, warum er ihr trotzdem jeden Tag etwas zu essen brachte. Er musste es einfach tun. Manchmal versuchte er sich einzureden, dass sie ja vielleicht doch noch etwas davon mitbekommen würde, dass sie doch keines von diesen Dingern geworden war. In solchen Augenblicken schaffte er es sogar, in ihren Augen noch etwas mehr als nur Starrsinn oder Gier zu erkennen. Vielleicht so etwas wie Wiedererkennen, ein knappes, glitzerndes Ich liebe dich, mein Sohn.

Er betrachtete die Soße auf dem Boden und die mit Rindfleisch gefüllten Teigtaschen. Er hatte die Dosen bei seinem letzten Ausflug in den zweiten Stock gefunden, und wenn er heute im ersten keine finden sollte, waren es die letzten, an die er herankam, denn um keinen Preis der Welt würde er das Erdgeschoss betreten. Nicht, nachdem er die Dinger dort unten gehört hatte.

Es war Verschwendung, das war ihm klar. Er hätte Annabelle noch eine ganze Mahlzeit daraus machen können, aber wahrscheinlich würde sie es ohnehin nicht wollen, weil ihr klar gewesen wäre, dass ihre Mutter nichts gefrühstückt hatte.

Auf dem Nachtschrank neben dem Bett stand ein einzelner, rechteckiger Bilderrahmen. Elias hatte ihn schon dutzende Male betrachtet und auch jetzt blieb sein Blick erneut daran hängen. Es war ein Bild von ihm selbst und seiner Schwester. Er trug seine roten Inline-Skates und Annabelle fuhr mit ihrem Roller hinter ihm her. Keine zwei Wochen später hatte die Nachrichtensprecherin in der Tagesschau um 20 Uhr zum ersten Mal das Wort untot laut ausgesprochen. Es war das letzte Foto, das ihre Mutter von ihnen gemacht hatte, und es war das letzte Mal, dass er Annabelle so hatte lächeln sehen. Danach hatte das Leben, das er kannte, aufgehört zu existieren.

»Lauf, Elias!«

Es war die Stimme seiner Mutter. Aber sie klang anders. Ängstlich, beinahe panisch.

»Lauf nach Hause! Los!«

Die Menschen in der Schlange starrten alle in dieselbe Richtung. Hinauf in den stahlblauen Himmel. Sie standen in langen Reihen vor der Sporthalle, denn einige der Soldaten hatten angefangen, Wolldecken und große Plastikbeutel mit Lebensmitteln und Medizin an die Leute auszugeben. Elias folgte den Blicken. Drei Düsenflugzeuge zogen weiße Kondensstreifen über die Stadt. Dann verloren sie an Höhe und kurz darauf fielen merkwürdige schwarze Punkte immer schneller in Richtung Boden. Elias verlor sie aus den Augen, und irgendwo bei den Häusern, drüben, weit hinter der Absperrung, wo die Männer mit den Gewehren im Anschlag an den aufgestellten Betonwänden standen, erhellte plötzlich eine Explosion die Fassaden der Gebäude. Flüssiges Feuer floss an ihnen hinab und brannte sie aus wie trockene Schädel. Dann konnte er sie sehen. Sie kamen aus ihren Löchern hervor. Hunderte von ihnen. Flohen vor dem Feuer. Und die Männer fingen an zu schießen.

»Elias!«

Seine Mutter gab ihm eine Ohrfeige, aber er spürte es gar nicht. Er sah sie nur verständnislos an. Erst als eines dieser Dinger über die Mauer geklettert kam, sich die Bauchdecke am Stacheldraht aufriss und trotzdem einen der Soldaten am Genick packte, erst als sich dessen Kopf in etwas unförmiges Rotes verwandelte, das anschließend auf den Asphalt fiel wie ein fauliger Kürbis, gelang es ihm, seine Beine zu bewegen.

Seine Mutter schrie ihm etwas entgegen und diesmal lief er los. Er rannte, stolperte keuchend die Straße hinauf, zwischen den Autos hindurch, die führerlos auf den Gehsteigen standen, über die Straßenbahnschienen, zwischen denen schon das erste Unkraut zu keimen begann. Nur noch den Hügel hinauf. Er rang nach Atem, hielt sich an einer Straßenlaterne fest und blickte zurück, doch seine Mutter war in der Masse der Menschen verschwunden. Die ordentlichen Reihen waren zu einem Pulk aus Leibern verkommen, zu einem Mob, der einerseits nach vorn drängte, um die Lebensmittel zu erreichen, andererseits kreischend auseinandersprengte, sobald sich eines dieser Dinger näherte. Und von denen gab es bald immer mehr. Er suchte nach ihr, hielt Ausschau, aber er konnte seine Mutter nicht finden.

»Elias?«

Er drehte sich um.

»Wo ist Mama?«

Annabelle stand vor ihm auf dem Bürgersteig. Sie trug ihren gelben Pullover, stand einfach nur vor der Haustür und blickte abwechselnd zu ihrem Bruder und die Straße runter zur Sporthalle. Er ließ die Laterne los, packte seine Schwester am Arm und zog sie mit sich ins Haus. Er wollte ihr nicht wehtun, aber wenn eines von diesen Dingern sie sah, würden sie kommen. In Scharen. Und sie würden ihr noch viel mehr wehtun.

Er rannte mit ihr die Treppe in die fünfte Etage hinauf, versperrte die Wohnungstür, konnte aber nicht abschließen. Nur für das Kinderzimmer hatte er den Schlüssel. Immer wieder blickte er dort aus dem Fenster, runter auf die Straße, während Annabelle ihren Stoffhund Luke an sich drückte.

»Sag mir jetzt, wo Mama ist!«

Ihre Stimme klang mit der Zeit immer zittriger.

»Sie kommt gleich, Annabelle«, sagte er und versuchte, seine eigenen Worte zu glauben, während die Zeit sich dehnte und es draußen langsam dunkel wurde. Er wusste nicht mehr, wie lange sie schon gewartet hatten, als er schließlich hörte, wie sich die Wohnungstür öffnete.

Da war sie. Einfach so. Stand im Treppenhaus und lächelte ihn an. In der einen Hand hielt sie die Schlüssel, in der anderen einen der weißen Plastikbeutel. Sie hatte es geschafft, hatte die Vorräte, aber irgendetwas war mit ihren Augen. Sie hielt sich am Türrahmen fest und reichte Elias den Beutel.

»Du darfst nicht …«, sagte sie erst. Ihre Stimme klang kraftlos und rau.

Da sah er den Jeansstoff an ihrer rechten Wade, der sich dunkelrot verfärbte. Kleine weiße Maden saßen darauf.

»Du darfst mich nicht reinlassen, ich …« Sie verlor den Halt und fiel fast zu Boden, doch Elias stützte sie so gut er konnte. Als sie auf dem Bett im Elternschlafzimmer lag und er ihr den Verband umlegte, wurde ihm plötzlich bewusst, was all das Blut an ihrem Bein bedeutete. Wieder lächelte sie ihn an und gab ihm einen Kuss. Einen letzten Kuss. Ihre Lippen waren kühl und schmeckten salzig.

»Ich werde schlafen, Elias«, sagte sie. »Aber ich …«

Sie weinte. Er weinte, und er hasste es zu weinen. Auch wenn seine Mutter nie etwas dagegen gesagt hatte.

»Was ist mit Annabelle?«

Er wollte sie holen. Er wollte, dass auch sie ihren letzten Gutenachtkuss bekam, doch seine Mutter konnte nicht mehr antworten. Sie war still, hatte die Augen geschlossen. Und als sie sich nach etwa einer Stunde wieder öffneten, war ihr Blick nicht mehr der, der er einmal gewesen war.

Es klopfte von hinten gegen die Schlafzimmertür und Elias schreckte auf.

»Kann ich reinkommen?«

Die Stimme klang zaghaft aber bestimmt.

»Nein, Annabelle. Du wartest draußen.«

Sein Blick hing immer noch an dem kleinen Bild, an dem Lächeln seiner Schwester. Seine Augen brannten und fühlten sich so trocken an, als hätte er stundenlang ins Leere gestarrt. Er kniff sie zusammen, um all die Bilder zu verdrängen. Die Vergangenheit konnte ihm nicht helfen. Seine Mutter konnte ihm nicht helfen. Sie war eine seelenlose Hülle und kauerte dort am Bettpfosten, kratzte unentwegt am Holz. Jetzt musste er es selbst schaffen.

***

Er schloss die Schlafzimmertür hinter sich so, dass Annabelle nicht an ihm vorbei in den Raum sehen konnte. Sie sollte ihre Mutter anders in Erinnerung behalten. Dann legte er den Schlüssel oben auf den Türrahmen, wie er es in der Nacht im Kinderzimmer getan hatte, ging zurück in die Küche und kramte den weißen Plastikbeutel hervor.

Draußen vor den Fenstern zog ein Nebel durch die Straßen, der das Nachbarhaus in einem dunstigen Licht erscheinen ließ. Das Feuer fraß sich anscheinend immer noch durch die Straßen.

Annabelle setzte sich an den Tisch, legte ihren Stoffhund Luke neben sich auf einen Stuhl und zog eine ihrer Barbiepuppen hervor, die sie jetzt kopfüber auf die Tischplatte schlug. Das machte sie immer, wenn ihr etwas nicht passte. Elias versuchte, ruhig zu bleiben, zog sich in aller Ruhe seine Turnschuhe an und steckte sich eines der Küchenmesser in den Gürtel.

»Ich dachte, wir hätten die Sache geklärt«, sagte er und setzte sich zu ihr an den Tisch.

»Ich will aber nicht alleine hier bleiben.«

»Es ist aber sicherer, Annabelle. Die Dinger kommen nicht hier rein.« Er seufzte und hoffte, dass er seiner Schwester damit die Wahrheit gesagt hatte.

»Es dauert auch nicht lange.« Er beugte sich vor, griff nach Luke und legte ihn auf ihren Schoß. Dann nahm er ihr die Barbiepuppe ab, deren Hals mittlerweile stark zur Seite abgeknickt war. »Ich verspreche es dir.«

Sie sah ihn nicht an, aber Elias spürte die Resignation, die nun von ihr ausging. Sie stand auf, verließ die Küche und verschwand kurz darauf im Kinderzimmer. Er hörte sie leise schluchzen. Gut gemacht, dachte er, nahm die Taschenlampe aus dem Küchenregal und griff nach dem leeren Plastikbeutel.

Die Kommode, die vor der Wohnungstür stand, konnte er gerade weit genug über den Boden bewegen, um durch einen engen Spalt hinaus ins Treppenhaus zu gelangen. Der Rauch von draußen war hier deutlich zu riechen. Im Erdgeschoss musste jemand die Fenster eingeschlagen haben. Elias zog den Kragen seines Pullovers über die Nase, schaltete die Taschenlampe an und ging langsam die ersten Stufen in die vierte Etage hinunter. Den Kegel der Lampe ließ er immer wieder über den Boden wandern, um nicht versehentlich zu stolpern. Auf den Stufen hatte sich eine rußige Staubschicht gebildet, in denen er nun seine Fußabdrücke hinterließ. Es waren die einzigen, wie er erleichtert bemerkte.

Mit jedem Stockwerk wurde die Luft schlechter, sodass das Kratzen in seinem Hals ihn kaum ein Husten unterdrücken ließ. Elias schluckte. Schwindel zwang ihn kurz, nach dem Treppengeländer zu greifen. Schließlich lagen die Flure des ersten Stockwerkes vor ihm wie leere, schlafende Höhlen, durch die ihm ein stinkender Atem entgegenwehte. Die meisten Bewohner hatten das Haus schon verlassen, bevor wirklich feststand, vor was sie eigentlich flohen. Bevor feststand, dass man gar nicht fliehen konnte. Der Rest von ihnen konnte überall sein, aber Elias hatte bisher keinen zu Gesicht bekommen.

Neben dem Geruch von brennendem Gummi, verkohltem Holz und glühender Asche mischte sich nun noch etwas anderes in die Luft, das weit eigentümlicher und unangenehmer roch. Unter ihm im Erdgeschoss konnte er sie hören, und wenn sie mitbekamen, dass er hier oben durch die verlassenen Flure schlich, dass doch noch jemand in diesem Haus lebte, dem warmes Blut durch die Adern floss, würden sie zu ihm kommen, selbst wenn sie sich dafür durch die Bodendielen beißen mussten. Elias achtete auf jeden seiner Schritte und zuckte zusammen, sobald seine Schuhe auch nur das leiseste Geräusch von sich gaben. Er dachte an Annabelle und daran, wie sie ohne ihn zurechtkommen sollte. Er ging noch vorsichtiger weiter.

Bereits die erste Wohnung war ein Trümmerfeld. Umgestürzte Regale, in denen sich einmal Gläser und kitschiges Goldrandgeschirr befunden hatten. Ein zerschlagener Fernseher und auf dem Wohnzimmerteppich, direkt vor einer Stehlampe, der muffig stinkende Kadaver einer ausgetrockneten Perserkatze. Offenbar der ehemalige Liebling einer liebenswerten, alten Dame.

Elias presste nun auch noch den Ärmel vor sein Gesicht, und versuchte, nicht in eine der Scherben zu treten, die überall am Boden verteilt lagen. Als unter seinen Füßen dennoch etwas knirschend zerbarst, erstarrte er und lauschte. Aus dem Erdgeschoss war nichts zu hören.

Vor dem Fenster zog sich der Rauch immer dichter zusammen und waberte wie ein todbringender Geist durch die Ruinen der verlassenen Stadt. Merkwürdige Schatten krochen an den Häusern empor und flohen vor dem Schein des Feuers, das irgendwo tief in den Trümmern schwelte.

Als er die Küche betrat, überkam ihn einerseits Ekel, andererseits auch Freude, wie er sie schon seit Wochen nicht mehr in sich vermutet hatte. Es stank entsetzlich nach Schimmel und verdorbenen Lebensmitteln. Auf den Fliesen vor dem Kühlschrank hatte sich eine milchige Pfütze gesammelt, die, überzogen von grünlichen Fäden, langsam unter die Küchenschränke kroch. Auf einem kleinen Schemel, der einsam in einer der Ecken stand, sah Elias im Licht seiner Taschenlampe jedoch noch etwas anderes. Eine ganze Kiste voll mit von Staub überzogenen, aber ungeöffneten Plastikflaschen. Direkt davor – als hätten sie auf ihn gewartet – einen großen Karton gefüllt mit verschiedensten Konserven. Bei dem Anblick wurde das Kratzen noch unerträglicher. Am liebsten hätte er sich sofort eine der Flaschen an die Lippen gesetzt, doch da blieb sein Blick an etwas hängen, das im schummrigen Licht, welches sich kaum noch durch das Küchenfenster wagte, still und unbeweglich am Esstisch saß. Eine Frau. Zumindest musste sie eine gewesen sein, denn so wie sie jetzt aussah, hatte sie sich seit mindestens einem Monat nicht mehr von der Stelle bewegt. Der Körper war in ihren schmutzigen Kleidern zusammengeschrumpft, ihr Gesicht schien wie an den Knochen des Schädels heruntergelaufen. Das graue Haar klebte verfilzt an ihrem Kopf und der Kiefer hing lose an einem einzigen, sehnigen Muskelstrang.

Elias ließ sie nicht aus den Augen, als er langsam auf die Wasserkiste zuging. Sie war nicht mehr am Leben, da gab es keinen Zweifel. Aber diese Tatsache hatte für ihn keine Bedeutung mehr. Egal, ob tot oder untot, Elias zog das Messer aus seinem Gürtel und umklammerte den Griff mit seiner Faust. Er achtete nicht darauf, dass er in die schmierige Pfütze trat, und auch nicht darauf, dass klebrige Fäden an den Sohlen seiner Turnschuhe hängenblieben. Gleich würde die Alte ihren Kopf bewegen, würde ihn anspringen und ihre Zähne in das Fleisch seiner Schulter schlagen. Sie tat doch nur so, wollte ihn in falscher Sicherheit wägen.

Sein Bein berührte die Kiste mit den Konserven, doch die Frau gab keinen Ton von sich. Langsam, eine Dose nach der anderen, begann Elias damit, die Vorräte in seine Tüte zu packen. Nudelsuppen, Erbseneintopf, Dosenfisch in Kräuter-Creme. Immer wieder sah er dabei zu ihr, aber sie rührte sich nicht.

Elias fiel auf, dass die Frau nicht nur halb verwest, sondern zudem an einigen Stellen ihres Körpers angefressen worden war. Die Wunden sahen allerdings sehr klein aus. Als hätte jemand immer wieder einzelne Stücke Fleisch aus ihren Armen, ihren Beinen und ihrem Hals gerissen.

Als seine Tüte schließlich voll war, leuchtete er der Alten genau ins Gesicht. Bei der kleinsten Regung würde er ihr das Messer bis zum Schaft zwischen die Augen treiben, würde ihr den Schädel spalten und loslaufen. Hinauf in den fünften Stock, zu seiner kleinen Schwester, die immer noch allein in ihrem Zimmer sitzen musste. Aber die Frau bewegte sich nicht einen Zentimeter. Elias konnte es kaum glauben, als er mit Vorräten bepackt wieder das Wohnzimmer betrat. Er ging rückwärts und behielt die Küchentür im Blick, aber sie kam ihm nicht hinterher. Die alte, liebenswerte Dame schien also wirklich einfach nur tot zu sein.

Unter seinen Schuhen knirschte eine Scherbe, was Elias einen Schritt zur Seite machen ließ. Dabei stieß er gegen die Stehlampe, konnte sie jedoch gerade noch auffangen, bevor sie auf den Teppichboden stürzte. Irgendetwas stimmte trotzdem nicht. Es war das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden. Aber es war niemand da. Der Raum war bis auf ihn, die demolierten Möbel, die Scherben und den zerschlagenen Fernseher vollkommen leer. Erst als er schon fast die Wohnungstür erreicht hatte, wusste er plötzlich, was hier nicht stimmte. Und in dem Moment, in dem sich die Perserkatze von hinten auf ihr Opfer stürzte, hörte er weit über sich den Schrei eines kleinen Mädchens.

***

Er rannte, stolperte und spürte scharfe Nadeln, die sich tief in seinen Rücken gruben. Als Elias mit seinem ganzen Gewicht auf die Bodendielen stürzte und die Tüte mit den Vorräten krachend in ein Schuhregal flog, hörte er unter sich jemanden brüllen. Es war egal, hatte vorerst keine Bedeutung mehr. Er musste zu Annabelle, so schnell er irgendwie konnte. Die Katze fauchte und schlug mit ihren Krallen nach ihm, während er sich unter ihr wand und versuchte, das Messer zu erreichen, das wieder in seinem Gürtel steckte. Schließlich hatte er den Holzgriff in der Hand, versetzte der Katze mit der Taschenlampe einen Hieb gegen die Schläfe und rammte die Klinge tief in ihren Leib. Das kreischende Tier flog zurück, zappelte mit den ausgemergelten Beinen und starrte ihn aus giftigen Augen an. Der Hunger hatte sie anscheinend in den Wahnsinn getrieben. Sie riss das Maul auf, zeigte scharfe Zähne und wollte gerade zum letzten Sprung ansetzen, als Elias sie schließlich mit der Klinge voraus und einem endgültigen Schlag an die gegenüberliegende Rigipswand nagelte. Dort hing sie, kreischte und wand sich von einer Seite zur anderen, sodass das scharfe Metall immer weiter durch ihr ausgetrocknetes Fleisch rutschte. Schließlich wurde sie still. Das weiße Fell war von Blut verklebt. Elias konnte nicht hinsehen.

Während er durch das Treppenhaus ins obere Stockwerk zurückeilte, bemerkte er wieder die Schatten, die draußen vor den Fenstern an den Häusern hochstiegen. Doch erst als er hinter sich stolpernde Schritte die Stufen hochjagen hörte, wusste er, was gerade passierte. Es war das Feuer, vor dem sie flohen. Sie krochen in die Keller, stürmten in die Häuser und etliche von ihnen – wie auch immer sie das schafften – kletterten draußen die Fassaden empor.

»Annabelle!«

Er rief nach seiner Schwester, immer wieder, obwohl er es völlig außer Atem kaum noch schaffte, die Stufen zu erklimmen. Der Rauch brannte ihm in der Kehle, bis er sich schließlich nur noch hustend am Geländer festhalten konnte. Hinter ihm wurden die Schritte immer lauter. Jemand knurrte und brüllte wieder. Seine Schwester kreischte und irgendwo in der Wohnung schepperte etwas, als ob große Scherben auf den Fußboden krachten.

Das war das Fenster, dachte Elias. Es konnte nur das Fenster im Kinderzimmer sein. Er erreichte die Tür, schob sich durch den engen Spalt, schaffte es aber nicht, sie wieder hinter sich ins Schloss zu drücken. Greifende Arme langten hindurch, versuchten ihn zu packen. Die Wohnung füllte sich mit Rauch und Elias warf sich so gut es ging gegen die Tür.

»Annabelle, wo bist du?«

Aber er sah sie schon. Sie stand direkt vor dem geöffneten Elternschlafzimmer. Sie hatte sich einen Stuhl aus der Küche geholt und hielt den Schlüssel immer noch in der Hand. Leblos starrte sie geradeaus, war bleich und hielt ihren Stoffhund fest im Arm. Hinter ihr schlug jemand von innen an die verschlossene Kinderzimmertür. Das Holz knarrte in den Angeln.

»Mama?«

Es war mehr ein Schluchzen als eine wirkliche Frage. Annabelle hielt den Hund in die Luft und deutete auf die aufgerissene Naht am Rücken.

»Luke ist kaputt«, sagte sie. »Machst du ihn heil?«

Elias wich den Händen aus, die wieder durch den Türspalt griffen. Nochmal warf er sich dagegen. Doch als seine Mutter aus dem Schlafzimmer trat – die Kette mit dem zerborstenen Bettpfosten immer noch um den Hals – schlug er mit der Taschenlampe ein letztes Mal auf die Hände ein. Er musste zu seiner Schwester, musste sie beschützen, doch es gelang nicht. Etwas hatte ihn gepackt, riss ihm die Lampe aus der Hand und zerrte nun an seinem Arm.

»Annabelle, weg da!«

Doch sie bewegte sich nicht von der Stelle.

»Das ist nicht mehr Mama. Sie ist tot.«

Er sah die Tränen, die ihre Wange hinunterliefen, doch dann spürte er einen solchen Schmerz, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Reißende Fingernägel bohrten sich tief in seinen Arm.

Annabelle sah ihrer Mutter in die Augen, sah den trüben Blick eines ehemals vertrauten Menschen, der sich langsam zu ihr hinunterbeugte.

»Was ist mit dir, Mama?«

»Lass sie in Ruhe!«, rief Elias und versuchte, sich loszureißen. Seine Mutter streckte dennoch die Arme nach ihrer Tochter aus, berührte den gelben Stoff ihres Pullovers mit ihren abgekauten Fingern und spitzte die fauligen Lippen. Die Tür zum Kinderzimmer krachte in ihrem Rahmen und ein langer, gespaltener Riss zog sich durch das Blatt.

»Nein«, schrie Elias und schaffte es, sich zu befreien. Aber es war bereits zu spät. In dem Moment, in dem die Lippen seiner Mutter Annabelles Stirn berührten, verlor der Raum um ihn herum jede Farbe und Kontur. Sie wollte sie töten, ihre eigene Tochter. Er sah sie schon die Zähne in das unschuldige Fleisch graben, sah Annabelle tot in seinen Armen liegen, sah sich selbst allein in einer Welt, in der er nicht mehr länger leben wollte.

»Ich hab dich auch lieb«, sagte Annabelle, als sie von ihrer Mutter ihren letzten Abschiedskuss bekam, das madige Fleisch noch immer auf der Kinderhaut. Annabelle lächelte, wie sie es seit Wochen nicht mehr getan hatte, und Elias spürte die Hitze, die ihm langsam in die Augen stieg. Er dachte an das Bild, auf dem sie Roller fuhr, und schaffte es erst, sich wieder aus seiner Starre zu befreien, als die Tür zum Kinderzimmer in der Mitte auseinanderriss und drei von diesen Wesen, umgeben von beißendem Rauch, auf ihn und seine Schwester zugestürzt kamen. Auch hinter ihm schoben sich die ersten Körper langsam durch die Wohnungstür.

»Raus hier, Annabelle«, rief Elias seiner Schwester zu. »Die Feuerleiter, los!«

Er nahm sie an der Hand, wollte sie mit sich zum Schlafzimmerfenster zerren, in Sicherheit, doch Annabelle bewegte sich nicht von der Stelle.

»Was ist mit Luke?«, fragte sie, doch ihre Mutter strich ihr nur durch das fettig blonde Haar. Und als eines dieser Dinger seine Hand nach ihrer Tochter ausstreckte, richtete sie sich auf, legte den Kopf schief und ein tiefes Knurren erfüllte den Raum. Dann schlug sie mit ihren zu Klauen geformten Händen auf den Angreifer ein. Sie packte zu und schleuderte das Ding krachend gegen die Kommode. Ein anderer sprang ihr von hinten in den Rücken.

»Nun komm schon.«

Erst die Rufe ihres Bruders holten Annabelle in die Wirklichkeit zurück. Beide liefen zum Schlafzimmerfenster und öffneten es. Der Rauch, der nun in die Wohnung drang, war so beißend, dass sich Annabelle augenblicklich ihren Stoffhund vors Gesicht hielt. Sie blickte noch einmal zu ihrer Mutter zurück, die nun inmitten all der Ungeheuer stand, und Elias rechnete fest damit, dass sie noch einmal umkehren würde. Aber das tat sie nicht, sie brauchte es nicht mehr. Als sich die Schlafzimmertür mit einem einzigen Stoß hinter ihnen schloss, sodass die beiden ihre Mutter endgültig aus den Augen verloren, sprangen sie auf das schwankende Gerüst der Feuerleiter.

»Es tut mir leid, Annabelle.«

Elias spürte wieder, wie ihm schwindelig wurde. Sein verwunderter Arm war kraftlos und schmerzte.

»Ich hätte es dir sagen müssen.«

Annabelle ging neben ihm und stützte ihren großen Bruder, während die beiden so schnell es möglich war die steilen Treppen hinunterkletterten. Sie spürten die Flammen, die ihnen aus den unteren Stockwerken entgegenschlugen. Das Erdgeschoss war ein einziger glühender Ofen, in dem jedoch immer noch einige von diesen Dingern brennend und kreischend umherirrten. Elias roch das schwelende Fleisch, als er endlich wieder den Fuß auf festen Boden setzte.

»Wohin jetzt?«, fragte er, doch seine kleine Schwester zog ihn bereits mit sich. Sie gingen um die Häuserecke, sodass sie die eingestürzten Überreste der Sporthalle unten am Hang erkennen konnten. Annabelle ging jedoch in eine andere Richtung.

»Sieh doch mal«, rief sie, und Elias folgte ihrem Blick. Das Nachbargebäude – der große, eckige Klotz – wurde wieder von diesem Feuerwerk erhellt. Es waren Schüsse, Stimmen, in jedem Fall Menschen. Als sie das Haus, in dem sie aufgewachsen waren, hinter sich den Flammen überließen, ging Annabelle mit Elias und Luke langsam auf die Lichter zu.