SCHATTEN DES TODES
LISBETH DULLER
Mike kniete im Staub. Er wiegte den kleinen Körper in seinen Armen und konnte spüren, wie das Leben langsam, aber unaufhaltsam durch seine Finger rann. Ihr Blut tränkte den vertrockneten Boden und dieser schien den roten Lebenssaft gierig aufzusaugen. Jennys ängstlicher, schmerzerfüllter Blick traf den seinen und Mike hatte das Gefühl, als würde ihm das Herz bei lebendigem Leib aus dem Körper gerissen. Er wollte für sie stark sein, wollte ihr die Angst und den Schmerz nehmen und sie beschützen. Doch er konnte es nicht. Er konnte nichts tun. Das Einzige, mit dem er dem kleinen Mädchen jetzt noch helfen konnte, war, in diesem Augenblick für sie da zu sein. Sie noch ein Stück des Weges zu begleiten, den er nun nicht mehr mit ihr weitergehen konnte.
Seit er sie vor Monaten auf einem seiner notwendigen Versorgungstrips aus den Armen ihrer untoten Mutter gerettet hatte, die gerade dabei war, ihre gierigen Zähne in das junge Fleisch zu schlagen und sie mit diesen entsetzlichen Parasiten zu infizieren, war sie sein einziger menschlicher Kontakt gewesen. Sie war das Einzige, das ihn noch daran erinnerte, dass die Welt auch einmal anders gewesen war. Voller Leben, voller Menschen. Der Alltag hatte darin bestanden, zur Arbeit zu gehen, sich mit Freunden zu treffen, Zeit mit der Familie zu verbringen. Heutzutage versuchte man nur noch zu überleben. Man versuchte, genug Nahrung zu finden, einen sicheren Unterschlupf, genug Kleidung, um in den kalten Nächten nicht zu erfrieren und man versuchte, nach Möglichkeit jeglichen Kontakt mit den wandelnden Toten zu vermeiden. Denn jedes Zusammentreffen mit einer dieser Kreaturen barg die Gefahr, selbst einer von ihnen zu werden und ihre widerlichen untoten Reihen weiter aufzufüllen.
Jenny stöhnte und riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Zärtlich strich er ihr die Haare aus ihrer kleinen, verschwitzten Stirn. Er wünschte, er hätte kaltes Wasser, um ihr heißes Gesichtchen zu kühlen. Doch weit und breit gab es nichts. Nur sie beide und den nun endgültig toten Körper dieses verwesenden Monsters, das Jenny angegriffen hatte.
So lange hatte er es geschafft, sie zu beschützen. So lange war es ihm gelungen, diesen Wesen immer einen Schritt voraus zu sein. Er war nur einen Moment lang unaufmerksam gewesen. Und Jenny würde diese Unachtsamkeit nun mit ihrem noch so jungen Leben bezahlen. Sie würde in seinen Armen sterben.
Er wusste, dass er das Unausweichliche nicht mehr verhindern konnte. Ihre Wunden waren zu tief, sie verlor viel zu viel Blut. Und auch wenn sie nicht an den Verletzungen selbst starb, so würde sie doch durch diese verfluchten Maden, die durch die Bisse bereits in ihren kleinen Körper gelangt waren, über kurz oder lang ihr Leben aushauchen und selbst zu einem dieser Monster werden. Mike konnte es nicht mehr ertragen.
Vor vielen Jahren, vor all dem Wahnsinn, in einem anderen Leben, hatte schon einmal eine kleine Unachtsamkeit seinerseits das Leben geliebter Menschen gekostet. Seine kleine Tochter war damals ungefähr in Jennys Alter gewesen. Sie waren von einem Ausflug nach Hause gefahren und Mike hatte den Lastwagen einfach nicht gesehen. Er war plötzlich da gewesen. Sie hatten noch gemeinsam gelacht und über den schönen Tag geredet und dann … Als er im Krankenhaus wieder zu sich kam, war er alleine. Seine Frau und seine Tochter hatten den Unfall nicht überlebt. Von diesem Augenblick an war sein Leben vorbei gewesen. Er hatte mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen. Aber ganz offensichtlich war seine Zeit noch nicht gekommen. Dann diese Meldung im Fernsehen, die seinem Leben, allem Leben, eine neue Wendung gegeben hatte. Von dieser verrückten Frau, die ihren Mann angegriffen und in den Hals gebissen hatte. Und als dieser sie von sich stieß, wollte sie auf die gemeinsame dreijährige Tochter losgehen. Ihr zehnjähriger Sohn stellte sich ihr in den Weg, woraufhin sie ihn zu Boden riss und anfing, ihm mit den Zähnen das Fleisch von den Knochen zu reißen. Als der geschockte Ehemann mit einem großen Küchenmesser auf sie losging, ließ sie von dem Jungen ab. Doch auch die zahlreichen Stichverletzungen, die ihr Mann ihr zufügte, konnten sie nicht endgültig stoppen. Sie riss ihm ein Stück Fleisch aus der Wange und erst, als er ihr in seiner totalen Verzweiflung und Hilflosigkeit das Messer bis zum Heft in den Kopf rammte, hatte das Grauen ein Ende. Die völlig traumatisierte Familie wurde ins Krankenhaus gebracht und die Medien stürzten sich wie besessen auf diese unfassbare Bluttat. Sie belagerten das Spital zu Hunderten. Und von da an war alles ganz schnell gegangen. Diese Wahnsinnstat war nur die erste von einer ganzen Reihe von solch irren, blutigen Übergriffen. Es breitete sich aus wie eine grauenvolle Seuche und jeder, der gebissen oder von einem Infizierten verletzt wurde, starb an den Folgen dieser Wunden.
Das Problem an der Sache war nur – sie blieben nicht tot. Nach einer Weile kamen sie zurück und als lebende Tote wollten sie nur noch eines: Fressen.
Mike wusste nicht, wie er diesen ganzen Irrsinn überhaupt so lange hatte aushalten können. Vielleicht, weil er schnell begriffen hatte, dass er die Stadt verlassen musste. Überall, wo früher viele Menschen gewesen waren, wimmelte es nun von diesen Monstern. Es waren so viele gewesen und es wurden immer mehr. Und plötzlich dachte Mike nicht mehr darüber nach, wie er sein Leben beenden konnte, sondern er wollte nur noch eines – überleben.
Schon komisch, wie das Leben manchmal so spielt. Gott hat eben seinen ganz eigenen Sinn für Humor. Mike hatte sich in die Wälder und Berge zurückgezogen. Dort waren diese Biester weit weniger häufig anzutreffen. Und vereinzelt stellten sie eine wesentlich kleinere Gefahr dar. Nur, wenn er Nachschub betreffend Nahrung oder anderer überlebenswichtiger Dinge brauchte, wagte er sich von seinem Versteck herunter in die dichter besiedelten Gebiete. Und bei einem dieser Versorgungstrips war er Jenny begegnet.
Nach dem Tod seiner Familie hatte Mike sich geschworen, nie wieder einen Menschen nah an sich heranzulassen. Die seelischen Qualen beim Verlust eines geliebten Menschen waren einfach zu viel für ihn gewesen und er wusste, dass er sie kein weiteres Mal würde ertragen können. Doch Jenny hatte sich mit ihrem unbändigem Lebenswillen, ihrer kindlichen Naivität und ihrem Wesen im Laufe der Monate, die sie nun unterwegs waren, in sein Herz gestohlen. Sie hatte sich dort eingenistet und ihn mit einer Wärme und einem Gefühl der Zuneigung erfüllt, von dem er geglaubt hatte, es für immer verloren zu haben.
Und nun? Nun würde sie in seinen Armen sterben.
Er spürte ihren Blick und sah auf sie herab. Mike wollte ihr Mut machen und ihr zeigen, dass alles gar nicht so schlimm war. Also versuchte er zu lächeln. Doch sein kläglich misslungener Versuch endete in einer grotesken Grimasse, die Jenny trotz allem ein kleines Lächeln entlockte.
Sie befreite ihre kleine Hand aus seiner Umklammerung und legte sie ihm auf die Wange. Ihre Handfläche war dreckig und heiß. Doch diese kleine Geste und ihre Berührung brachten ihn endgültig aus der Fassung. Tränen rannen über sein staubiges Gesicht und hinterließen dunkle Spuren auf seinen Wangen, ehe sie in kleinen Tropfen regengleich auf ihr blutiges T-Shirt hinabfielen.
Wieso hatte er das Monster nicht gesehen? Bis zu diesem schrecklichen Augenblick hatte er geglaubt, die Situation, soweit dies in dieser verrückten und grausamen Welt noch möglich war, unter Kontrolle zu haben. Er hatte es nicht kommen sehen. Trotz all seiner Vorsicht und seinem vorausschauenden Denken war diesmal das Schicksal schneller gewesen. Es hatte einen kleinen Moment der Schwäche, eine kleine Unachtsamkeit ausgenutzt und ohne zu zögern zugeschlagen.
»Versprich mir, dass du nicht zulässt, dass ich eines von diesen Monstern werde.« Jennys geflüsterte Worte hallten in dieser einsamen Stille in ihm nach wie ein grausames Echo. »Was?« Mike wusste sehr genau, was sie gesagt hatte und was ihre Worte für ihn bedeuteten. Aber für den Augenblick weigerte er sich einfach, daran zu denken.
Doch sie blieb hartnäckig. Stöhnend und mit schmerzverzerrtem Gesicht wand sie sich aus seinen Armen und sah ihn unverwandt an. »Versprich es mir«, sagte sie noch einmal.
Ihr flehender Blick und ihre Worte trafen Mike mitten in die Seele. Sie wusste, was sie von ihm verlangte und wie schwer ihm diese Tat fallen würde. Doch sie wusste auch, dass er sein Versprechen halten würde.
»Bitte.« Ihre zitternden Lippen formten nur dieses eine Wort.
Mike ließ den Kopf hängen und nickte leicht.
»Sag es«, beharrte sie.
»Ich verspreche es dir«, flüsterte er. »Ich werde nicht zulassen, dass du wirst wie sie. Wenigstens das kann ich noch für dich tun.« Seine Stimme brach.
Jenny ließ sich zurück in seine Arme sinken. Es hatte sie viel Kraft gekostet und er spürte, dass das Leben noch schneller ihren Körper verließ. Sie wurde immer schwächer. Es würde bald vorbei sein. Endlich würde sie keine Schmerzen mehr haben und die ständige Angst, in der sie gelebt hatte, würde für immer vorbei sein. Fast beneidete er sie ein bisschen. Sicher, zu sterben war nicht schön und Mike hatte Angst vor dem Tod, aber das hier war kein Leben mehr. Es war nur noch ein Überleben, geprägt von Angst, Schmerz, nagendem Hunger und zunehmender Hoffnungslosigkeit. War der Tod und damit ein Ende all dieser Qualen in diesen grausamen Zeiten nicht Segen oder gar Erlösung? Dies mochte durchaus zutreffen. Trotzdem hätte Mike in diesem Moment alles, wirklich alles dafür gegeben, um Jennys Leben zu retten. Er nahm ihre kleine Hand in seine und drückte sie fest an seine Brust, so als könnte er seine Lebensenergie und Wärme durch reine Willenskraft in ihren Körper übertragen. Jenny hatte die Augen geschlossen und atmete flach. Es würde nicht mehr lange dauern. »Wenn ich beim lieben Gott bin, dann werde ich ihm zeigen, was hier unten gerade passiert. Ich glaube, dass er gerade woanders hinsieht und es gar nicht weiß. Aber keine Angst. Ich werde ihm alles erzählen und ihm zeigen, wo er hinsehen muss. Du wirst schon sehen. Dann wird alles gut werden. Er macht, dass diese Monster verschwinden. Ganz bestimmt. Ich muss es ihm nur zeigen.«
»Da bin ich ganz sicher«, sagte Mike und unterbrach ihren zitternden Redefluss, indem er ihr zärtlich seinen Finger auf die trockenen Lippen legte. Ihre Worte hatten ihn zutiefst bewegt und er wusste, dass sie noch lange in seinem Kopf und seinem Herzen nachhallen würden. Sie war ein wirklich erstaunliches kleines Mädchen. Normalerweise sollte sie in ihrem Alter an Puppen, Glitzer, Prinzessinnenkleider und Ponys denken. Doch die Zeiten hatten sich geändert und dazu geführt, dass ein kleines Kind wie sie sich mit solchen Dingen beschäftigte.
Mike wusste nicht, wie lange er nun schon mit Jenny in seinen Armen im Staub kniete. Seine Beine waren längst eingeschlafen, aber es kümmerte ihn nicht. Er wiegte sie und hoffte, ihr etwas von ihrer Angst nehmen zu können und ihr Wärme und Trost zu spenden. Ihr Herzschlag wurde schwächer. Sie war so zierlich und dünn, dass er ihren Puls durch die kleine Ader an ihrem Hals erkennen konnte. Er hatte sich so sehr bemüht, genug Essen für sie beide aufzutreiben. Doch in Zeiten wie diesen war das eine wahre Herausforderung. Es gab einfach nichts mehr. Mike hatte vorher nicht gewusst, was Hungern bedeutete. Doch jetzt war dieses nagende Gefühl in seinen Eingeweiden ein ständiger Begleiter. Alles andere war unwichtig geworden. Sein Leben war auf die einfachsten Bedürfnisse reduziert worden. Es galt einzig und allein zu überleben.
Er beobachtete Jennys Körper. Er sah, wie sich ihre kleine Brust bei jedem flachen Atemzug hob und senkte. Zeit spielte keine Rolle mehr. Alles war unwichtig geworden.
Plötzlich veränderte sich etwas. Mike hatte in den letzten Monaten viele, viel zu viele Menschen sterben sehen, doch noch nie war er dem Tod so nahe gewesen. Noch nie hatte er ihn so intensiv gespürt, wie in diesem Augenblick. Er wusste, dass Jenny starb.
In dem Moment, als ihre Seele endgültig den kleinen, geschundenen Körper verließ, hatte Mike das Gefühl, einen zarten Windhauch an seiner Wange zu spüren. Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie ihre Seele, nun von all dem Leid losgelöst, langsam in den Himmel stieg. Zurück blieb nur eine große Leere und ihr Verlust verursachte einen Schmerz, der so heftig war, dass es ihm für einen Moment den Atem verschlug. Er presste den kleinen blutigen und leblosen Körper an sich und schluchzte hemmungslos. Tränen strömten ihm über das schmutzige Gesicht und er brüllte all seinen Schmerz und sein Leid in diese schreckliche Welt hinaus, in der er von nun an allein würde überleben müssen. Es war ihm egal, dass sein Geschrei weithin zu hören war und wahrscheinlich einige dieser Monster direkt zu ihm führen würde. Sollten sie ihn doch holen. Er würde es ihnen schon zeigen. Er würde unter ihnen wüten, wie Gott der Allmächtige es schon längst hätte tun müssen. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde er es nicht überleben, aber das war ihm egal. Was machte das schon. Er hatte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Er hatte alles verloren. Aber noch durfte er nicht aufgeben. Es gab noch etwas zu erledigen. Er hatte es ihr versprochen. Langsam zog er sein langes Jagdmesser aus dem Gürtel und drehte es in seinen Händen. Die Strahlen der untergehenden Sonne spiegelten sich in der polierten Schneide. Behutsam legte er Jennys leblosen Körper auf die Erde. Er küsste sie auf die Stirn, streichelte ihr übers Haar und verabschiedete sich von ihr. Dann holte er aus, schloss die Augen und rammte ihr sein Messer bis zum Knauf in den kleinen Kopf.