SIE KOMMEN

TORSTEN EXTER

Es war ein ungemütlicher März, als wir uns trafen. Ein Jahr zuvor war er wärmer gewesen. Angenehm. Ich bin gerne zwischen Halle 2 und Halle 4 gewesen, habe die Sonne genossen, ein mitgebrachtes, zerdrücktes Käsebrötchen gegessen. Starken, guten Kaffee vom kleinen Stand mit dem dreirädrigen Wagen getrunken. Die Verkäufer dort waren immer nett gewesen. Selbst am Sonntag.

Auch in diesem kühlen März 2013 war ich Stammgast bei dem Kaffeewagen. Von Messebeginn bis zu ihrem Ende. Leipzig. Halle 2, meine Heimat. Lieb gewonnen mittlerweile. Unser Mutterschiff im Wirrwarr aus Menschen und Kostümen, seltsamen Gestalten und Männern, die von Bodyguards flankiert wurden.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich den Mann getroffen habe. Habe ich ihn gesucht, so wie wir alle in Leipzig waren und wieder sein werden, um etwas zu suchen? Hatte er mich gefunden, zwischen Perry Rhodan und dem kleinen Kabuff, dem kurz darauf meine »Krieger« entwachsen waren?

Ich weiß es nicht mehr. Zu kalt war dieser März, zu klamm die Erinnerungen an ihn. Ich glaube, ich habe das Wort an ihn gerichtet. Oh, ich bin nicht gut in diesen Sachen. Eher ein Zuhörer als ein eleganter Redner, obwohl ich meine meisten Tage mit stundenlangem Reden verbringe.

Wir redeten und hörten uns zu. Draußen war es kalt, drinnen laut. Die Luft merkwürdig. Wenn ich heute an dieses Wochenende im März zurückdenke, glaube ich, dass wir damals bereits eine Vorahnung hatten. Der Mann und ich. Wir erinnerten uns an den anderen Mann, der einsam aus einem Krankenhaus kam und in eine einsame Stadt sah. 28 Tage zu spät, um das Grauen des Ausbruchs miterlebt zu haben. Und wir ahnten, dass auch uns 28 Tage bevorstanden. Doch noch waren wir zu naiv und unwissend, um zu erkennen, wann sie ihren tödlichen Countdown beginnen würden.

Wir standen da und sprachen. Saßen später und tranken Eierlikör aus kleinen Plastikbechern. Ich glaube, eine Buchbloggerin platzte an diesem Abend, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht war es nur ein Traum.

Wie machen wir es genau?, fragten wir uns und planten. Was im kalten März 2013 einen Anfang genommen hatte, trat uns 2014 als etwas längst konkret Gewordenes entgegen. Ich denke, wir beide konnten es damals schon riechen. Diesen ranzigen Duft, der uns bald überall in Deutschland entgegenwehen würde. Stinkende Ausdünstungen. Körper, vom Regen aufgeweicht. Besudelte Städte. Straßen, mit einem klebrigen Belag aus geronnenem Blut und zertretenen Innereien. Magensäfte, die an Häuserwänden klebten. Rattenfeste auf Leichenbergen, Fliegenschwärme, die in Kinderwagen tanzten. Warme Verwesungsdämpfe.

Doch im März 2013 gestanden wir es uns noch nicht ein. Im März war es kalt und über das, was sich draußen anbahnte, bewahrte man Schweigen.

Der Mann hatte schon seit Langem versucht etwas zu hinterlassen und dieses auch geschafft. Gedanken zu Geschichten. Raum für Geschichten. Irgendwo in der Vergangenheit hatten sich unsere Wege bereits gekreuzt. Unmerklich. Ein kurzes Registrieren des anderen. Doch Ende 2012 / Anfang 2013 entstand etwas anderes. Neues. Die Elben nannten es Sonnenaufgang und wir auch. Amrûn.

Als im kalten März 2013 die ersten Worte von Angesicht zu Angesicht ausgetauscht wurden, kurz bevor wir mit Wolfgang Hohlbein anstießen und Sekt schlürften, hatten wir noch ein vergleichsweise gutes Gefühl. Wir dachten über unsere Idee nach und sie erschien mir wie ein Luftballon, den der Wind in die Höhe trieb. In den Sonnenaufgang, hinter dem das Dunkel des Kommenden ein noch kaum sichtbarer Albtraum war.

Doch im März 2014 wussten wir mehr, als uns lieb war. Wir hatten zu fragen begonnen und erste Antworten erhalten. Es gab Pläne, Skizzen. Wir suchten Hoffnung im kalten Apparat des Militärischen und ich bin mir sicher, dass nicht nur ich auch an Gott gedacht habe. Was wir fanden, was sich vor unseren Augen offenbarte, war die Gewalt. Sie schälte sich aus dem Leib des Landes, gebar sich durch die Kruste der Landmasse. Natürlich hatte es sie schon zuvor gegeben. Überall. Aber hier bei uns war sie kleiner gewesen. Leiser. Oft etwas Fremdes und darüber waren wir froh. Als wir sie jetzt sahen, im nahenden Morgen, war sie gigantisch und allgegenwärtig. Sie war tief und dunkel. Schlug um sich. War in uns gedrungen, in den ersten Atemzug am Morgen und den Letzten vor den grauen Träumen der Nacht.

Als unsere Rufe im Juni 2014 beantwortet wurden, war es für mich ein Gefühl, als halte mir jemand eine geladene Waffe in den Mund. Diese Erwartung, dass es doch endlich passieren würde. Der befreiende Knall, der Geschmack von Rauch auf der Zunge. Erlösung aus langem Warten.

Was ich fand, war die Bestätigung meiner schlimmsten Befürchtungen. Die Stacheldrähte waren wahr geworden. Die Schießanlagen und Kampfhubschrauber. Angelegte Gewehre. Mütter, die ihre Kinder in die Schusslinie zerrten, weil dahinter, irgendwo dahinter, Hoffnung auf Leben lag. Mauern. Minenfelder. Granatenkrater. Die Städte brannten und starben. Wurden Höllen.

Tartaros. Das Einzige, was er zu wissen scheint: Mensch wird von Mensch umgeben.

B3ZwW11.

Die faule Schlampe in ihrer zerrissenen Reizwäsche. Der Mann im Hundekäfig und seine Frau davor. Francis, die zu viel gesehen hatte und nicht mehr sprach. Das unleserliche Manuskript, toten Händen entglitten. Blut, das in ein Dorf führte und die Masse Witterung aufnehmen ließ. Begrabene Körper unter einem Baukran. Alpha entfernte sich vom Dom in südlicher Richtung. Ein Messer am Kopf des kleinen Mädchens. Menschenjagd hinter zerstörten Schaufenstern. Dornen, an denen der Darm des Straßenfegers hing. Affenpisse. Blutige Flora. Eine angekettete Mutter und ihre Kinder. Röcheln im Wald und aus der Tiefe des Glaubens. Der Durchgeknallte. Die Totgetrampelten. Axtnächte. Schlachthäuser, Menschenfleisch, Finger, die im Erdreich scharrten. Die Brücke und die Marodeure. Wimmern. Krieg in den Vororten. Natürliche Auslese. In den Hörsälen fressen sie.

Die Zone.

Deutschland.

2020 beginnt es.

Es ist nah. So schrecklich nah.

Zwei weitere Männer seien an dieser Stelle erwähnt, da ihnen mein Dank gebührt. Der eine aus der Nähe von Hamburg, der andere im beschaulichen Buxtehude.

Über den Mann bei Hamburg wird viel geredet. Geschichten kursieren. Er soll bereits lange vor uns gesehen haben, wie sie fressen und Neue schaffen, die fressen werden. Er hat eine analytische Kälte, die mir oft widerlich vorkommt. Aber sie hat es ihm erlaubt, jenes zu sehen und zu schildern, was sich vom Menschen nährt und ihn zu etwas anderem macht. Auch wenn unser Weg in die Abgründe nicht einfach war, hat er doch die Wurzel entstehen lassen, die die widerliche Saat erst gebären konnte.

Vielen Dank, Vincent Voss.

Über den Mann aus Buxtehude heißt es, dass er aus Rost lesen könne und seine Visionen keine Farben hätten, die dem gesunden Menschen gefallen würden. Er weiß, was Punk bedeutet und vielleicht ist dies ein Grund, warum sich unsere Wege irgendwann zwangsläufig kreuzen mussten. Auch er hatte es mit mir nicht immer einfach. (»Dem Herrn Exter ist die Schrift nicht dreckig genug.«)

Er hat Großartiges geleistet.

Danke, Christian Günther.

Jasmin und Tara, viel Arbeit und Mühe. Manchmal erschienen sie mir, wie die Grand Dames im Hintergrund. An anderen Tagen, wie ein fleißiges Uhrwerk, auf das stets Verlass war.

Ich danke euch.

Für uns ist die Zeit abgelaufen. Zwei Jahre nach den ersten Gedanken. Achtundzwanzig Tage später. Regenwasser füllt die tiefen Spuren der Panzer und die Krater ihrer Geschosse. Ein Teddybär liegt vor einer ausgebrannten Tankstelle. Wir gehen weiter, gehen tiefer. Der Mann steht am Horizont. Sieht die Dinge, die uns entgegenkriechen. Ich sehe sie auch. Fürchte sie, erfreue mich an ihnen. Dieses Buch ist erst der Anfang. Ein Luftballon aus rissiger Haut. Fettige Haarsträhnen und ungleiche, zuckende Augen. Wir haben ihn fliegen lassen. Zu dir. Eine Warnung, ein Versprechen.

Es wird noch viel schlimmer.

Torsten Exter