VERSTOßEN
SEBASTIAN BRAß
»Walter! Walter! Durchgeknallter!«
Die Kinder hopsten zwischen den Trümmerhaufen auf und ab und deuteten mit dem Finger auf ihn. Wenn er sich umdrehte, stoben sie schreiend auseinander, doch schon im nächsten Moment kreisten sie wieder um ihn, wie ein Schwarm hungriger Aaskrähen. »Walter! Knallter! Walter! Knallter!«
»Niklas! Jaqueline! Jannik! Sofort kommt ihr zurück!« Martha stürmte mit einigen Männern den Büchel hinab. Ihre Stimme hallte durch die verlassenen Straßen. »Wie oft habe ich euch gesagt, ihr dürft nie alleine vor die Tür! Und hört endlich mit diesem Geschrei auf! Eure Stimmen locken sie an.«
Die dürre Frau bäumte sich vor den Kindern auf und schob sie energisch in Richtung Münster zurück. Sofort bildeten die Männer eine Schutztraube um die Gruppe. Einen kurzen Moment lang drehte Martha sich um und strafte Walter mit einem verächtlichen Blick, dann zog sie von dannen.
Walter sah ihnen eine Weile traurig nach, bevor auch er sich wieder seinem Ziel zuwandte. Es war schwer, in diesen Tagen an Nahrungsmittel zu gelangen. Die meisten Geschäfte waren inzwischen ausgeplündert, Nachschublieferungen gab es längst keine mehr und seit die deutschen Grenzen abgeriegelt worden waren, starb auch die Hoffnung auf Hilfspakete. Wer noch etwas ergattert hatte, verteidigte die Vorräte mit seinem Leben. Vor einer Woche noch hatte Walter den langen Fußweg auf sich genommen und sich zum Rheinparkcenter durchgekämpft. Die zertrümmerten Ladenlokale hatten ihm eine reiche Ausbeute beschert, doch momentan wagte Walter keinen so weiten Fußmarsch. Er konnte es sich nicht erlauben, sich zu weit von der Wohnung zu entfernen. Beas Zustand hatte sich heute Morgen wieder verschlechtert und sie hatten heftig gestritten. In dieser Verfassung konnte er sie nicht zu lange allein lassen. Also trottete er jetzt über Glassplitter und vorbei an dem ausgebrannten Straßenbahnwrack in Richtung Bahnhof. Mit etwas Glück fand er in einem der nahegelegenen Geschäfte und Supermärkte noch Vorräte, die andere Plünderer übersehen hatten. Ein gewagtes Unterfangen. Im Bahnhof wimmelte es von Frischinfizierten, sogar die wiedererwachten Schlurfer vom Hauptfriedhof zog es in diese Gegend. Aber gerade darum hatte er dort die besten Chancen. Die Rathausumgebung hatten die Münsterbewohner schon lange abgegrast.
Walter drückte seine Hand fester um den Gewehrgriff. Sein Blick folgte den stillen Straßenbahnschienen, stockte argwöhnisch an jedem Geschäftseingang.
Martha hatte Recht: Die elenden Blagen hatten mit ihrem Geschrei wahrscheinlich schon eine Horde Infizierter aus ihren Löchern getrieben. Er wünschte sich, Bea wäre jetzt an seiner Seite. Sie war immer die bessere Schützin gewesen, aber in ihrem derzeitigen Gemütszustand traute er ihr nicht zu, eine Waffe zu tragen. Sie könnte sich zu leicht etwas antun. Zu Hause war sie sicherer.
Walter bog links von der verlassenen Einkaufsstraße ab. Auf der parallel laufenden Adolf-Flecken-Straße würde er etwas abseits vom Hauptbahnhof an den Bahngleisen herauskommen. Vielleicht fand er in der Küche des Hotels an der Ecke etwas Essbares. Oder aber er ging direkt weiter westlich über die Kapitelstraße, immer einen Häuserblock zwischen sich und dem Bahnhof. Kein Grund, ein unnötiges Risiko einzugehen.
Seine Schritte verhallten in der Einsamkeit. Die einst so geschäftigen Straßen der Neusser Innenstadt wirkten trostlos, geradezu gespenstisch. Die letzten Überlebenden hielten sich im Münster verschanzt und von den Untoten war weit und breit nichts zu sehen. Verlassene Autos verrosteten am Fahrbahnrand, Scherben zerborstener Fenster übersäten den Bürgersteig. Auf der anderen Straßenseite gähnte der düstere Schlund des Niedertor-Parkhauses. Ein paar Schritte weiter, hinter der kleinen Kreuzung Schwannstraße, stand ein Lieferwagen vor dem Hintereingang eines Supermarktes. Die Heckklappe war aufgebrochen, einige leere Kartons lagen auf der Ladefläche verstreut. Hier war nichts mehr zu holen.
Er hatte bereits den baumbestandenen Mittelstreifen überquert, als hinter ihm ein unheilvolles Scharren ertönte. Walter wirbelte herum. Am Ende der Baumreihe löste sich eine Silhouette aus dem Schatten des Parkhauses. Füße schlurften über den Asphalt. Der Anblick war grotesk. Vermoderte Hautfetzen hingen in Streifen herab, zusammengehalten von Nervenfäden und Muskelsträngen. Darunter schimmerte weiß-grauer Knochen, auf dem es von Maden wimmelte. Ein schwarzer Krater klaffte dort, wo einmal das linke Auge gewesen war. Selbst auf diese Distanz konnte Walter die Maden darin umherkrabbeln sehen. Der rechte Augapfel hing bedenklich weit aus seiner Höhle heraus.
Walters Hände zitterten. Für einen Moment hob er den Gewehrlauf, ließ ihn wieder sinken. Bloß keine Munition vergeuden. Der Schlurfer bewegte sich zu langsam, um eine Bedrohung darzustellen. Die Frischinfizierten waren die wirklich Gefährlichen.
Walter beschleunigte seine Schritte. Je mehr Abstand er zwischen sich und den Untoten bringen konnte, desto besser. Gleich hatte er die Biegung zur Kapitelstraße erreicht.
Lautes Stöhnen in seinem Nacken. Drei Frischinfizierte stolperten aus dem Parkhauseingang ins Freie. Ihre Haut war fahl, spannte und wölbte sich dort, wo die Maden darunter umherkrochen, doch sie waren in deutlich besserer Verfassung als der vergammelnde Schlurfer. Die drei Untoten stapften ein paar Schritte in Richtung Büchel, blieben plötzlich stehen und reckten ihre Nasen in die Luft. Ihre Köpfe wirbelten herum; im nächsten Augenblick hatten sie ihn ins Visier genommen. Hunger blitzte in ihren Augen, sie bleckten ungeduldig ihre Zähne.
»Scheiße!« Walter stürzte um die nahe Häuserecke und hastete die Straße hinab, kämpfte sich an den kreuz und quer parkenden Autos vorbei. Noch ein paar Meter. Schon sah er die Verkehrsinsel auf dem Hermannsplatz zwischen den engen Häuserreihen durchschimmern. Weiter vorne bewegte sich etwas. Eine Gruppe Frischinfizierter trat hinter einem Kleinlaster hervor und starrte ihn gierig an. Walters Sohlen rutschten auf dem Asphalt, beinahe stürzte er über seine eigenen Füße, als er schlitternd zum Stehen kam. Hinter ihm hatten die drei Infizierten inzwischen die Kreuzung erreicht.
Walter wirbelte mehrmals um die eigene Achse. Von beiden Enden der Straße drängten die Untoten mit aufgerissenen Mäulern auf ihn zu. Einen Fluchtweg, er brauchte unbedingt einen Fluchtweg. Einige Schritte hinter ihm öffneten sich die Häuserfronten und formten einen Durchgang. Die Mündung der Tückingstraße. Walter sprintete zurück und hetzte die kleine Straße hinauf. In seinem Nacken hörte er seine Verfolger schon geifern. Ohne zurückzublicken stürzte er durch das Gewirr der Straßen, bog mal nach links, mal nach rechts ab. Weg, bloß weg hier.
Seine Lunge brannte, doch die Panik trieb ihn erbarmungslos an. Noch eine Straßenecke. Walter spürte, wie seine Knie nachgaben. Atemlos brach er auf dem Asphalt zusammen.
Die Straße hinter ihm war leer. Keine Horden von Infizierten, die um die Ecke stürmten. Walter erlaubte sich einen Moment Ruhe. Die Verfolgungsjagd hatte ihn ein ganzes Stück von seinem Ziel abgetrieben. Um ihn her quetschten sich die Reihenhäuser dicht an dicht. Vielleicht hatte einer der früheren Anwohner noch Vorräte gelagert. Nachdenklich fuhr sein Blick an dunklen Fensterreihen entlang. Abrupt blieb er an einem der Fenster haften. Für einen Augenblick zeichneten sich die Umrisse eines Kopfes hinter den schmutziggelben Vorhängen ab. Im nächsten Moment war der Schatten wieder verschwunden.
Walters Zehen verkrampften sich. Noch ein Untoter? Er schüttelte den Kopf. Untote, egal ob Schlurfer oder Frischinfizierte, versteckten sich nicht hinter Vorhängen. Und sie tauchten schon gar nicht ab, wenn sie entdeckt wurden. Es gab nur eine Erklärung: Jemand Lebendiges war in diesem Haus.
Hoffnungsvoll trat Walter näher an die Haustür. Der Eingang war einmal notdürftig mit Tischen und Schränken verbarrikadiert gewesen, aber jetzt offenbarte die offene Tür einen zwielichtigen Tunnel. Einzelteile der Möbelbarrikade lagen zersplittert im Hausflur herum.
Wer mochte hier drin noch leben? Es gab nicht mehr viele Einzelkämpfer. Wer bis jetzt überlebt hatte, wohnte im Münster, wo die Gemeinschaft ein gewisses Maß an Sicherheit bot. Allein auf sich gestellt war die Lebenserwartung fast null. Man musste schon verrückt sein, wenn man sich freiwillig gegen die Münstergesellschaft entschied. Oder unglücklich genug, von dort vertrieben zu werden, wie Bea und er. Nein, nicht wie er, nur wie Bea, dachte er grimmig.
Einige Türen zweigten von dem lichtlosen Flur ab. Verschlossen. Am Ende des Ganges führte eine steile Treppe aufwärts. Der Schatten war in einem der oberen Fenster erschienen. Die Treppenstufen knarrten unter Walters Füßen.
Auf halber Strecke beschrieb die Treppe eine Kurve. Vorsichtig linste er um die Ecke. In der Dunkelheit konnte er nur wenig vom obersten Treppenabsatz erkennen. Er streckte seinen Kopf noch ein wenig weiter aus der Deckung.
Peng! Ein heftiger Knall ließ Walters Kopf zurückfahren. Wenige Zentimeter von ihm entfernt klaffte ein Loch in der Wand. Putz bröckelte zu Boden.
»Noch ein Schritt und ich blas dir die Rübe weg!« Die Stimme kam Walter bekannt vor. »So, jetzt legst du die Waffe hin und trittst ganz langsam und vorsichtig vor!«
Walter wagte nicht zu widersprechen. Er legte das Gewehr nieder und schob es mit dem Fuß von sich weg. Dann trat er mit erhobenen Händen vor den Treppenabsatz. Der Strahl einer Taschenlampe traf ihn mitten ins Gesicht, brannte auf seiner Netzhaut.
»Knallter? Walter-Knallter?« Eine zweite Stimme, die ihm ebenfalls bekannt vorkam. Der spöttische Klang seines Spitznamens, den er seit seiner Abkehr von der Münstergemeinschaft trug, saß wie eine Ohrfeige. »Hey, Theo, nimm das Ding runter. Das ist doch nur Knallter. Der Junge ist harmlos.«
Der Schein der Taschenlampe ließ von ihm ab. Walter blinzelte ein paarmal. Die schemenhaften Umrisse von zwei Männern wurden sichtbar. Unsicher hob er sein Gewehr wieder auf und stolperte die letzten Stufen ins Obergeschoss. Aus der Nähe konnte er nun die Gesichter von Theo Lahn und Christoph Wilrand erkennen. Hinter den beiden hing eine Tür schief in den Angeln. Die zerborstenen Möbel und zerrissenen Polster auf dem Boden verrieten, dass auch dieser Durchgang einmal verbarrikadiert gewesen war. Aus der Anliegerwohnung dahinter drang das Schrammen von Kisten über Laminat.
»Schön, dich mal wieder zu sehen, Knallter.« Ein süffisantes Grinsen umspielte Christophs Lippen. »Hätte nicht gedacht, dass du alleine so lange durchhältst. Du wirst dir einen anderen Ort zum Plündern suchen müssen. Alles, was hier ist, nehmen wir mit ins Münster. Aber du darfst dich natürlich gerne noch mal umsehen und den anderen Hallo sagen, bevor du dich wieder vom Acker machst.«
Er führte Walter durch die geborstene Tür. Beim Anblick der Wohnung blieb Walter der Mund offen stehen. Tische, Schränke und alle anderen Möbelstücke waren nahe des Eingangs zu einer Art Schutzwall zusammengeschoben worden. Dafür stapelten sich an den Wänden Munitionskisten, Konservendosen, Einmachgläser, Wasserflaschen und andere überlebenswichtige Kostbarkeiten. Gewehre und Pistolen standen in allen Räumen bereit. Im hintersten Zimmer lag eine Matratze an der Wand, daneben stand ein einsamer Topf auf einer Reisekochplatte.
»Wir wissen nicht, wer hier gehaust hat«, erklärte Christoph. »Aber offensichtlich war er sehr gut ausgerüstet. Na ja, geholfen hat es ihm trotzdem nicht. Die Biester müssen seine Barrikaden durchbrochen haben. Wenn sie ihn nicht in Stücke gerissen haben, zieht er wahrscheinlich längst mit ihnen um die Häuser.« Er zuckte mit den Schultern. »Sein Pech ist unser Gewinn. Hey Leute, guckt mal, wer uns besuchen kommt!«
Eine Gruppe von vier Münsterbewohnern war gerade dabei, Essen und Munition in Tragetaschen und Kisten zu verpacken. Als sie von ihrer Arbeit aufblickten, erkannte Walter altbekannte Gesichter.
Es wunderte ihn nicht, dass der Trupp nur aus Männern bestand. Die Gesellschaft im Münster war schon kurz nach ihrer Entstehung in eine Art primitive Rollenverteilung verfallen. Die Männer bewachten die Zugänge, hielten die Untoten fern und beschafften Nahrung, während die Frauen die Münstermauern so gut wie nie verließen, das wenige Essen kochten und die Kinder hüteten.
Walter hatte diese Gesellschaft von Anfang an angewidert, doch nach ein paar Bierchen mit den Kerlen war er in der Lage gewesen, die Machosprüche zu überhören. Ja, ab und zu konnte er sogar mit ihnen lachen und für ein paar Minuten war er dann fast ein Teil der Gruppe gewesen. Er hätte damit leben können, als Weichei zu gelten, weil er nicht gut mit der Waffe umgehen konnte und nicht abfällig über Frauen sprach. Und wozu brauchte man jetzt noch Wissen über Autos und Fußball? Aber er wusste, dass Bea es unter den Frauen deutlich schwerer gehabt hatte. Frauen konnten mies sein, richtig mies. Männer lachten dich aus und machten dich fertig, aber Frauen waren oft viel subtiler. Bea hatte keine Kinder, sie kochte nicht und war intelligent und zur Selbstständigkeit erzogen worden. Während er mit den Männern bei einem Bier an der Münsterpforte Wache hielt, konnte er nur erahnen, was Bea unter den Frauen zu erdulden hatte. Es war kein Wunder, dass sie sich irgendwann ein Gewehr geschnappt und darauf bestanden hatte, mit den Männern auf Streife zu gehen.
»Na Walter, wie läuft‘s denn so?«
»Immer noch mit deiner Kleinen zusammen?«
Die Männer kicherten und grinsten abfällig. Walter wusste, dass sie ihn für verrückt hielten. Sie hatten ihn davon abhalten wollen, Bea zu folgen. Dabei waren sie doch Schuld an allem. Diese kaltschnäuzigen Arschlöcher mit ihren gehässigen Weibern. Es war von Anfang an ihr Plan gewesen, Bea loszuwerden, von dem Moment an, da sie mit ihnen auf Streife ging.
Walter erinnerte sich noch genau an den Tag, als die Patrouille zurückkam. Sie hatten sie einfach zurückgelassen, ohne Waffen, ohne Schutz. Noch heute sah er das hämische Grinsen der Weiber vor sich, hörte Beas Fäuste verzweifelt gegen die Münsterpforte schlagen. Sie hatten versucht, ihn aufzuhalten, wollten ihn überreden, Bea im Stich zu lassen und sich um sein eigenes Überleben zu kümmern. Doch er war nicht so kaltherzig wie sie. Diese Männer und Frauen, die nur an ihr eigenes Leben dachten, die ihre Eltern, Geschwister und Ehepartner dem Tod überlassen hatten, nur um sich selbst zu retten. Für sie war es einfach, so etwas zu sagen. Aber so jemand war Walter nicht. Oh, wie sie ihn anwiderten.
Ein Aufschrei ertönte vom Fenster. Theo hatte die Straße im Blick behalten, das Gewehr im Anschlag. »Sie kommen! Eine ganze Horde Infizierter kommt genau auf uns zu. Sie müssen etwas gerochen haben.«
Christoph fuhr zu Walter herum. Hass funkelte in seinen Augen. »Du! Du nichtsnutziger Idiot. Dir waren sie auf den Fersen, die Biester, stimmt‘s? Du bist nicht nur verrückt, du bist auch noch dämlich. Du hast sie genau zu uns geführt!« Er hob die Faust und stürzte mit schnellen Schritten auf Walter zu.
Theo fing ihn ab und packte ihn am Arm. »Hör auf, Chris, das bringt doch jetzt nichts. Lass uns lieber zusehen, dass wir von hier verschwinden.«
Christoph stierte Walter abfällig an und stürmte zurück zum Treppenhaus. »Theo und ich halten sie auf. Packt alles zusammen und dann verschwinden wir von hier.«
Die vier verbliebenen Männer rannten kopflos umher und rafften zusammen, was sie tragen konnten. Keiner würdigte Walter auch nur eines Blickes. Jetzt oder nie. So eine Chance bekam er nicht wieder. Er riss seinen Rucksack auf, griff wahllos Essenskonserven und Munition von den Wänden und stopfte sie in seine Tasche.
Schon zogen die Männer ihre wertvolle Beute die Treppe hinunter. Walter hastete ihnen nach. Draußen vor der Haustür fielen Schüsse.
Endlich stürzte Walter hinter den anderen aus dem dunklen Hauseingang. Theo hatte nicht übertrieben. Der Gestank von Verwesung erfüllte die Häuserschlucht. Ein ganzer Strom Infizierter drang aus der Richtung, aus der Walter vorhin gekommen war, sogar einige Schlurfer waren darunter. Noch hielt Christophs und Theos Dauerfeuer die Monster auf Distanz, doch der Ansturm war einfach zu groß. Immer näher kamen die Angreifer dem Hauseingang.
»Alle sind draußen. Los, nichts wie weg!«
Die vier schwerbeladenen Männer ächzten und keuchten bereits die Straße hinab. Walter versuchte, mit ihnen Schritt zu halten, doch der schwere Rucksack zog ihn mit jedem Schritt weiter nach hinten. Unsicher warf er einen Blick zurück. Theo und Christoph hatten ihr Feuer eingestellt und stürmten ihnen nach, die Horde Untoter immer dicht auf den Fersen. Gerade, als Walter seinen Blick wieder nach vorne richten wollte, sah er aus den Augenwinkeln, wie Christoph strauchelte. Der bullige Mann machte einen Ausfallschritt, doch schon hatte einer der Untoten ihn eingeholt. Eine kalkweiße Hand schloss sich um seinen Oberarm, im nächsten Moment senkte ein faulender Kadaver seine Zähne in Christophs Hals.
Walter hörte Theos Entsetzensschrei, doch er hatte genug gesehen. Mit wilder Kraft kämpfte er gegen das Gewicht auf seinem Rücken an, zog sich weiter um die nächste Straßenecke, den Blick starr nach vorn gerichtet.
Wieder rennen, wieder brannte Walters Lunge wie Feuer. Der Häuserblock lag bereits weit hinter ihnen. Im Zickzackkurs irrten sie durch die Straßen, bis sie den Rosengarten erreichten. Erst, als sie nahe am Clemens-Sels-Museum herauskamen, hielten sie erschöpft inne. Theo hatte Walter auf halber Strecke überholt, von Christoph fehlte jede Spur. Erschöpft sanken die Männer über ihren Kisten zusammen. Theo erlaubte ihnen ein paar Minuten zum Verschnaufen, dann trieb er sie wieder zur Eile an. Walter hielt sich abseits der Gruppe und Theo tat so, als gäbe es ihn gar nicht. Trotz ihrer Pause schnappte Walter immer noch nach Luft, als er den anderen in einigen Metern Entfernung am Kreishaus vorbei Richtung Innenstadt folgte. Er hatte das Gefühl, jemand hätte Stahlgewichte an seine Fersen gekettet.
Die vier Kistenträger überquerten bereits den ausgestorbenen Marktplatz, während Theo hinter seinen Gefährten zurückfiel. Er drehte sich zu Walter um und wartete geduldig, bis dieser zu ihm aufgeschlossen hatte. Sein bemüht freundlicher Blick versuchte erfolglos, die Bitterkeit in seinen Augen zu verdrängen.
»Walter. Das, was Chris da vorhin gesagt hat … Ich bin sicher, sie hätten uns auch so gefunden. Was ich damit sagen will, ist: du hast keine Schuld an dem, was ihm passiert ist.« Er klang nicht sehr überzeugt von seinen Worten. »Komm mit uns. Wo auch immer du jetzt wohnst, es ist nicht sicher. Komm zurück ins Münster. Wir passen aufeinander auf. Wir kämpfen gemeinsam.«
Walter runzelte die Stirn. Hatte er es denn immer noch nicht begriffen? Verstand dieser egoistische Idiot überhaupt nicht, dass es ihm nicht nur um sich selbst ging? Er hatte sich kein bisschen geändert. Keiner von ihnen hatte das.
»Nein, Theo. Du weißt, dass ich das nicht kann.« Seine Stimme klang hart und fest, versuchte jeden Hauch von Atemlosigkeit zu unterdrücken. Walter legte so viel Abneigung, wie er konnte in jede Silbe. »Ihr habt Bea verstoßen, also habt ihr auch mich verstoßen. Ich werde sie auf keinen Fall alleine lassen.«
Theo blickte ihn einen Moment lang mit einer Mischung aus Mitleid und Herablassung an, die Walters Magen zusammenkrampfen ließ, dann schüttelte er nur verständnislos den Kopf und folgte seinen Gefährten um die Straßenecke zum Münsterplatz.
Die Schnallen der Rucksackträger schnitten Walter schmerzhaft ins Fleisch. Zeit, nach Hause zu gehen.
Von außen wirkte die kleine Anliegerwohnung über dem zertrümmerten Ladenlokal genauso trostlos wie all die anderen Häuser in der schmalen Seitenstraße. Walter hatte sich große Mühe gegeben, ihren Unterschlupf so unauffällig wie möglich zu gestalten. Erst am Ende des Eingangsflures merkte man, dass dieses Haus nicht so verlassen war, wie es den Anschein hatte. Angespitzte Holzpflöcke und scharfkantige Metallspieße ragten vor der Treppe kreuz und quer in die Luft. Dazwischen sponnen sich Lagen aus Stacheldraht. Es war keine unüberwindbare Verteidigungslinie, aber die wenigen Untoten, die sich bisher zu ihnen verirrt hatten, hatten sich alle zuverlässig selbst aufgespießt. Tödliche Bestien, ja, aber nicht sonderlich intelligent. Inzwischen bewegte Walter sich sicher durch seine Konstruktion, kletterte die Stufen hinauf, ohne sich Arme und Beine zu zerschrammen. Er war immer noch stolz auf sein Werk, gebaut mit seinen handwerklich linken Händen. Bea hätte es sicherlich in der Hälfte der Zeit hingekriegt.
»Schatz, ich bin wieder zuhause!«
Am Ende der Treppe im zweiten Stock schlängelte Walter sich erneut durch einen Wald aus Pflöcken und Stacheldraht und überquerte die Schwelle zu der kleinen Wohnung. »Schatz?«
Keine Antwort. Die Wohnung lag in absoluter Stille. Ob sie noch immer wütend auf ihn war? Walter hasste es, im Streit fortzugehen, aber manchmal musste er Bea einfach etwas Zeit geben, um sich abzuregen. Er passierte den Durchgang zu der kleinen Wohnküche und ging vorsichtig weiter den Flur hinab bis zur Schlafzimmertür. Ein Schmatzen unter seinen Schuhen ließ ihn stocken. Walter blickte zu Boden und stellte fest, dass er in eine Gruppe von Maden getreten war, die sich auf dem Boden wanden. Angewidert trampelte er so lange auf ihnen herum, bis auch das letzte Ungeziefer tot war. Und das, wo er doch gestern erst den Flur geputzt hatte. Er musterte den Eingang zum Schlafzimmer. Die Tür stand offen. Walter war sich absolut sicher, sie vor seinem Aufbruch verschlossen zu haben.
»Bea, Schatz?«
Die Vorhänge waren noch immer zugezogen. Zwischen dem schweren Stoff strahlten dünne Lichtstreifen in den Raum. Das große Ehebett, das mehr als die Hälfte des Raumes ausfüllte, war leer. Kissen und Laken häuften sich zerwühlt aufeinander. Ketten und Kabelbinder hingen zerrissen und schlaff von den Bettpfosten. Walters Fuß glitt auf etwas aus; gerade noch konnte er sein Gleichgewicht halten. Er fluchte und bückte sich nach dem breiten Lederriemen auf dem Boden. Schnell zertrat er eine weitere Ansammlung von Maden, die über den Teppich krochen.
Verdammt. Und dabei hatte er so aufgepasst. Er hätte die Tür doch abschließen sollen. Nein, nach dem Zustand der Fesseln zu schließen, hätte sie das auch nicht aufgehalten. Er stürzte wieder in den Flur hinaus und sah sich einen Moment unschlüssig um. Wenn sie es aus dem Hausflur geschafft hatte, konnte sie überall sein. Aber die Barrikade hatte nicht den Anschein erweckt, als hätte sich jemand seit heute Morgen durch sie durchgekämpft. Ein Hoffnungsfunke keimte in ihm auf. Die Wohnzimmertür stand offen. Er rannte hindurch, sah die zertrümmerte Balkontür. Das Glas knirschte unter seinen Sohlen, als er hinaus an die frische Luft trat. An der Seite führte eine enge Feuertreppe in den Hinterhof. Natürlich auch abgesichert. Walter stürzte die metallenen Stufen hinab. Unter ihm blitze ein blonder Haarschopf auf. Bea fauchte und zischte. Gesicht und Arme waren zerschrammt vom Sprung durch die Glastür. Wütend versuchte sie, die nächste Treppenstufe zu erreichen, doch ein spitzer Metallpfahl bohrte sich kurz über ihrer linken Hüfte in ihren Bauch und nagelte sie fest. Maden fraßen sich aus der tiefen Wunde ins Freie und krochen über das blanke Metall. Beas T-Shirt hatte sich verschoben und offenbarte die hässliche Bisswunde auf ihrer Schulter.
Walter näherte sich langsam und vorsichtig. Bea wurde immer wütender, knurrte, schlug und schnappte um sich.
Er begann, behutsam auf sie einzureden. »Alles gut, mein Schatz. Hab keine Angst. Ich bin bei dir. Ich bringe dich wieder nach Hause.«
Er achtete darauf, immer in ihrem Rücken zu bleiben, außer Reichweite ihrer herumwirbelnden Arme und entblößten Zähne. Mit einer blitzartigen Bewegung warf er Bea den Lederriemen über den Kopf und zog zu. Das dicke Band bedeckte die komplette untere Gesichtshälfte und dämpfte ihr Fauchen. Geschickt band er die Enden in ihrem Nacken fest. Zum Glück fand er in seiner rechten Hosentasche noch ein paar Kabelbinder. Bea war kräftig, doch Walter war mittlerweile geübt darin, ihr die Arme auf den Rücken zu drehen und die Handgelenke festzubinden. »Ist gut, ist gut. Gleich wird alles wieder gut. Ich bringe das in Ordnung. Und dann gibt es ein schönes Mittagessen.«
Beas Augen funkelten ihn hasserfüllt an.
Es war ein schweres Stück Arbeit, die sich windende Bea von dem Metallpflock zu lösen und die Feuertreppe hinauf in die Wohnung zu ziehen. Walter war schweißgebadet, als er endlich die Kabelbinder aufschnitt und Bea an ihren Küchenstuhl festkettete. Aus einigen Stoffresten fabrizierte er einen Druckverband, den er liebevoll über die tiefe Bauchwunde legte. Anschließend brauchte er eine Weile, um alle Maden totzutreten, die sich inzwischen vor den Stuhlbeinen angehäuft hatten. Die Überreste wischte er schnell mit einem Putzmob beiseite. Stolz stellte er den Rucksack vor Bea auf den Tisch und offenbarte Konservendosen, Einmachgläser und Wasserflaschen. »Hier, Schatz, was sagst du nun? Habe ich dir nicht gesagt, ich werde für uns sorgen? Das hier reicht mindestens für eine Woche. Vermutlich länger, wenn du weiter so sparsam isst.«
Dumpfes Grollen drang unter dem Lederriemen hervor, während Walter seine Ausbeute gemütlich in den Vorratsschränken verstaute. »Ich weiß, du sagst immer, ich wäre zu unordentlich. Hier, ich packe die Sachen auch direkt weg. Sortiert sind sie auch. Fleisch hier drüben, Gemüse dort und die Wasserflaschen kommen hier unten in das Fach.«
Er holte zwei Teller aus dem Schrank und schaufelte den Inhalt von zwei Konservendosen darauf. »Was hältst du heute von Thunfisch und ein paar Bohnen? Ich weiß, es ist keine Sterneküche. Aber man wird doch satt davon.«
Er stellte einen Teller vor Beas Platz ab und nahm sich den Zweiten. Beas Augen glühten noch immer.
»Oh, wie dumm von mir. Ich habe doch glatt das Besteck vergessen.« Er langte in die Besteckschublade und fischte zwei Gabeln und zwei Messer heraus. »Hier, so ist es besser, nicht wahr? Aber du isst ja gar nichts. Du musst doch etwas essen. Geht es dir denn immer noch nicht besser?« Besorgt streckte er seinen Arm über den Tisch und fühlte Beas Stirn. Ihr eiskalter Kopf wirbelte unter seiner Hand wild hin und her. Erst als er die Hand wieder zurückzog, beruhigte sie sich wieder.
»Also Fieber hast du keines. Aber das heißt ja nichts. Wir können dir das Essen für heute Abend aufheben. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich ordentlich reinhaue. Der Vormittag war ganz schön anstrengend.«
Walter schob sich eine Gabel voll Thunfisch in den Mund und blickte Bea erwartungsvoll an. Als er keine Antwort erhielt, fuhr er in liebevollem Plauderton fort: »Du wirst es nicht glauben, aber die Kinder waren heute schon wieder draußen. Ich habe sie gesehen, auf dem Weg Richtung Bahnhof. Martha muss echt besser auf die Kleinen aufpassen. Das ist eine gefährliche Gegend.«
Ein paar Bohnen verschwanden in seinem Mund, gefolgt von einem Schluck Wasser. Beas Knurren hatte aufgehört, doch noch immer sprühten ihre Augen Funken.
»Ach, du errätst nie, wen ich noch beim Essenholen getroffen habe. Theo, Christoph und ihre Gesellen.« Was mit Christoph passiert war, verschwieg er ihr besser. Nur keine schlechten Nachrichten in ihrer Verfassung. »Theo hat doch allen Ernstes den Nerv gehabt, zu fragen, ob ich nicht mit ihnen kommen wollte. Zurück ins Münster, kannst du dir das vorstellen? Das kann er schön vergessen, hab ich ihm gesagt. Ich gehe doch hier nicht weg.«
Zärtlich strich er über die zuckende, kalkweiße Hand, spürte den Ehering noch immer an seinem Platz, und berührte leicht die Stelle, wo die Ketten das Handgelenk an die Armlehne fesselten.
»Ich lasse dich doch nicht alleine. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Ich werde dich nie verlassen. Niemals.«