MENSCHENJAGD

THOMAS KARG

Michael, wie sie ihn früher genannt hatten, als Namen eine Rolle spielten, war ein Mann, der längst nicht mehr als solcher zu erkennen war, als er nach Wochen anhaltenden Schneefalls und Nahrungslosigkeit ziellos durch den Schnee stapfte. Der ihm anhaftende Gestank von Tod und Verwesung störte ihn keineswegs, genauso wenig wie die bittere Kälte auf seiner weißen, fast grauen Haut, die an ihm hing wie ein viel zu großer Pullover. Die Augäpfel waren blutrote Feuerbälle, die Pupillen auf Stecknadelköpfe zusammengeschmolzen, die ausdruckslos in den entgegenwehenden Wind stierten. Das Blut an der Axt, die er hinter sich herschleifte, war seit Tagen gefroren.

Früher hatte es hier in den Straßen Münchens nur so von Menschen gewimmelt, mit deren Blut man seine Klinge hätte tränken können - aber damals war es der Mühe nicht wert, jemanden zu töten und zu verspeisen.

Die Maden hatten alles verändert. Blut wurde zum Äquivalent für weibliche Rundungen und das Essen von Fleisch kam den tollsten Sexorgien gleich. Kannibalismus war das Normalste der Welt und der Mensch eine zum Aussterben verurteilte Rasse. Die Zombies hingegen blühten nur so vor untoter Lebensfreude, wäre da nicht der unstillbare Hunger gewesen.

Der Hunger, dem längst auch Michael verfallen war. Sein leerer Magen rief verzweifelt nach einem Happen zu essen. Das Wasser stürzte alleine beim Gedanken an rohes Fleisch aus seinem Mund wie ein Wasserfall. Wie lange würde er noch die Fußgängerzone entlangziehen müssen? Wie lange würde er noch an seinem letzten Hemd und seiner Hose knabbern müssen, um wenigstens irgendetwas im Bauch zu haben?

Er war dem Wahnsinn nahe. Genauer gesagt hatte der Wahnsinn bereits jede Zelle in ihm besetzt, genau, wie die Zombies ganz Deutschland besetzt hatten. Herrgott, dieser Hunger! Dieser verdammte, unstillbare …

Was war DAS?!

Der Mann, auf den Michaels starrer Blick traf, war das genaue Gegenteil von ihm selbst. Ein köstlich gebauter Herr mit Muskeln aus sattem Fleisch und geradezu ein Riese. Genug, um die Hungerqualen der letzten Wochen für wenigstens ein bis zwei Tage zu vergessen.

Jetzt keinen Fehler begehen!

Michael verschwand hastig hinter der Säule eines ehemaligen Geschäftes, wobei er darauf achtete, nicht auf die Scherben des zerstörten Schaufensters zu treten. Nicht wegen des Klirrens, das dabei zu vernehmen sein könnte, nicht wegen des Schmerzes, der in seine nackten Füße fahren würde, sondern einzig, um kein Blut zu vergießen, das seine Spuren im Schnee verraten könnte.

Vorsichtig warf er einen Blick über die Schulter.

Der Mann humpelte in einiger Entfernung durch den Schnee direkt auf ihn zu, aber schien ihn nicht bemerkt zu haben. Und die Axt in seiner Hand auch nicht. Wachsamkeit war das, was einem in dieser toten Welt das Leben retten konnte - vor Schmerz zusammengekniffene Augen hingegen nicht.

Mit beiden Armen hob Michael die Axt auf seine Schulter, bereit, den entscheidenden Schlag zu vollführen. Ein gewohnter Bewegungsablauf, wie bei einem Baseballspieler, der mehrfach pro Spiel den Ball ins Feld hinausdrosch. Michael wartete, bis der Werfer bereit war, und festigte den Griff um die Axt. Er leckte über seine steinharten Lippen. Sein Atem wurde unkontrolliert wie der eines jeden Raubtieres, wenn es in Erwartung seiner Beute war. Der köstliche Fleischberg hielt direkt auf ihn zu. Dann würde er ihn in die Arme schließen und nie wieder loslassen.

Das Warten war immer ein quälendes Werk der Ewigkeit. Die wenigen Sekunden, die ihn noch von dem Mann trennten, schienen schrecklicher als all die Qualen der letzten Wochen zusammen.

Noch einmal sah er sich nach dem Mann um. Er schleppte sich weiter voran, indem er das rechte Bein hinter sich herzog wie einen Fremdkörper. Das Blut blitzte unter den Stofffetzen hervor wie ein satter Rubin und wirkte näher betrachtet … frisch! Ja, selbst in diesen postapokalyptischen Zeiten konnte einem das Essen durchaus auf dem Silbertablett serviert werden.

»Sie! Helfen Sie mir! Mein Bein!«

Aber man konnte dieses Silbertablett auch fallen lassen.

In Michaels Gesicht spiegelte sich keine Regung, aber er dachte eines der wenigen Wörter, die er noch kannte: Mist!

Die Axt rutschte aus seinen Händen und krachte auf seinen Fuß. Die Knochen brachen, der Schmerz blieb angesichts der Verzweiflung aus, die in den letzten Resten seines Verstandes tobte.

»Bitte helfen Sie mir! Ich bin auf der Flucht vor den Zombies gestürzt!«

Michael blieb tatenlos hinter der Säule stehen. Was tun? Er war zu schwach, um das Element der Überraschung einfach so zu verschenken und sich auf einen offenen Kampf einzulassen. Auf ihn zurennen und ihn mit der Axt überwältigen? Lächerlich. Erstens war er langsam wie eine Schildkröte und zweitens waren seine Axthiebe so schwach, dass sie meist nur Schnittwunden statt Brüche hinterließen. Der Mann musste auf jeden Fall zu ihm kommen, nicht umgekehrt, falls er überhaupt eine Chance haben wollte.

Aber dann trat Michael hinter der Säule hervor. Er hob die Hand und winkte den Verletzten zu sich, ohne einen Schritt auf diesen zuzugehen. Die Axt war gut hinter ihm versteckt …

Daniel hievte sich zur Säule voran. Die Wochen, die er mit seiner Freundin Jenny im Schutzbunker verbracht hatte, bis sich vor drei Tagen die allerletzten Nahrungsreste zu Ende neigten, ließen ihn deutlich besser aussehen als das Skelett, auf das er zuhielt. Im ersten Moment lag der Verdacht nahe, es handle sich um einen Untoten, doch die Bewegungsabläufe des Mannes wirkten zu menschlich. Die Art, wie er ging, war die eines Zombies, ja, aber nicht die Art, wie er die Axt an seine Schulter gehoben hatte. Darin hatte etwas Berechnendes gesteckt, das einem Menschen vorbehalten war. Außerdem war Daniel nie zuvor einem Zombie begegnet, der Waffen benutzte. Vor weniger als zwei Stunden war er vor diesen untoten Mistkerlen durch den Park geflohen und hatte sich am Bein verletzt. Aber Waffen und Taktik? Abgesehen von dem erbarmungslosen Winter und der Verzweiflung der Menschen benötigten sie keine Waffen – höchstens ihre gierigen Mäuler und grabeskalten Pranken. Selbst für eine Jagdtaktik waren sie zu blöd. Sie hätten sich nie irgendwo versteckt, um aus dem Hinterhalt anzugreifen.

Aber trotzdem: Beinahe hätte das gereicht. Daniel hatte den Bunker verlassen, um nach Nahrung für sich und seine Freundin zu suchen, was ihn genau in die Fänge der Zombies getrieben hatte. Er hätte sich anstatt einer Schnittwunde auch problemlos einen Bruch zuziehen können. Hätte er die Zombies dann immer noch für blöd gehalten? Manche Dinge sind selbst für die Fantasie zu grauenvoll. Das war jetzt auch egal, denn vor ihm lauerte eine schlimmere Gefahr – ein Mensch, dessen Verzweiflung kein bisschen geringer als seine eigene sein konnte.

Nur noch wenige Schritte trennten die beiden voneinander. Der Kerl hatte die Wunde an seinem Bein nicht übersehen können, diese womöglich sogar für seine ganz große Chance gehalten.

Der Mann war eine schlechte Karikatur. Seine Augen wirkten tot und in seinem ganzen Gesicht klebte gefrorener Speichel. Er würde nicht zögern, seine Axt zu schwingen. Aber Daniel war stärker und schneller, da war er sich ebenso sicher.

Noch drei Schritte trennten sie voneinander.

Die Schauspielerei nahm ein Ende. Er hinkte nicht mehr. Schritt eins. Seine Hand griff in seine Jackentasche. Holte das Filettiermesser heraus.

Schritt zwei. Der Mann bückte sich nach der Axt. Daniel sprang auf den Mann zu.

Schritt drei. Er stach zu. Sein Gegner schrie auf. Das Messer drang zwischen den Rippen in seinen geschundenen Körper ein. Ein Schwall Blut schoss aus dem Mund des Mannes. Die Axt entglitt seinen Händen. Daniel zog das Messer heraus, ein Fluss zäher, roter Flüssigkeit folgte. Er stach es in seinen Rücken. Das Opfer krächzte auf. Dann krachte es mit der Nase auf den Boden. Daniel stach ein letztes Mal zu. Der Mann am Boden zuckte mit den Beinen, ebenfalls ein letztes Mal.

Das alles geschah in weniger als zehn Sekunden.

Daniel hob seine Beute hoch und warf sie über seine Schultern. So kraftlos er auch war, stellte das dennoch kein Problem für ihn dar. Er machte sich auf den Weg zurück zum Unterschlupf. Zurück zu Jenny. Zurück zu der letzten Person auf dieser Welt, die ihm irgendetwas bedeutete.

Mit Jenny und ihm war es so ähnlich, wie es in nahezu allen billigen Fernsehromanzen ablief. Erst nur Freunde, dann die Nacht, die alles änderte, dann der große Streit und die vollständige Funkstille. Nach Jahren traf man sich wieder und alles schien vergessen. Ehe man sich versah, übernahmen die Zombies die Erde und plötzlich erkannte man, dass der letzte Mensch, der einem geblieben war, am Ende die eine große Liebe war. So klischeehaft, dass es wehtat. So perfekt. So wahnsinnig perfekt.

Das Versteck, in dem sie hoffend und bangend auf ihn wartete, befand sich etwa dreißig Minuten von der Fußgängerzone entfernt in einem kleinen Keller, der vor Jahren eine Sportbar gewesen war. Nachdem Sport an Interesse verloren hatte und Überleben das einzig Wichtige wurde, hatte der Besitzer einen Zombieschutzbunker daraus gebastelt. Später pürierte Daniel seinen Schädel mit dessen eigenem Baseballschläger, bis nur noch ein feiner Mix aus Hirnmasse übrig blieb, und bezog das Revier mit seiner Freundin.

Daniel hatte Glück. Keine Zombies, keine Menschen, die ihn auf seinem Rückweg begegneten. Nur er, der tote Kerl, dessen Blut den Schulterbereich seiner grauen Jacke in ein tiefes Rot tauchte, und die Gewissheit, dass Jenny ihm mit einem bezaubernden Lächeln die Tür öffnen würde, sobald er ihr das Klopfzeichen gab. Er freute sich schon auf ihre Reaktion, wenn sie das Essen sah.

Jenny sah immer besonders hübsch aus, wenn sie lächelte. Die Augenbrauen schossen hoch, ihre Wangen wurden rot, sie zog die Lippen auseinander, sodass man all ihre Zähne sehen konnte, und in ihren Augen spiegelte sich das Glitzern des Meeres bei aufgehender Sonne. Wer hätte sich nicht in sie verlieben können? Selbst, dass sie jetzt nicht mehr schlank, sondern ausgemergelt war, sodass ihre Rippen durch die Haut stachen, und ihre einst gepflegten Haare nun stets ekelhaft an ihrer Stirn klebten, schmälerte seine Liebe zu ihr keineswegs. Irgendwann hätte er sie bestimmt geheiratet, hätte er nicht längst den Glauben an einen Gott verloren; außerdem gab es schließlich keine Kirchen mehr.

Daniel klopfte. Zweimal, Pause, einmal, Pause, einmal, Pause, zweimal. Warten.

Endlich öffnete sich die Tür.

»Hey Jenny! Ich habe uns etwas zu …«

»Du warst den ganzen Tag fort und bringst nur dieses Knochengestell mit?! Ich habe Hunger, Scheiße noch mal!« Mit diesen Worten rammte ihm Jennifer den abgebrochenen Flaschenhals in die Kehle.

Das Blut sprudelte aus der Wunde. Als könnte er den Lebenssaft zurück in seine Adern schieben, presste er beide Hände gegen den Hals. Er taumelte gegen die Wand. Seine Füße gaben nach und er sank nach unten, während seine aufgerissenen Augen ihn in der Gewissheit sterben ließen, dass seine Freundin für seinen Tod verantwortlich war.

Nein, dort in ihrem Gesicht war kein breites Grinsen zu entdecken, keine glitzernden Augen, nichts, das auf Jenny hingewiesen hätte, außer die unordentlichen Strähnen auf ihrer Stirn. Aus seinem aufgerissenen Mund erklang ein letztes Gurgeln. Dann verschwand der Schmerz und Daniel klappte endgültig in sich zusammen. Um ihn herum wurde alles erst rot und schließlich schwarz.

Jenny legte den blutigen Flaschenhals auf die Ablage neben der Tür, die sie daraufhin wieder verriegelte, und kniete sich zu dem Toten hinunter. Sie tastete Daniel ab, um das Messer in seiner Jackentasche zu finden. Jenny hatte nicht vor, den dürren Mann, den Daniel hergeschleppt hatte, überhaupt anzufassen; er sollte das wenige ledrige Fleisch behalten, das an seinen brüchigen Knochen hing. Er würde bereits von den Maden befallen sein, bevor sie mit ihrem Freund, der im Vergleich dazu durchaus als gut genährt bezeichnet werden konnte, fertig war. Er lieferte genug zu essen, um sie zumindest die nächsten paar Tage über die Runden zu bringen. Scheiß auf den anderen Kerl, wäre das Verlangen, ihren Hunger zu stillen, geringer gewesen, hätte sie ihn gleich vor die Tür geschmissen.

Aber erst war Daniel an der Reihe. Sie rammte ihm das Messer in die offene Kehle und zog einen sauberen Schnitt von Seite zu Seite, sodass sein Kopf nur noch mit der Wirbelsäule an seinem Körper hing. Um Knochen zu durchtrennen brauchte es ein besseres Werkzeug als das Filetiermesser. Hier war es immer noch das Beste, sie zu brechen, weshalb Jenny dagegen trat, bis sie das unmissverständliche Knacken der Halswirbel vernahm. An den Beinen schleifte sie ihn weg von der Tür. Eine im Teppich versickernde Blutspur markierte den Weg, als sie mit ihm in der hinteren Ecke des Bunkers angekommen war. Dort, wo der leere Kühlschrank stand. Natürlich war dieser defekt, aber Daniels Körper war dort bestimmt besser aufgehoben als auf dem Fußboden. Und sicher vor den Parasiten. Ohne Kopf und mit angewinkelten Beinen passte er genau hinein. Kopfüber, damit er anständig ausbluten konnte und das Fleisch so lange wie möglich haltbar sein würde. Mit einer Ladung Schnee von draußen ließe sich das bestimmt bewerkstelligen. Zumindest hatte das letztes Mal geklappt.

Der Hunger war riesig, doch irgendwie schaffte es Jenny, dem Drang zu widerstehen, sofort das Fleisch von seinen Waden und Rumpf zu trennen. Gut, nicht ganz. Wenn sie auch seinen Körper geduldig ausbluten ließ, so galten für seinen Kopf andere Regeln. Sie packte ihn am Stumpf der Wirbelsäule und schmetterte ihn gegen die Wand, bis der Schädel platzte wie eine reife Wassermelone. Das Messer erledigte den Rest, der nötig war, um an das Gehirn heranzukommen. Der Geschmack und die Konsistenz ähnelten alten, gekochten Eiern.

Das reichte bis zum nächsten Morgen, ehe sie wie eine Hyäne über den toten Körper herfiel. Menschenfleisch ist ziemlich zäh und roh wirklich kein Genuss, aber Jenny verschlang eine Portion Daniel nach der anderen. Nicht ein einziges Mal verzog sie dabei das Gesicht.