OPERATION CAROLUS MAGNUS

MARKUS CREMER

Der Fernseher in der Wartehalle des Militärflughafens blieb stumm, doch die Bilder der Grenzstationen um das abgeriegelte Deutschland waren eindeutig zu erkennen. Eine Runde von Experten diskutierte, während eine Ecke Videos von schlurfenden Untoten zeigte.

Peter Falconer wandte sich von den abscheulichen Bildern ab. Die ungewohnte Uniform kratzte, und er hatte keine Ahnung, warum sie ausgerechnet ihn wollten. Das abgeschirmte Flugfeld der NATO lag in Küstennähe und Peter roch die Nordsee. Tief atmete er die salzige Luft ein und schloss die Augen. Es rief Erinnerungen an Afrika in ihm wach. Noch vor drei Tagen hatte er die Wanderbewegungen von Pavianen in Südafrika untersucht. Dann erschienen die Blauhelm-Soldaten und holten ihn mit einem großen Militärhubschrauber ab. Sein Ausweis wurde ihm unter fadenscheiniger Erklärung abgenommen und jede Information verweigert. Jetzt befand er sich hier.

Wo auch immer ›hier‹ war.

Die Wärme der südlichen Sonne fehlte ihm und er schlug den Kragen der Uniformjacke hoch. Angeblich diente diese Maskerade zum Schutz der vor ihm liegenden Geheimmission.

Diese Militärs sind echte Dramaqueens, dachte er und grinste.

Deutschland wurde angeblich von Untoten überrannt und sie machten sich Gedanken, ob ihn jemand auf einem holländischen Flughafen erkannte? Absolut lächerlich, wie alles Militärische. Wer ordnete sich schon gerne unter und führte stumpf irgendwelche unsinnigen Befehle aus? Nicht einmal Paviane würden dies tun. Nur Idioten gingen zum Militär.

»Schlafen Sie, Sergeant Falconer?«, riss ihn eine befehlsgewohnte Stimme aus seinen Gedanken.

»Nein, ich denke nach«, gab er zur Antwort, blickte aber nicht auf. Er war kein Soldat und wollte auch nicht so behandelt werden.

»Ich verstehe«, sagte der Fremde. »Ein Denker ist mir auch lieber als ein Draufgänger.« Sein Akzent wies ihn als reinrassigen Italiener aus.

Peter sah überrascht auf. Er hatte eine Standpauke, wie in den alten Armeefilmen über den Vietnamkrieg, erwartet. Der grauhaarige Mann lächelte ihn an. Ein ähnliches Lächeln kannte Peter durch die Beobachtung von Hyänen. Etwas im Blick des Soldaten ließ ihn frösteln.

»Wir starten, sobald der Rest vom Team eingetroffen ist«, erklärte der Mann. Peter vermutete, dass es sich um Captain Roberto Carboni handelte. Er war ihm als Kommandant des Spezialeinsatzes genannt worden.

Einer der wenigen Informationssplitter, die er erhalten hatte.

Der erfahrene Soldat wirkte völlig ruhig und unbewegt. Er trug eine schwarze Uniform mit Offiziersstreifen, aber ohne Namensschild oder Landesflagge. An seiner Seite trug er neben einer geschwärzten Pistole ein Kampfmesser.

Bei einem anderen Mann hätte es wie eine Verkleidung gewirkt, überlegte Peter.

»Die Maschine ist startklar«, erklärte Captain Carboni und deutete auf den futuristisch wirkenden Hightech-Helikopter.

Leise pfiff Peter durch die Zähne. »Wozu brauchen wir dieses Ding? Was genau ist unser Auftrag?«

»Ihr erster Einsatz in geheimer Mission?«, fragte Carboni, während er in die Nacht starrte.

»Überhaupt mein erster Einsatz.«

Diesmal warf Carboni ihm einen überraschten Blick zu.

»Ich bin kein Soldat«, erklärte Peter, »ich bin Verhaltensbiologe.«

»Biologe?«, unterbrach Carboni nachdenklich. »Ich fürchte, unser Auftrag wird wirklich gefährlich.«

»Was wissen Sie?«, hakte Peter nach.

»Nur Gerüchte, aber mit Ihnen werden sie zu Gewissheit.«

Peter schluckte und fragte weiter: »Wird es sehr hart?« Er hatte nachgedacht und es gab derzeit nur eine Zone, wo die NATO einen erfahrenen Verhaltensbiologen benötigte.

»Den genauen Auftrag erhalte ich erst, wenn wir in der Luft sind. «

Peter nickte ergeben. »Wohin fliegen wir?«, fragte er trotzdem.

»Geheim.« Erneut grinste Captain Carboni.

»Ist mir klar. Brauchen wir keine Atemmasken, dort wo wir ›geheim‹ hinwollen?« Er wollte zeigen, dass er das Ziel kannte.

»Es wird nicht durch die Luft übertragen ... soweit wir wissen«, meinte der Italiener. »Sie können Deutsch?«, fügte er mit einem grimmigen Lächeln hinzu. »Obwohl ich nicht glaube, dass Ihre Sprachkenntnisse vonnöten sein werden.«

»Ich habe in Aachen studiert«, antwortete Peter. Seine Gedanken überschlugen sich. Vor zwei Jahren war Deutschland von Zombies überrannt worden und die Alliierten hatten das gesamte Land abgeriegelt. Die Aufnahmen gingen seinerzeit um die ganze Welt. Keiner ging rein und keiner kam raus, so lautete die Devise. Selbst Zugvögel wurden mit Netzen am Überfliegen gehindert.

Diese Zombieangelegenheit war Peter immer unwirklich erschienen, doch nun befand er sich mittendrin.

Ein Jeep fuhr mit hohem Tempo auf den Hubschrauber zu. Nach einer harten Bremsung kam das Fahrzeug zum Stehen. Sofort riss jemand die Türen auf. Eine kahlköpfige Frau und ein südländischer Mann mit breitem Schnurrbart sprangen heraus.

»Sergeant Major Mary Boulder«, sprach die Frau mit sehr britischem Akzent und nahm Haltung an, »und Warrant Officer Kemal Dukaritos melden sich zum Einsatz, Sir.«

»Dies ist Sergeant Peter Falconer«, wurde er von Captain Carboni vorgestellt. »Es ist sein erster Einsatz, aber es handelt sich um einen erfahrenen Mann.«

Kemal schnaubte verächtlich.

»Falconer hat mit Löwen, Krokodilen und Pavianen gearbeitet«, fuhr Carboni fort.

»Und immer Glück gehabt«, ergänzte Peter.

»Glück ist immer gut«, meinte Kemal. »Wir könnten ihn ›Lucky‹ nennen.«

»Lucky gehört ab sofort unserer kleinen Einheit an. Ein Teammitglied!« Captain Carboni betonte das letzte Wort überdeutlich.

»Wirklich, Sir?«, fragte die glatzköpfige Frau.

»Jawohl, Sinhead. Jeder fängt mal klein an. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Einsatz einer britischen Pilotin, deren besonderes Talent beinahe die gesamte Mission vermasselte.«

»Willkommen, Lucky«, erklärte die Frau ungerührt.

»Alle an Bord«, befahl Captain Carboni. »Operation Carolus Magnus startet!«

Die moderne Maschine hob überraschend geräuschlos ab und glitt gleichmäßig über den Boden hinweg.

»Ich bleibe unterhalb der Radargrenze«, teilte Mary über Bordfunk mit. »Welchen Kurs, Captain?«

Captain Carboni blickte von seinem Tablet auf: »Antwerpen, dann südlich an Liege vorbei und direkt auf Aachen vorstoßen. Die Leitstelle ist informiert und wird die automatischen Raketenbatterien im Dreiländereck kaltstellen«, erklärte Carboni und erläuterte die genauen Koordinaten. »Unser Ziel ist das Aachener Stadtgebiet.«

»Mit welchem Auftrag, Chef?«, fragte Kemal Dukaritos.

Peter blickte sich bei dieser vertraulichen Anrede irritiert um. Kemal erklärte ihm: »Im Einsatz reden wir uns nur mit unseren Spitznamen an. Meiner lautet Knallfrosch.«

»Ich ahne, was Ihr Fachgebiet ist«, sagte Peter. Die lockere Art gefiel ihm und erinnerte ihn an die Zusammenarbeit mit erfahrenen Zoologen.

»Der Auftrag lautet, die mitgeführte Auswahl an Waffen auf ihre Wirksamkeit auf die zwei Zombietypen zu testen.«

»Es gibt zwei Typen?«, unterbrach Peter verblüfft.

»Schlurfende Untote, langsam und zerlumpt, ihr Gefahrenpotential ist eher gering.«

»Besonders von hier oben«, meldete sich Mary über Funk zu Wort.

»Zerlumpt?«, hakte Peter nach.

»Zerfressen, verwest, wie die Zombies im Kino«, antwortete Kemal.

»Es scheint, als wären die ›Schlurfer‹ bereits lange tot gewesen, bevor sie erneut ... erwacht sind«, ergänzte Captain Carboni. »Ihr Anblick ist wahrlich furchterregend und ich verwende derartige Ausdrücke nicht oft.«

»Wenn sie vorher tatsächlich tot waren, kann die Ursache kein Virus sein«, murmelte Peter nachdenklich. »Viren benötigen lebende Zellen, um sich fortzupflanzen.«

Was konnte totes Gewebe erneut zum Leben erwecken?

»Die frisch Infizierten sind schneller und dadurch wesentlich gefährlicher«, warf Kemal ein.

»Gibt es noch frisch Gebissene in Deutschland?«, fragte Peter. »Nach zwei Jahren?«

»Das ist eine der Fragen, die wir klären sollen. In den Kisten dort hinten befinden sich Armbrüste, Bolzen mit Farbkugeln und Funkpeilsender zur Markierung der Schlurfer.«

»Verhaltensforschung also?« Peter grinste. »Darf ich die gewonnenen Daten veröffentlichen?« Er würde der erste Forscher sein, der offiziell an dieser neuen Spezies forschte. Was für eine Chance! Wobei es unter strengen Gesichtspunkten sicher keine neue Spezies war. Oder sollte es sich um eine besondere Variante von parasitärem Wirtskörper handeln? Er schüttelte den Kopf. Manche Dinge waren einfach zu abstrus.

»Negativ, dieser Einsatz dient rein militärischen Zwecken. Es soll erforscht werden, ob und wie die Zombies ihre Opfer finden, welche umherwandern oder warum einige es nicht tun, klar?«

»Okay«, antwortete Peter langsam. »Wie lange dauert unser Ausflug in die Hölle?«

»Nicht länger als drei Stunden für die Markierung und die Waffentests, danach geht es zurück zur Basis. Offiziell existiert unsere Mission nicht. Die Öffentlichkeit würde es nicht verstehen.«

»Was nicht verstehen?«, fragte Peter nach.

»Es leben noch Menschen in der isolierten Zone«, erklärte Kemal.

»Normale Menschen?«

»Positiv«, antwortete Captain Carboni.

»Nach dieser Zeit? Erstaunlich. Wie wird ihnen geholfen?«, wollte Peter wissen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, seit zwei Jahren in einer Welt der Zombieapokalypse zu leben. Noch dazu, jede Hoffnung auf Hilfe begraben zu können. Welchen Sinn, welche Perspektive konnte das Leben dann noch haben?

»Gar nicht, deshalb werden einige der überlebenden Gruppen auch nicht erfreut sein, uns zu sehen.« Carboni schob seinen Unterkiefer vor, als er dies sagte.

Eine klassische Geste, um die eigenen Gefühle zu unterdrücken, dachte Peter. Er ist auch nur ein nackter Affe.

»Dieses Baby hat Panzerplatten, die alles unterhalb eines Panzerbeschusses abprallen lassen«, kam es über Funk von Sinhead.

»Beruhigend«, sagte Peter und verdaute die erhaltenen Informationen.

»Aachen wird häufig überflogen«, meinte Kemal. »Mittlerweile ist es gefahrlos, denn den Überlebenden geht langsam die Munition aus.«

»Aachen in Sicht«, erklang die Stimme von Sinhead nach einer Stunde.

Peter wurde mit Gurten gesichert und nahm die Armbrust zur Hand. Das Modell unterschied sich erheblich von den Geräten, die er kannte. Neben dem Laservisier gab es noch eine klobige Vorrichtung, die als Magazin diente.

»Bereit«, sagte er und Kemal öffnete die Außentür des Helikopters. Der Wind rauschte und raubte Peter den Atem. Das Rauschen war derart laut, dass er zunächst nichts mehr hörte. Der Hubschrauber befand sich fünf Meter über den zweigeschossigen Hausdächern der Randgebiete. In der Ferne ragte der Aachener Dom auf. Über tausend Jahre lang war er ein Sinnbild für die Standhaftigkeit von menschlichem Streben gewesen. Nun bleibt er unbesucht, kam es Peter in den Sinn. Er wandte sich von dem Anblick ab und betrachtete die gespenstische Szenerie unter ihm. Müll und Autowracks stapelten sich in den Straßen. Einige Gestalten stolperten scheinbar ziellos durch die Häuserschluchten.

»Schlurfer voraus«, rief Kemal und richtete eine gefährlich aussehende Kanone auf einen hinkenden Zombie. Rotes Laserlicht markierte das Ziel und Kemal drückte ab.

Peter hatte einen Geschossknall erwartet, doch nichts geschah. Der anvisierte Zombie blieb stehen, dann fiel er buchstäblich in sich zusammen. Bewegungslos.

»Silent Sheriff der dritten Generation«, erklärte Kemal mit lauter Stimme, »eine Mikrowellenkanone, die das Wasser im Gewebe zum Kochen bringt.«

»Wahnsinn«, schrie Peter gegen den Lärm der Rotoren an.

»Den Prototypen gibt es bereits seit mehr als zehn Jahren.«

»Wirklich?«

Kemal nickte zur Bestätigung.

»Ich gehe etwas tiefer«, kam es über Funk von Sinhead. »Dort ist ein großer Platz, gleich neben dieser Kirche.«

»Der Katschhof«, ergänzte Peter, »und die Kirche ist der Dom. Stammt noch von Karl dem Großen, auch Carolus Magnus  genannt.«

»Daher der bekloppte Name für unsere Mission«, erwiderte Kemal laut, um den Wind zu übertönen, »ich hatte mich schon gewundert.«

»Kein Geschwätz, Knallfrosch«, unterbrach Captain Carboni, »wir sind jetzt in Feindesland.« Der Italiener hielt ein klobiges Gewehr mit Zielfernrohr in den Händen.

Beim Näherkommen erblickte Peter den Dom und dicht dahinter die Fassade des historischen Rathauses. Diese beiden Gebäude rahmten den Katschhof ein. Neben dem Dom befanden sich Kräne und Baugerüste.

Wie lange der Dom wohl noch bestehen konnte, ohne regelmäßig restauriert zu werden?, überlegte Peter.

Der Anblick der annähernd hundert Zombies verscheuchte jeden weiteren Gedanken an die Architektur. Wie eine Herde Zebras an einem Wasserloch, hatten sich die Untoten auf dem Platz versammelt. Viele der Zombies streckten in einer sinnlosen Geste ihre Hände nach dem Hubschrauber aus.

»Weiter runter, Sinhead«, befahl Carboni mit lauter Stimme.

Der Helikopter bewegte sich abwärts. Peter hielt die Luft an. Die Fassaden der historischen Gebäude waren beängstigend nahe. Die Kleidungsreste der Zombies flatterten, als sich die Rotorblätter auf fünf Meter über ihren Köpfen absenkten. Ein großer Zombie blieb unbeweglich im Zentrum stehen und starrte den Hubschrauber an. Peter nahm ihn ins Visier und schickte einen Bolzen in seinen Brustkorb. Vom Gesicht der wandelnden Leiche war nicht mehr viel übrig. Maden bedeckten die Haut.

Ekelhaft, dachte Peter und drückte ab. Ein Farbfleck blühte auf und zeigte an, dass der Sender platziert war. Das handgroße Ortungsgerät neben Peters Sitz blinkte.

»Subjekt Alpha«, murmelte Peter und tippte eine Kurzbeschreibung in das Gerät ein. Genauso ging er bei zu beobachtenden Tieren ebenfalls vor. In den nächsten zehn Minuten markierte er mehrere Zombies. Jeder Untote wies ein von Maden bedecktes Gesicht auf.

Er sollte Angst empfinden, doch seine wissenschaftliche Natur verdrängte derartige Gefühle und schuf Raum für Faszination und Neugierde.

Ob eine spezielle Fliegenart die Chance ergriffen hatte und ihre Lebensweise an das Zombiegewebe angepasst hatte? Grübelnd machte er sich einige Notizen dazu.

Gerade versah er eine ehemals junge Frau, Subjekt Tau, mit gelber Farblösung und Sender, als ihm etwas Seltsames auffiel.

»Wieso bewegen sie sich nicht von diesem Platz fort?«, fragte er gegen den Wind anschreiend.

»Wer weiß schon, warum Zombies tun, was sie tun«, schrie Kemal und feuerte mit einer experimentellen Handfeuerwaffe in die Menge.

»Vorsichtig«, rief Peter, »sonst wird eines der markierten Subjekte erwischt.«

»Der Zivilist hat recht«, meinte Captain Carboni, »wir sollten ...«

»Da sind Zäune«, schrie Peter und zeigte auf die Ausgänge des Katschhofs. »Diese Zombies sind hier gefangen.«

»Was für ein Unfug«, rief Carboni, »bestimmt nur Bauzäune. Weshalb sollte jemand Zombies fangen?«

»Eine Ziege.«

»Was? Ich habe ›Ziege‹ verstanden«, schrie Carboni.

»Ich auch«, gab Kemal seinen Senf dazu.

»Ziegen dienen in Afrika als Köder bei der Löwenjagd«, erläuterte Peter.

»Hier gibt es keine Löwen«, brüllte Kemal.

»Wir sind der Löwe!«, antwortete Peter verzweifelt.

Carbonis Augen weiteten sich, dann gab er über Funk brüllend weiter: »Sofort aufsteigen! Weg hier! Los!«

»Wird gemacht, Chef«, kam es über Funk, doch da sah Peter den ersten Baukran wanken.

Sicher nur Einbildung. Was sonst? Der Hubschrauber schwankte und da konnte es leicht zu optischen Täuschungen kommen, beruhigte er sich selbst. Das einsetzende metallische Knirschen übertönte sogar den Lärm der Turbinen.

»Nein!« Fassungslos blickte Peter auf den haltlosen Baukran. Die Konstruktion aus tonnenschweren Metallstreben drehte sich in ihre Richtung. Genau in ihre Richtung. Panik überkam Peter, doch es gab keinen Ausweg. Er war gefangen! Adrenalin flutete seine Adern. Der Lärm der Zombies, der Kameraden, der Rotoren und des herannahenden Baukrans verschwand und wurde durch das hektische Schlagen seines Herzens ersetzt. Sekundenbruchteile dehnten sich zu gefühlten Ewigkeiten, als der Kran die letzten Meter zurücklegte. Er wollte die Augen schließen, doch es gelang ihm nicht.

Der Kran schlug auf. Die Druckwelle ließ den Hubschrauber schlingern. Sein Herz setzte aus. Eine Kakophonie aus unterschiedlichsten Geräuschen explodierte einen Moment später in seinen Ohren. Ungläubig vor Staunen registrierte Peter, dass der Kran den Helikopter verfehlt hatte. Es konnte sich nur um Zentimeter gehandelt haben. Die Pilotin hielt das Gefährt immer noch in der Luft. Zahlreiche Zombies waren unter dem zerschmetterten Kran begraben worden. Peter atmete auf. Bis er nach hinten blickte. Ein zweiter Baukran kippte. Einen Augenblick lang schien dieser Kran in der Luft zu hängen, dann traf er das Seitenruder im Heck des Hubschraubers. Mit der Kraft einer Titanenfaust wurde der Helikopter auf den Boden geworfen. Oben und unten vertauschten sich in rasender Schnelligkeit. Die Rotorblätter zersplitterten und fuhren wie gewaltige Sensen durch die Zombies. Funken und Körperteile segelten durch die Luft. Der Aufprall raubte Peter die Luft. Die Gurte schnitten in seine Schulter. Rauch stieg vom Heck des Hubschraubers auf. Vor sich erblickte Peter ein apokalyptisches Bild des Schreckens. Bewegungslose Untote und zuckende Überreste lagen um den zerschmetterten Helikopter herum.

Ich lebe noch, durchfuhr es ihn. Unfassbar. Sein Spitzname kam ihm in den Sinn. Lucky. Trotz des Horrors lächelte er kurz, als er daran dachte.

Kemal stöhnte, doch der Soldat löste seinen Gurt und hob augenblicklich seine Waffe. Peter sah, wie sich ein Schlurfer auf die offene Luke zubewegte. Ein Schuss ließ den vor Maden wimmelnden Kopf förmlich verdampfen. Der Untote sackte zuckend zur Seite. Ein weiterer Schuss und erneut verstarb ein Zombie endgültig.

Langsam, wie in Zeitlupe, öffnete Peter seinen Gurt und kämpfte sich hoch. Die Armbrust hielt er noch in der Hand. Reflexartig jagte er einem herantorkelnden Zombie einen Bolzen in den Kopf. Der Untote drehte ab. Peter wurde fast übel, als er den Strom an Maden erblickte, die aus der Wunde quollen.

»Immerhin lebe ich noch«, murmelte Peter, um es sich selbst zu bestätigen. Er blickte an sich herab und entdeckte keine Verletzung. Die Situation kam ihm unwirklich vor. Es musste sich um einen absurden Scherz handeln. In Wirklichkeit konnte er nicht hier sein. Es war bestimmt ein Traum. Er hoffte inständig, dass es sich wirklich nur um einen bösen Traum handelte.

»Verdammte Scheiße«, fluchte Carboni. »So war das nicht geplant.« Er feuerte mit seinem unhandlichen Gewehr einen Schuss auf einen Untoten ab. Getroffen sank dieser zu Boden.

»Sinhead?«, rief Carboni über das Headset an seinem Helm. »Melden.«

Ein Blick auf das Cockpit sagte Peter, dass keine Antwort zu erwarten war. Der Ausleger des Krans hatte das Cockpit vollständig zerquetscht. Aus den Augenwinkeln sah er Alpha, der zwischen den Häuserschluchten verschwand. Der Baukran hatte den Zaun zertrümmert.

Sonderbar, dachte Peter. Ob die Zombiefizierung mehrere Krankheitsstadien mit unterschiedlich starker Bewusstseinstrübung aufwies? Eine interessante Frage. Im nächsten Moment tauchte vor ihm ein Schlurfer auf, dessen nackter Körper völlig ausgemergelt war. Maden krochen über die verweste Haut und bohrten sich in das tote Fleisch. Subjekt Tau. Die knochige Hand der früheren Frau griff nach ihm und er feuerte einen weiteren Bolzen ab. Diesmal verfehlte er sein Ziel und die Untote wankte näher heran. Peter wich zurück, ließ die Armbrust fallen und öffnete hektisch eine der Kisten. Der Inhalt bestand aus einer Kühlbox für biologische Proben und mehreren Harpunen mit Widerhaken. Er schnappte sich eine der Waffen und feuerte die Stahlspitze direkt in die Stirn der Untoten. Tau riss es nach hinten und sie verschwand aus seinem Blickfeld.

»Hier«, rief Kemal und warf ihm eine Pistole zu. »Schlitten zurückziehen, Sicherheitsbügel umlegen und abdrücken, klar?

Kemal entnahm einer der Kisten eine Granate, zog den Stift und warf sie in die Ansammlung von Zombies.

Peter wollte protestieren, wollte den Soldaten darauf hinweisen, dass die Ansteckungsart noch nicht geklärt war. Zu spät. Waren es Bakterien, so konnten sie sich alle durch ein entstehendes Aerosol anstecken.

»Deckung!«, rief Kemal und unterbrach seine Gedanken. Die Explosion erfolgte beinahe zeitgleich. Weitere Granaten folgten. Die Detonationen zerfetzten die Untoten. Carboni feuerte noch einige Schüsse in die übrigen Schlurfer, dann lehnte er sich zurück. Der Antrieb der Rotoren drehte immer noch und erzeugte ein metallisches Kreischen. Peter nahm es erst jetzt wahr.

»Was für ein verdammtes Pech«, meinte Kemal trocken.

»Die Zombies haben den Kran nicht gekippt«, stellte Peter fest. Sein Blick wanderte zu der Kiste mit dem Trockeneis. »Wozu dienen diese Harpunen und diese Behälter für Organentnahmen?«, fragte Peter. »Sollten Zombies gefangen werden?«

»Was?«, rief Kemal und sah in die angegebene Richtung.

»Die Sache ist ganz einfach zu erklären«, sagte Carboni und drehte sich so, dass die Mündung seiner Waffe auf Peters Bauch zeigte.

»Tatsächlich?«, fragte Kemal und zielte in gleicher Weise auf seinen Offizier. »Im Auftrag wurde nichts davon erwähnt, dass wir Zombies fangen sollten.«

»Keiner darf Proben sammeln«, erklärte Peter, »die NATO hat beschlossen, dass die Zombies nicht als Waffe eingesetzt werden dürfen.«

»Die NATO bezahlt ihre Soldaten sehr schlecht, wenn man das Risiko bedenkt«, sagte Carboni und grinste. »Es gibt aber immer noch andere ... Geschäftspartner.«

»Das ist Verrat!«, schrie Kemal.

»Völlig egal, was es ist, es könnte in der jetzigen Situation unsere einzige Chance sein.«

»Sollen wir bis Russland laufen?«, fragte Peter. Er bemerkte eine Bewegung hinter dem Captain.

»Wer sagt denn, dass es die Russen sind?«, meinte Carboni und setzte erneut ein Lächeln auf. »Ist ohnehin egal, zumindest für Sie, Peter. Zivilisten enden in dieser Scheiße als Futter für die Bestien. Ich verspreche Ihnen aber, dass ich Ihren Kopf derart umgestalte, dass Sie sich nicht in die Reihen der Untoten einreihen.« Carboni hob die Mündung.

»Zu großzügig«, antwortete Peter, der keine Anstalten machte, die Pistole in seiner Hand zu heben. Eine traumhafte Leichtigkeit hatte ihn erfasst und er kam sich vor, als wäre er nur zu Besuch in seinem eigenen Körper.

Ein Schuss erklang und Captain Carboni fiel vornüber. Kemal wirbelte herum und feuerte auf ein Fenster im ersten Stock des Rathauses. Der hagere Mann mit der Jagdflinte schaffte es nicht mehr, sich rechtzeitig zu ducken. Von mehreren Kugeln getroffen, fiel er unter die Fensterbank.

»Es war ein Mensch«, fuhr Peter ihn an. »Sie haben ihn ermordet.«

»Er wollte uns töten«, erklärte Kemal zur Verteidigung und winkte ab.

Eine Kugel prallte von der Luke ab und ein Knall echote auf dem Platz. Der Soldat duckte sich tief in den Hubschrauber. Peter folgte seinem Beispiel.

»Überlebende?«, fragte er.

»Genau«, antwortete Kemal. »Ich fürchte, sie sind nicht scharf auf unsere Anwesenheit.«

»Warum nicht? Wir könnten ihnen helfen.«

»Können wir nicht, denn ab sofort sind wir hier gestrandet. Sie wollen nicht uns, sondern unsere Ausrüstung.«

»Gestrandet«, wiederholte Peter und ihm wurde das ganze Ausmaß des Grauens bewusst. Die Leichtigkeit fiel von ihm ab, zurück blieb ein bleiernes Gefühl der Hoffnungslosigkeit. War er nach Aachen zurückgekehrt, um hier zu enden? Endgültig?

»Was bleiben uns für Optionen?«, fragte Peter leise.

»Wir verteidigen unseren Hubschrauber. Mit den Waffen können wir sie uns eine Weile vom Hals halten.«

»Klingt nicht sehr zukunftsorientiert«, erwiderte Peter.

»Wir haben keine Zukunft, verdammte Scheiße!«, schrie ihn Kemal an.

»Es gibt immer Hoffnung«, sagte Peter. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er es auch so meinte. Irgendwann würde sich die Krankheit ausfressen oder ein Gegenmittel gefunden. Eine Impfung oder etwas in der Art. Es musste daran glauben, denn anderenfalls konnte er sich an Ort und Stelle eine Kugel in den Schädel jagen. Wenn dies nicht bereits andere planten.

»Wir sollten unsere Position verlassen und ihnen den Hubschrauber überlassen«, schlug Peter vor. »Sie werden uns nicht verfolgen, da wir zu gut bewaffnet sind.«

»Schwachsinn.« Kemal schnaubte verächtlich.

»Dieser Hubschrauber ist jetzt ein großer Kadaver«, erklärte Peter, »wenn wir fliehen, wird er den Hyänen zum Opfer fallen.«

»Klingt nach einem Haufen Scheiße!«

»Ich werde jetzt gehen und ...«

Schüsse ertönten, ganz in der Nähe. Hektische Schussfolgen. Dann hörte er die Schreie, gefolgt von Gemurmel und Stöhnen.

»Was geht dort vor?«, fragte Kemal und riskierte einen Blick aus der Luke. »Ich kann nichts erkennen.«

Peter sah auf das Ortungsgerät neben sich. Die Position des letzten Senders näherte sich dem Katschhof.

»Alpha kommt zurück«, murmelte Peter.

»Was ist?« Kemal starrte ihn ungläubig an.

»Er kommt sicher nicht allein«, rief Peter und blickte in die Richtung, aus der sich das Signal näherte. Eine schwankende und torkelnde Masse quetschte sich durch die Gasse. Die Horde behinderte sich gegenseitig, weshalb sie nur langsam vorankam.

»Nein!«, rief Kemal. »Mich bekommt ihr nicht.« Er feuerte sein restliches Magazin leer. Er richtete die Mikrowellenkanone auf die heranrückenden Zombies. Die ersten Schüsse zerfetzten die vorderen Exemplare der Front, doch die Bewegung der Menge wurde dadurch nicht gestoppt.

»Wir müssen weg!«, schrie ihn Peter an. »Wir können sie nicht besiegen.«

»Sterbt! Sterbt!«, brüllte Kemal und feuerte weiter.

Verzweifelt schnappte sich Peter einen der herumliegenden Einsatzrucksäcke. Dazu packte er wahllos Granaten und Magazine. Zu guter Letzt nahm er das Ortungsgerät an sich. Kemal feuerte weiter, obwohl die ersten Zombies den Platz erreichten und sich somit die Front verbreiterte.

»Kemal!«, rief er, doch der Knallfrosch antwortete ihm nicht. Die Masse der madenbedeckten Untoten wankte heran.

»Verdammter Idiot!«, schrie Peter, doch der Soldat winkte ihm nur zu, ohne den Blick von den Zombies abzuwenden.

Danke Mann, dachte Peter, auch wenn er ihn nicht verstand.

Kopfschüttelnd wandte sich Peter ab und lief in Richtung Dom. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er, Lucky, war allein. Ein makaberes Lächeln schlich sich in seine Züge.

Der offene Eingang lag nur hundert Meter entfernt.

Vor Jahren war ich hier das letzte Mal, erinnerte er sich betrübt. Damals war er ehrfürchtig durch das prachtvolle Oktagon gewandelt. Diesmal konnte er sich Ehrfurcht nicht leisten. Kaum betrat er den Dom, trug er die Trümmer der Kirchenbänke zusammen und verriegelte das Eingangstor.

Ausruhen, dachte er und atmete tief ein. Etwas raschelte in den Überresten der einst prächtigen Einrichtung. Im schummerigen Licht des Kircheninneren entdeckte Peter die Umrisse von kriechenden Gestalten auf dem Boden unter der Kanzel. Vorsichtig trat er einen Schritt näher. Die Schemen krochen auf ihn zu. Erst als sie einen Lichtstreifen aus den zerstörten Domfenstern kreuzten, erkannte er, um was es sich handelte. Die kriechenden Gestalten stellten sich als mumifizierte Zombies heraus. Ihre üppige Kleidung bestand aus Brokat und feinen Stoffen.

»Heilige«, flüsterte er fassungslos, »konserviert und dennoch lebendig.« Er hob seine Pistole. Zitternd.

Konnte man diesen Zustand überhaupt Leben nennen? Er schoss vier Kugeln ab und vernichtete die ehemaligen Reliquien. Ihm fiel auf, dass selbst diese Mumien von Maden bedeckt waren. Kurios, aber sicher eher eine akademische Beobachtung. Wer würde sich jetzt noch dafür interessieren?

Draußen erhob sich das Stöhnen der Untoten auf dem Katschhof. Durch die Fensteröffnungen klang es für Peter so, als würden sie den Dom umstellen.

War Kemal schon tot?

Eine Folge von gewaltigen Explosionen erklang. Metallsplitter flogen durch die hohen Fenster des Doms. Die wenigen intakten Scheiben zerbrachen und verursachten einen Scherbenregen. Peter brachte sich unter der Kanzel in Sicherheit.

»Der letzte Knall des Knallfroschs«, sagte er laut in die darauf folgende Stille. Seine eigene Stimme klang ungewohnt. Das Stöhnen der Untoten ertönte deutlich reduziert.

Es dauerte einige Minuten, bis er die Treppe zum Glockenturm fand. Der Aufstieg war beschwerlich, aber er schaffte ihn und fand keine weiteren Zombies auf diesem Weg.

Was wollten sie auch dort oben?

Oben angelangt blickte er sich um. Die Abenddämmerung brach herein und das lichtlose Aachen lag unter ihm. Im Einsatzrucksack fand er ein Funkgerät mit Handkurbelbetrieb und genug Notfallrationen für zwei Wochen.

Glück im Unglück, dachte er und grinste.

Das Ortungsgerät zeigte ihm das verbliebene Signal von Alpha. Der hochgewachsene Zombie entfernte sich vom Dom in südlicher Richtung.

Welches Ziel verfolgte der Untote? Welches Ziel verfolge ich selbst?, dachte er. Was kann ich tun? Was bleibt mir, um mein Leben noch mit Sinn zu erfüllen?

Minuten saß er dort und schaute sich um. Eine Gruppe Zombies bewegte sich auf den Hubschrauber zu und machte sich über die wenigen Reste der Menschenleiber her.

Peter las die Anleitung, dann drehte er die Kurbel des Funkgerätes. Nach einem Räuspern begann er zu sprechen: »Mein Name lautet Peter Falconer ... Lucky für meine Freunde ... ich bin ... ich war Verhaltensbiologe und ich sende aus dem überrannten Aachen. Ich weiß nicht, wer mich hört, aber ich möchte meine Beobachtungen mitteilen. Vielleicht sind sie irgendwann und irgendwem nützlich. Einer der madenverseuchten Zombies, ich nenne ihn Alpha, wurde von mir mit einem Sender präpariert und ich kann seine Bewegungen verfolgen. Vor unserem Absturz konnte ich beobachten ...«