76.

 

Eine Stunde später griff Sir Anthony Allam, der Chef des MI5, zum Telefon und wählte die Nummer von Frank Connor. »Deine spezielle Freundin ist soeben wieder aufgetaucht.«

»Wo?«

»Im Kernkraftwerk La Reine in der Normandie. Sie hat versucht, eine Art Unfall zu verursachen, um das nukleare Stromnetz des Landes lahmzulegen. Die ganze Anlage sollte in die Luft fliegen. Um ein Haar hätte sie es geschafft.«

»Habt ihr sie erwischt?«

»Nein«, sagte Allam. »Sie ist uns entkommen.«

»Verdammt!«, fluchte Connor.

»Die französische Polizei hat einen landesweiten Haftbefehl erlassen. Interpol ist ebenfalls eingeschaltet.«

»Das wird nichts nützen. Die Lady ist so schwer zu fassen wie ein Geist. Sie werden sie niemals finden.«

»Mag sein«, sagte Allam. »Aber immerhin wissen wir, dass sie im Auftrag von Sergei Shvets vom FSB gehandelt hat. Wie sich herausgestellt hat, ist sie Russin, aber das dürfte dir wahrscheinlich nur allzu gut bekannt sein.«

»Natürlich wusste ich, dass sie Russin ist. Ich habe sie selbst vor acht Jahren angeworben. Schwer zu glauben, dass sie zu ihnen zurückgegangen ist.« Connor seufzte. »Es ist meine Schuld, dass es so weit gekommen ist. Meine Männer hätten ihren Job in Rom nicht vermasseln dürfen. Ich hasse es, wenn durch mein Verschulden ein solches Chaos entsteht.«

»Der französische Geheimdienst hat Shvets in Untersuchungshaft genommen. Offenbar hat er die Operation persönlich beaufsichtigt. Es ist uns gelungen, ihren Unterschlupf in Paris aufzuspüren und Shvets dort zu verhaften. Wir versuchen, die Sache noch so lange geheim zu halten, bis der Premierminister mit dem Kreml gesprochen hat.«

»Ich würde keinen Cent auf die Nachsicht seiner Landsleute verwetten.«

»Wie dem auch sei«, fuhr Allam fort. »Du hast dich in den letzten Tagen mit deinem Auftreten hier in London auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert.«

»Emma Ransom hat Division ziemlich übel mitgespielt«, sagte Connor. »Ich habe nur getan, was nötig war. Wenn ich dabei jemandem auf die Füße getreten bin, tut es mir leid. Aber ich werde dir kein Kopfzerbrechen mehr bereiten. Ich fliege noch heute Nacht zurück.«

»Guten Flug. Ich halte dich über die Ereignisse in Frankreich auf dem Laufenden.« Allam legte eine kurze Pause ein und warf einen Blick auf die Wanduhr. Er telefonierte jetzt seit zwei Minuten auf einer dechiffrierten Leitung und hoffte, dass diese Zeit ausreichte. »Übrigens, Frank, hast du eine Ahnung, wo sie jetzt sein könnte?«

»Nein. Wie schon gesagt, die Lady ist so schwer zu fassen wie ein Geist.«

 

Frank Connor beendete das Gespräch. Die Verbindung war nicht schlecht, wenn man bedachte, dass er meilenweit vom nächsten Funkturm entfernt war. Der Schoner schaukelte auf den Wellen, und Connor umklammerte das Ruder, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eine Hand bleibt stets am Ruder, hatte sein Vater ihm eingebläut. Die wichtigste Regel beim Segeln. Obwohl sie weit draußen auf dem Meer waren, konnte man die Küste Frankreichs immer noch gut erkennen. Ein Stück dahinter ragte die riesige weiße Kuppel des Kernkraftwerks La Reine aus den Nebelschleiern empor.

»Und?«, fragte Conner und reichte Emma Ransom ein Handtuch. »Weißt du schon, wohin du als Nächstes willst?«

»Keine Ahnung«, sagte sie und rubbelte sich die Haare trocken. »Hängt davon ab, wie die Sache jetzt weitergeht, nicht wahr?«

Connor gab ihr einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. »Vermutlich hast du recht, Lara.«

»Ich heiße Emma«, sagte sie. »Emma Ransom.«

Connor nickte bloß. Er würde sich auf keinen Fall auf eine Diskussion mit ihr einlassen. Nach einer Operation reagierten die meisten Agenten ziemlich emotional, und diese spezielle Operation war um einiges härter gewesen als die meisten anderen. »Du wirst doch nicht so dumm sein, Kontakt zu ihm aufzunehmen?«

Emma warf Connor einen kurzen Blick von der Seite zu. »Natürlich nicht.«

»Er darf es auf keinen Fall erfahren.«

»Ich weiß.«

Connor lächelte und sagte irgendetwas über Pflicht und Heimatland und den Preis, den man in ihrem Beruf zahlen müsse. Es waren abgedroschene Phrasen, die er schon hundert Mal von sich gegeben hatte, aber er glaubte noch immer daran, an jedes einzelne Wort.

Emma schüttelte stumm den Kopf und starrte auf die ferne Küste. »Tu mir einen Gefallen, Frank. Halt die Klappe und konzentrier dich auf dein Schiff.«