JAMES
BRITTA AHRENS
21. Juni 2020
Das dünne Flämmchen der Kerze flackert ungestüm vor meinen Füßen. Ich bin mir sicher, es würde liebend gern dem Ruf des Windes folgen und erlöschen. Ein orange-gelber Streifen Wärme auf einer dunklen Lichtung im Wald. Die Deplatzierung ist auch mir bewusst. Trotzdem richte ich mich auf und beuge den Oberkörper schützend über den Kerzenstummel. Meine Gäste kommen gleich. Das Flämmchen streichelt mit heißen Fingern meine Kinnpartie. Es scheint verstanden zu haben.
Ich drehe den Kopf Francis zu und lächele stolz. Sie freut sich für mich, ich sehe es in ihren Augen. Das war schon immer so gewesen. Wo es bei anderen vieler Worte bedurfte, reichte bei uns ein einfacher Blick, um zu verstehen, was die jeweils andere meinte. Gerne würde ich jetzt zu ihr gehen und sie fest drücken. Doch meine Schwester verträgt Körperlichkeiten nicht mehr und ich bin nicht der Typ Mensch, der sich aufdrängt. Während ich der Kerze wieder meine volle Aufmerksamkeit schenke, dringt ein Rascheln der Blätter zu mir durch. Dann ein Knacken zerbrechenden Geästs, auf das jemand getreten ist. Es beunruhigt mich nicht, denn ich bilde mir ein, den Unterschied zu kennen.
»Hey Ho«, höre ich gleich darauf eine vertraute Stimme hinter mir rufen und springe auf. Der helle Schein der Taschenlampe trifft mich unvorbereitet.
»Mach das Ding aus«, zische ich und kneife geblendet die Augen zu. Helge gehorcht. Er macht alles, was ich sage. Auch das war schon immer so gewesen. Timo ist ebenfalls mit von der Partie. Vivi fehlt.
»Die hat zu viel Schiss«, erklärt Timo, der meinen enttäuschten Blick richtig deutet.
»Gut«, sage ich. »Dann sind wir halt zu viert.«
»Vier?« Helge kassiert einen dumpfen Seitenschlag von Timo und sieht mich mitleidig an. Ich hasse diesen Gefühlstrampel! »Sagt Francis guten Abend«, fordere ich barsch und weise meinen Gästen ihre Plätze zu. Keiner möchte neben meiner Schwester sitzen. Ich ignoriere es. Die Flamme hat meine kurze Abwesenheit genutzt und sich in die Weiten der Dunkelheit verabschiedet. Elende Heuchlerin! Kurz ist mir zum Heulen zumute.
»He, wir haben doch noch die Taschenlampe«, versucht Helge mich aufzumuntern und rammt sie kurzerhand in den Waldboden. Wie ein mahnender Zeigefinger lenkt der dünne Lichtstrahl unser Augenmerk auf die dichte Wolkendecke über uns. Unheildrohend bauscht sie sich auf und zieht einzelne Wölkchen in ihre Fänge. Es war den ganzen Tag über schon drückend schwül. Luft zum Schneiden, wie Mutti oft zu sagen pflegte, kurz bevor sich ein Gewitter ankündigt.
Ich seufze laut auf. »Toller Geburtstag, echt.«
Timo zieht mich in seinen Arm. »Ey, du bist jetzt volljährig. Das muss gefeiert werden.«
»Und was genau bringt mir die Volljährigkeit?« »Entscheidungsfreiheit«, flüstert Helge gedankenverloren. Sein Blick huscht zu Francis, die teilnahmslos gegen einen Baumstamm lehnt.
»Idiot«, presse ich zwischen den Lippen hervor.
»Richtig, aufgeben ist nicht«, pflichtet Timo mir bei.
Unsere Abmachung ist klar: Probleme werden heute nicht thematisiert, angedeutet oder gemacht. Ich bin dankbar, dass wenigstens Timo sich daran zu halten scheint. Ich schenke ihm einen kurzen Blick. Er sieht heiß aus. Gut, er sah schon immer heiß aus. Die weißblonden Locken, die sein markantes Gesicht umranden und sich scheinbar spielerisch den sonnengebräunten Hals entlang kringeln, bis sie schließlich auf den breiten Schultern enden und einer muskelbepackten Männlichkeit weichen. Der Frauenschwarm unserer Abschlussklasse. Jedes Mädchen war scharf auf ihn gewesen. Ich kneife die Lippen fest zusammen und schüttele den Kopf. Nein! Ich gehöre definitiv nicht zu dieser Art von Mädchen! Sein Arm liegt immer noch um meinem Oberkörper. Es kribbelt leicht.
»Und, was ist dein sehnlichster Wunsch zum Ehrentag?« Er sieht mich grinsend an. »Wilder, abartiger Sex … mit mir?«
»Timo, ich muss dir recht geben.« Ich befreie mich gekonnt aus seiner Umklammerung und klopfe ihm überlegen lächelnd auf die Schulter. »Sex mit dir stelle ich mir durchaus abartig vor.« Helge kichert.
»Mach dir keine Illusionen, Milchbubi«, erwidere ich und nehme das Funkeln in Francis‘ Augen wahr.
Helge verzieht indes gekränkt das Gesicht. Dann entsinnt er sich jedoch eines Besseren, klaubt einige Blätter auf und schmeißt sie mir entgegen. »Hallo? Wer will denn schon Sex mit dir haben? Ich brauche eine liebevolle Frau, kein Kampfweib wie dich«, haut er mir um die Ohren.
Ich pule seelenruhig die vertrockneten Blattreste aus meinem Pferdeschwanz. »Lügner«, rufe ich und zahle es ihm mit einem Hechtsprung heim.
»Ich ergebe mich«, keucht er unter meiner Last. »Ja, ich will!«
»Dann müssen wir die Angelegenheit wohl wie Männer austragen«, mischt sich Timo ein und zieht mich von Helge weg.
»Wer den längsten Pipistrahl hat oder was?«, lache ich und habe nun beide Jungs gegen mich. Wie eine wildgewordene Horde Affen umrunden wir die Lichtquelle. Sie geben sich große Mühe, aber ich bin schneller. Francis scheint mich mit ihren Blicken anzufeuern. Ich blinzle ihr zu. Sie weiß, dass ich mir meinen Geburtstag genauso vorgestellt habe. Zusammensitzen und rumblödeln, Teenager sein; das war mein sehnlichster Wunsch. Ein Wunsch, den Helge und Timo versuchen, wahr werden zu lassen. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
»Okay gewonnen! Wo sind die Geschenke?«, japse ich schließlich und lasse mich auf den Waldboden fallen. Ich rechne nicht damit, welche zu bekommen, kann es mir aber auch nicht verkneifen, die Jungs auflaufen zu lassen. Helge überrascht mich. Er zieht eine Tafel Schokolade aus seiner Hosentasche. Wie die Geier stürzen Timo und ich uns darauf.
»Wo hast du die her?«, fragt Timo.
Helge zuckt mit den Schultern. »Ich habe mal die Spinde durchforstet.«
Ich sehe ihn anerkennend an. Auf diese banale Idee bin ich nicht gekommen. Ich beiße in die Schokolade und bin unendlich glücklich. Hätte mir vor drei Wochen jemand gesagt, dass ein Stückchen Zuckermasse mir an meinem Geburtstag absolute Hochgefühle beschert, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Ich suche erneut den Blickkontakt zu Francis. Und erkenne tiefe Leere. Sie war schon immer schlauer als ich; sie lässt sich nicht so leicht blenden, sie weiß um die ausweglosen Situation. Drei Wochen ist es her, seit wir das letzte Mal miteinander sprachen. Unbeschwert. Ausgelassen. Jetzt sind es Monologe, die ich mit ihr führe.
»Wir sollten zurückgehen«, holt Helge mich aus meinem Gedankentief. Ängstlich sieht er sich um.
Automatisch folge ich seinen Blicken und muss erkennen, dass die allgemeine Panik auch an mir nicht spurlos vorbeigezogen ist.
»Na, kommen noch Gäste?«, zwinkert Timo. Seine Anspielung entlockt uns lediglich ein Seufzen. »Ja, wir sollten heimkehren«, stimmt er schließlich zu. »Nicht, dass sie noch einen Suchtrupp losschicken …«
Ich sehe hoch und habe das Gefühl, die Wolken verdichten sich im Sekundentakt weiter.
»Nacheinander«, sage ich.
»Erst Helge, fünf Minuten später Mia und dann ich«, fügt Timo rasch hinzu. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er Helge ein Zeichen gibt. Ich kann es nicht deuten, spüre aber, dass sich das Kribbeln in meinem Bauch deutlich verstärkt hat.
Helge nickt. »Wenn ich von den Aufpassern erwischt werde, versuche ich euch zu warnen«, gibt er Antwort und verschwindet.
Timo tritt nah an mich heran. »Ich habe auch noch etwas für dich«, flüstert er mir ins Ohr.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken. »Noch mehr Schokolade?«, frage ich dümmlich.
»Warte und schließe die Augen«, befiehlt er mit sanfter Stimme, ehe er sich einige Meter entfernt.
Ich gehorche. Und hoffe ganz insgeheim, es sind Präservative … Timo ist schnell zurück. Als er mir sein Geschenk in die ausgestreckten Hände legt, schreie ich entsetzt auf. Meine Fassade bröckelt. Ich muss gar nicht erst die Augen öffnen; ich weiß, was es ist. Oder besser gesagt, wer es ist. Trotzdem komme ich nicht umhin, mein Präsent eingehend zu betrachten. Ich tue es mit derselben Hingabe, die mir eine aufgeplatzte Wunde beschert hätte. »Wie konntest du nur?«, herrsche ich ihn an. James starrt mir mit aufgerissenem Mund entgegen.
»Ich war in eurem Haus«, gesteht Timo kleinlaut und legt seine Hand auf meinen Arm. Diese, gewollt beruhigende, Geste gepaart mit schlechtem Gewissen, lässt mich innerlich brennen. Abrupt drehe ich mich weg und entziehe mich seiner Fürsorglichkeit. »Was? Warum?«, krächze ich wie unter Schmerzen.
Er weicht mir aus, tritt unsicher von einem auf das andere Bein, während er Francis fixiert.
»Nein!« Ich fasse es nicht. »Lass Francis aus dem Spiel!«, schreie ich und werfe James weit von mir. Ich sehe, wie sich Timo meiner Schwester nähert und spüre eine Feuerwalze in mir wüten.
»Es ist ihre Puppe, Mia.« Er streichelt Francis liebevoll über die Wange. Sie scheint es zu genießen. Ich habe das Gefühl, die Bodenhaftung zu verlieren. Und dann kann ich es wieder vor mir sehen …
»Seid ihr auch alle da?« Francis blickte lächelnd in die Runde, während James mit uns kommunizierte. »Oh, was sehen denn meine Äuglein?« Riesige Glasglubscher fixierten mich. »Eine Zweiflerin!« Mutti und Vati lachten.
Ich verdrehte die Augen. »Nein, lieber James«, sprach ich mit zuckersüßer Stimme, »auf gar keinen Fall würde ich denken, dass du nur eine Bauchrednerpuppe bist.«
Meine Schwester drehte sich zu James und flüsterte ihm etwas ins Ohr. James schüttelte den Kopf. »James möchte einen Kuss von dir«, sagte Francis grinsend und brachte den kleinen Kerl in arge Bedrängnis.
»Niemals habe ich das gesagt«, empörte sich dieser.
»Aber gedacht«, foppte ihn Francis.
Wir kringelten uns vor Lachen.
»Du bestehst die Aufnahmeprüfung mit links«, rief Vati und klatschte in die Hände. Fünf Minuten später änderte sich unser Leben schlagartig.
Ohrenbetäubende Schreie mischten sich plötzlich unter Francis‘ Ausführungen zu ihren Zukunftsplänen. Es läutete. Ich trat ans Fenster. Und sah abgerissene Gliedmaßen, aufgeschlitzte Körper auf blutdurchtränkten Gehwegen und eine Meute Untoter, die sich über die leblosen Körper hermachte.
»Sie sind hier!«, schrie ich entsetzt. »Sie sind hier!«
Bis zum Schluss hatten Mutti und Vati die Augen vor der Realität verschlossen. »Das ganze Szenario spielt sich in den Ballungszentren ab, ein Großstadtproblem. Die Seuche breitet sich da aus, wo man Menschenmassen antrifft. Hier sind wir sicher«, hatte Vati gemeint, als Meldungen über die ersten Zombieangriffe die Schlagzeilen bestimmten. »Also nach Lunestedt verirrt sich ganz sicher keiner. Wir sind so weit weg vom Schuss, da brauchen wir uns nicht zu fürchten.«
Francis und ich hatten den ganzen Verharmlosungen von Anfang an skeptisch gegenübergestanden.
»Von irgendwoher müssen die Zombies doch kommen«, hatte Francis gesagt.
»Ja, es muss eine Ursache geben«, hatte ich ihr zugestimmt. »Vielleicht tritt es hier auch auf.«
»Und dann ist in diesem Dorf keiner mehr sicher! In der Großstadt gibt es wenigstens Evakuierungsmaßnahmen und Notfallpläne, aber hier?«
Es läutete erneut. Vati ergriff seine Schrotflinte und wies Mutti an, uns im Keller einzuschließen. Entschlossen trat er ans Fenster und eröffnete das Feuer. Francis und Mutti quiekten auf, als eine Hand von unten emporschnellte, Vatis Hals umkrallte und seinen massigen Körper in den Vorgarten zog. Wir hörten Vati um sein Leben schreien, dann ein Knacken und schließlich lautes Schmatzen.
Mutti eilte, jeglicher Vernunft zum Trotz, ans geöffnete Fenster, um Vati zu retten. Ich packte Francis am Arm, die drauf und dran war, Mutti zu folgen. Die Schreie meiner Schwester trugen mich hinfort. Mutti agierte kopflos. Voller Heldenmut griff sie nach dem Blumentopf und brüllte wüste Beschimpfungen. Und immer wieder Francis‘ Schreie … Sekunden später blickten wir in das Gesicht von Vatis Angreifer. Eine zerfurchte Fratze mit hängenden Hautlappen, die einen grün-gräulichen Farbton aufwiesen. Die Lippen schwarz und die Augen eitrig triefend, geiferte er in unsere Richtung. Meine Fingernägel gruben sich tief in Francis‘ weiche Oberarme. Sie stöhnte auf, als die widerliche Kreatur ihre Zähne bleckte. Gelbe Stummel auf rotem Untergrund zeigten, was uns blühte.
Francis begann zu wimmern und verbarg ihr Gesicht an meiner Schulter. Meine Blicke blieben am geöffneten Mund des Untoten haften. Ich sah Vatis Blut, sah, wie es sich mit dem schleimigen Mundsekret seines Schlächters vermischte und unzähligen Maden einen Badespaß sondergleichen bescherte. Gemächlich suhlten sich die Parasiten in den vorhandenen Körperflüssigkeiten, bis die Suppe sie schließlich in einer Lache gen Fensterbank beförderte. Immer mehr Maden wuselten auf dem Eichenbrett herum und hangelten sich zum Abgrund, nur um kurz darauf den freien Fall in Richtung Wohnstubenteppich in Anspruch nehmen zu können. Als kündigte sie den bevorstehenden Kampf an, stieß Mutti einen Kriegsschrei aus und baute sich schützend vor uns auf. Das Monstrum leckte sich die runzligen Lippen und setzte sich in Bewegung. Das war der Moment, in dem Francis verstummte. Starr vor Angst sahen wir zu, wie es seine vom Verwesungsprozess gezeichneten Arme auf das Fensterbrett stemmte und zu uns in die Stube kroch. Mutti stand dem Zombie nun direkt gegenüber, holte aus und schlug ihm den Blumentopf ins Gesicht. Schwarze, zähe Masse besprenkelte die gelbe Tapete aus den Siebzigern. Er konterte flink. Ein Grunzen hallte uns in den Ohren wider, während er den Kopf unserer Mutter vom Körper riss und ihn uns entgegenschleuderte. Die blutunterlaufenen Augen weiteten sich, als das süßliche Aroma weiblichen Blutes auf ihn einströmte. Mit seinen scharfen Fingernägeln schlitzte er Muttis Kleidung auf und legte ihren üppigen Busen frei. Gierig riss er das zarte Fleisch von ihrem Körper und stopfte es sich in den parasitenbevölkerten Schlund. Es waren die Fäulnisbläschen auf seinen Händen, die nacheinander platzten und stinkenden Saft auf Muttis Körper träufeln ließen, die mich aus der Schockstarre befreiten. Mein Augenmerk lag auf jedem einzelnen dieser Tropfen, die Muttis geschändeten Leib besprenkelten und ihn in Beschlag nahmen. Sie sollten weg! Wir … Sollten … Weg! Ich riss meinen Blick von den Grausamkeiten in unserer Stube und merkte, wie das Gefühl in meinen Körper zurückkehrte. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den nächsten und zerrte die bibbernde Francis mit mir. Weg! Wir mussten weg hier!
»Wir gehen zu Ella … Wir gehen zu Ella … Wir gehen zu Ella …« Wie ein Mantra betete ich diesen einen Satz herunter. Ein Satz, der so viel mehr aussagte, als er beinhaltete. Es gab nur diese eine Chance. Ella! Würden wir dank ihr dem Tod entkommen? Meine Worte legten sich über die entsetzlichen Schreie meiner Nachbarn, ließen die Laute der Hölle nicht nah genug an mich herankommen. Während ich über den Hinterhof rannte, hielt ich die stolpernde Francis fest im Klammergriff. Sie folgte mir ohne Widerwillen, bis wir schließlich vor dem Kuhstall zum Stehen kamen. Ich konnte spüren, wie sie das Aroma herumliegenden Kuhdungs förmlich in sich aufsog, als ich das Holztor öffnete und sie in die dunkle Wärme schob. Auch ich nahm den Duft unserer Kindheit auf und speicherte ihn tief in meinem Herzen. Ella lag auf der Seite. Ruhig. Friedlich. Ich setzte Francis auf das Heubett und ließ ihre Hand auf Ellas weichen Nüstern ruhen, bevor ich das Messer aus meinem Gürtel zog und Ella den aufgeblähten Bauch aufschlitzte. Francis tat keinen Laut, als ich sie mit den austretenden Flüssigkeiten beschmierte. Ein Gemisch aus Ammoniak und Schwefelsäure kroch mir in die Nase. Es stank bestialisch. Ich würgte, als ich meine Hand erneut in Ellas Gedärme schob und mir die Masse ins Gesicht wischte. Sie war nicht umsonst gestorben, ging es mir durch den Kopf, sie würde uns den Weg in die Sicherheit ebnen. Ganz bestimmt würde sie das! Francis folgte meinen Anweisungen, ohne einen Ton von sich zu geben. Ich glaubte, ihr Verhalten ohne Einschränkung zu verstehen. Meine Art, wie ich mich auf die mögliche Katastrophe vorbereitet hatte, war ihr gehörig gegen den Strich gegangen. Sie hatte kein unschuldiges Tier opfern wollen, nun dankte sie es mir im Stillen … Ich nickte, strich Ella ein letztes Mal sanft über das Gesicht, ehe wir uns aus dem Staub machten. Die Schule war nah. Wir schlurften durch die Straßen und hielten den Blick gesenkt. Ich sah trotzdem die toten Leiber unserer Nachbarn, die von Maden besiedelt wurden und daneben die gierigen Esser am Schlachtbuffet, die ihren Hunger auf Menschenfleisch stillten. In unmittelbarer Nähe konnte ich eines der Ungeheuer dabei beobachten, wie es dem rennenden Mob hinterhereilte und einen nach dem anderen biss. Ein Sport, der ihn in einen wahren Rausch versetzte. Freunde, Nachbarn, Bekannte, alle kippten sie nacheinander um und ebneten den Weg zur freilaufenden Beute. Der Bürgermeister hatte auf der Dorfratssitzung angebracht, dass bei einem möglichen Angriff unverzüglich im alten, leerstehenden Schulgebäude Unterschlupf zu suchen sei. Und ich hoffte inständig, die Überlebenden würden seinem Vorschlag folgen. Sie taten es. Wir waren 28 Personen, die sich in den oberen Räumen verbarrikadierten. Schwere Stahlschränke und unzählige ineinander gestapelte Tische schenkten uns eine trügerische Sicherheit. Wir harrten mehrere Tage aus, ehe wir uns auf das gesamte Gebäude verteilten und die Schule schließlich in eine Festung verwandelten. Die Zombies waren augenscheinlich fort, die Angst blieb.
Francis sprach zu dieser Zeit kein einziges Wort mehr. Wir taten alles, um sie ein wenig aufzubauen, doch scheiterten kläglich. Eine Woche später entdeckte ich ihre Leiche. Sie hatte sich in der angrenzenden Schwimmhalle erhängt.
»Nein!« Ich schreie mir die ganze Trauer, die ich so erfolgreich zu unterdrücken versucht hatte, von der Seele. Es schmerzt unendlich. Mit letzter Kraft schlage ich auf Timo ein, ehe ich zu Boden sinke. Der feuchte Untergrund fängt mich sanft auf. Es gießt in Strömen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann es angefangen hat, zu regnen. Meine Beine zittern, als ich mich zu Francis schleppe. Sie sitzt im Schutze einer großen Tanne. Ich krieche zu ihr in den vom Regen geschützten Bereich und schenke ihr meine gesamte Aufmerksamkeit.
»Gib sie frei«, haucht Timo in mein Ohr.
Ihre Haut verfärbt sich langsam. Es ist dunkel, doch ich sehe es. Heute sehe ich zum ersten Mal ihre grünlich schimmernde Haut und die dunklen Augäpfel. Ich richte mich auf. Ich bin ein Kopfmensch. Ich weiß immer, was zu tun ist! Immer! »Wir sollten gehen«, sage ich mit bebender Stimme. »Das heimliche Verlassen des Gebäudes ist verboten.« Tränen vermischen sich mit den niederfallenden Regentropfen, als ich meiner Schwester einen letzten Kuss auf die Stirn hauche. »Danke, dass du an meinen Geburtstag gedacht hast.«
Timo hebt James auf und dirigiert mich in Richtung Schulhof. »Nächste Woche sind unsere Vorräte aufgebraucht«, sagt er trocken. Kein Wort über Francis.
Dankbar nicke ich ihm zu.
Ich weiß längst, wie die nächsten Schritte aussehen, dennoch höre ich mir seine Ausführungen an. »Wir werden unseren Ort verlassen und andere Überlebende suchen. Wir werden den Viechern ein für alle Mal den Garaus machen und Deutschland zurück erobern!« Es klingt so viel Zuversicht in seiner Stimme mit, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde gewillt bin, seiner Euphorie Glauben zu schenken. Keine zwei Minuten später haben wir den Geräteschuppen der Schule erreicht und schleichen uns zum Seiteneingang. Helge steht Schmiere. Ich sehe Erleichterung in seinen Augen, als er den hellen Schein der Taschenlampe entdeckt. Dann entgleisen ihm die Gesichtszüge.
»Ihm passt es nicht, dass wir zu zweit hier aufschlagen«, lacht Timo, dem der fassungslose Ausdruck ebenfalls nicht entgangen ist.
»Warum führt er so einen merkwürdigen Tanz auf?«
Ich drehe mich um. »Er tanzt nicht!«, will ich noch brüllen. Doch es ist zu spät. Pfeilschnell rast eine Untote auf uns zu und packt Timo. James knallt zu Boden. Timo starrt die Angreiferin mit weit aufgerissenen Augen an. Er schreit nicht. Auch er hat die auffälligen Tätowierungen am Unterarm erkannt. Er lächelt, als seine Mutter ihn von mir reißt. Ich packe James und werfe ihn der Untoten an den Schädel. Sie hält ihren Sohn am ausgestreckten Arm und wendet den Kopf in meine Richtung. Ich renne auf sie zu, ergreife die Puppe und halte ihr James vor das Gesicht. Sie liebte James. Und sie liebte Francis, die ihr während einer schweren Krebserkrankung immer die neuesten Showacts präsentierte. Innerlich knicke ich ein. Sie erinnert sich nicht, doch sie scheint kurz abgelenkt. Es ist ausreichend. Angespitzte Speere durchbohren sie, während mehrere Kopfschüsse sie zu Boden gehen lassen.
»Sie wird es überleben«, heult Timo und ergreift meine Hand. Ich sehe die Maden in den Einschusslöchern tanzen. Sie scheinen uns zu verhöhnen.
»Beeilt euch«, schreit einer der Aufpasser.
Ich blicke hoch. Alle sind gekommen. Timo und ich werden in das Gebäude geführt. Es ist spät geworden. Helge hat seine Gitarre hervorgeholt und singt für mich. Die strenge Elisabeth hat einen Kuchen gebacken und Karl Heinz einen Schnaps mitgebracht. James starrt mich mit seiner geöffneten Mundpartie an. Ich lächele den Schmerz weg. Denn heute ist mein 18. Geburtstag. Es ist ein besonderer Tag. Und ich weiß, es werden noch viele folgen …