62.
Die Nacht brach herein, doch die leichte Brise, die vom Meer herüberwehte, war immer noch warm und vermischte sich mit dem Duft der Pinienbäume und Jasminbüsche. Jonathan rutschte den Abhang hinunter und wirbelte dabei reichlich Schmutz und Staub auf. Er duckte sich hinter aufragenden Felsen. Unter ihm schmiegte sich das mittelalterliche Städtchen Èze an den Berghang und bot mit seinen Lehmziegeldächern und rustikalen Häuserwänden ein malerisches Bild. Noch ein Stück tiefer schlängelte sich die Moyenne Corniche in Richtung Cap Ferrat und der Bucht von Villefranche-sur-Mer am Berghang entlang. Eine Kirchturmglocke schlug neun Mal.
Jonathan ließ seinen Rucksack auf die Erde gleiten und kramte darin nach einem Fernglas. Er hatte es zusammen mit einem Handy, Mineralwasser und anderen notwendigen Dingen in einem Warenhaus in Menton gekauft und alles mit Luca Lazios Kreditkarte bezahlt. Nun hielt er sich das Fernglas an die Augen und beobachtete die Villa, die genau gegenüber an einer Böschung lag. Das Gebäude war klein und offenbar sehr alt. Die Mauern waren aus weißen Natursteinen, und die Dachziegel hatten den sonnengebleichten Ockerton, den man auf vielen Dächern an der Côte d'Azur fand. An der einen Seite des Hauses befand sich eine Terrasse mit einem metallenen Schutzgitter. An der Straßenseite stand ein Briefkasten, auf dem in weißer Farbe »58 Route de La Turbie« geschrieben war.
Jonathan fiel eine Bewegung auf der Terrasse auf. Die Türen, die eben noch geschlossen gewesen waren, standen jetzt weit offen. Eine schemenhafte Gestalt eilte mit schnellen Schritten zurück ins Haus. Jonathan ging instinktiv hinter dem Felsen in Deckung, verharrte regungslos in seinem Versteck und beobachte die flatternden Vorhänge an der geöffneten Terrassentür. Eine dicke getigerte Katze schlich gemächlich über die Terrasse und legte sich unter einen schmiedeeisernen Tisch. Ein paar Minuten verstrichen, doch von der Gestalt war weit und breit nichts mehr zu sehen.
Jonathan zog das neue Handy aus der Tasche. Die Nummer kannte er inzwischen auswendig. Er drückte auf die Schnellwahltaste und hielt sich das Handy ans Ohr. Die Verbindung wurde hergestellt. Jonathan hörte das Freizeichen.
Plötzlich tauchte die Gestalt erneut auf der Terrasse auf. Jonathan sah, dass es ein Mann in seinem Alter war, schlank, von durchschnittlicher Größe, mit schwarzem Haar und so blasser Haut, dass sie förmlich nach einem Sonnenbad schrie. Der Mann trug einen dunklen Anzug mit einem am Kragen geöffneten Hemd. Seine Kleidung und seine Körperhaltung wirkten zu steif und förmlich für einen entspannten Sommerabend an der französischen Riviera. Der Mann war zweifellos im Dienst.
»Allô?«, sagte er. Sein Französisch hatte einen ausländischen Akzent.
»Bin ich verbunden mit der VOR S. A.?«, fragte Jonathan, ebenfalls auf Französisch. »Ich möchte mit Serge Simenon sprechen.«
Jonathan hatte die VOR S. A. zusammen mit dem Namen des Direktors in einem Onlineregister großer Unternehmen in der Euregio Alpen-Mittelmeer gefunden. Dort hatte er auch erfahren, dass die Gesellschaft vor zehn Jahren mit einem vergleichsweise bescheidenen Startkapital von hunderttausend Euro gegründet worden war und Büros in Paris und Berlin unterhielt. Heute war VOR S. A. ein internationales Handelsunternehmen. Eine angemessene, neutrale Umschreibung für Spionage, fand Jonathan.
»Mit wem spreche ich, bitte?«
»Mein Name ist Jonathan Ransom. Monsieur Simenon kennt mich.«
»Bleiben Sie bitte einen Moment am Apparat.« Jonathan beobachtete durch den Feldstecher, wie der Mann den Anruf zurückstellte und eine Nummer wählte. Er wechselte ein paar Sätze mit einem unsichtbaren Gesprächspartner und meldete sich dann wieder auf Jonathans Handy. »Monsieur Simenon sagt, er kennt Sie nicht.«
»Richten Sie ihm aus, dass ich gerade aus Rom komme und weiß, dass er derjenige war, der Emma Ransoms Krankenhausrechnung bezahlt hat.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
»Und sagen Sie ihm auch, dass ich genau weiß, was Emma Ransom vorhat«, fügte Jonathan mit einer gewissen Verwegenheit hinzu, wie jemand, der seinen letzten Trumpf ausspielt.
Er hörte ein Klicken, als der Mann seinen Anruf erneut zurückstellte. Durch das Fernglas sah er, wie der Mann aufgeregt ins Telefon sprach. Seine Körperhaltung war deutlich angespannter als noch vor einer Minute. Schließlich drang die Stimme des Mannes wieder an Jonathans Ohr: »Darf ich fragen, wo Sie sind, Dr. Ransom?«
»Ich halte mich derzeit in Monaco auf. Sie können mich in fünfzehn Minuten im Café de Paris am Place du Casino treffen. Ich warte an einem Tisch vor dem Café auf Sie. Ich trage Jeans und ein blaues T-Shirt, okay?«
»Ja. Aber wir brauchen keine Beschreibung von Ihnen. Wir wissen, wer Sie sind.«
»Einen Moment noch«, sagte Jonathan. »Wie heißen Sie?«
»Alex.«
Die Verbindung brach ab. Jonathan beobachtete, wie der blasse, dunkelhaarige Mann mit Namen Alex sein Gespräch mit Simenon fortsetzte. Die Unterhaltung dauerte nicht lange, war aber selbst aus der Ferne betrachtet aufschlussreich. Alex nickte immer wieder, während er offensichtlich Anweisungen entgegennahm. Er beendete das Gespräch und steckte das Handy ein.
Mit versteinerter Miene beobachtete Jonathan, wie Alex eine Pistole aus seinem Jackett zog, das Magazin überprüfte und die Waffe wieder im Jackett verschwinden ließ. Dann bückte er sich, um die Katze zu streicheln. Schließlich richtete er sich auf und verschwand im Haus.
Eine Minute später öffnete sich ungefähr fünfzig Meter vom Haus entfernt ein Garagentor, das halb hinter den Felsen und Büschen versteckt lag. Ein weißes Peugeot-Coupe fuhr aus der Garage und jagte mit aufheulendem Motor den Berg hinunter.
Nachdem der Wagen außer Sichtweite war, verharrte Jonathan noch zwei Minuten in seinem Versteck hinter den Felsen. In der festen Überzeugung, dass »Alex« es auf keinen Fall riskieren würde, die Verabredung mit ihm zu verpassen, stieg er dann den Berghang wieder hinauf und verstaute den Rucksack in der Satteltasche des Motorrads, schwang sich auf die Maschine und fuhr die kurvenreiche Straße hinunter bis zur Villa. Er parkte das Motorrad hinter einer Kurve ein Stück weiter die Straße hinauf. In den Fels gehauene Steinstufen führten hinunter bis zum Eingang der Villa. Jonathan ignorierte die Stufen und joggte ein Stück weiter, bis er die Felswand an der Rückseite des Hauses erreicht hatte. Dort kletterte er an den Felsvorsprüngen den Abhang hinunter bis zur Terrasse. Seit seinem Telefonat mit »Alex« waren gerade mal fünf Minuten vergangen.
Durch die nicht abgeschlossene Terrassentür gelangte Jonathan mühelos in die Villa. Das ausgeklügelte Alarmsystem mit den im ganzen Haus verteilten Bewegungsmeldern fiel ihm nicht auf. Der lautlose Alarm, der bei seinem Eindringen ausgelöst wurde, alarmierte jedoch nicht die französische Polizei, sondern übermittelte lediglich eine Nachricht auf Alex' Handy und an einen mehr als tausend Kilometer entfernten Ort.
Von der anderen Seite des Berges aus hatte die Villa deutlich kleiner gewirkt, als sie tatsächlich war. Auf den ersten Blick wirkte die Einrichtung nüchtern. Die Räume waren sparsam und zweckmäßig möbliert. Das auffälligste Möbelstück im Wohnzimmer war eine teure Stereoanlage. Außerdem gab es einen Flachbildschirm, einen Ledersessel und ein gerahmtes Plakat von der Fußball-WM 2010. Die Küche war makellos sauber und wirkte unbenutzt.
Jonathan ging von Zimmer zu Zimmer und zog überall die Schubladen heraus, warf einen Blick in die Regale und öffnete die Schränke. Am Ende des Flurs entdeckte er eine verschlossene Tür. Er trat einen Schritt zurück und verpasste der Tür direkt unter der Klinke einen kräftigen Fußtritt. Nichts tat sich. Jonathan ging in die Küche zurück und durchwühlte die Schubladen nach einem brauchbaren Werkzeug, mit dem er das Türschloss knacken konnte. Er entschied sich für einen Fleischklopfer aus blitzendem Edelstahl. Zurück an der verschlossenen Tür hämmerte er mit kräftigen, gezielten Schlägen auf das Türschloss ein. Der Türgriff verbog sich und brach schließlich ab. Der Türsturz zersplitterte, und die Tür sprang auf.
Dahinter befand sich ein schlicht gehaltenes Arbeitszimmer. An einer Wand standen metallene Aktenschränke. Auf dem Schreibtisch lag ein Atlas von Europa, und auf einem kleinen Beistelltisch stand ein Kurzwellenempfänger. Nur der moderne PC auf dem Schreibtisch ließ erkennen, dass sie sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befanden. Auf dem aufgeklappten Laptop schwebte der blaue Planet Erde im schwarzen All.
Jonathan setzte sich an den Schreibtisch und drückte eine Taste. Das Bild der Erde verschwand, und zahlreiche Symbole erschienen auf dem Bildschirm. Jonathan sah sofort, dass die Buchstaben unter den Symbolen nicht aus dem lateinischen, sondern aus dem kyrillischen Alphabet stammten. Alex kam also nicht aus Ungarn oder Polen. Er war Russe.
Für Jonathan waren die Symbole zum größten Teil unverständlich. Er sprach nur so viel Russisch, dass er sich als Tourist im Land gerade so durchschlagen konnte. Seine Russischkenntnisse hatte er während der amerikanischen Invasion im Winter 2003 in einem sechswöchigen Kurs in Kabul, Afghanistan, erworben. Weil viele der afghanischen Ärzte während der russischen Besetzung vor fünfundzwanzig Jahren Russisch gelernt hatten, konnte Jonathan damals zwischen Russisch oder Paschto wählen. Er hatte sich für Russisch entschieden.
Jonathan klickte mit der Maus auf das zentrale Eingabefeld, mit dem der Inhalt der Festplatte mit Hilfe gespeicherter Schlüsselwörter durchsucht werden konnte, und tippte »Lara«, »Emma« und »Ransom« ein.
Auf dem Bildschirm erschien eine Auflistung der Dateien, in denen eines oder mehrere der Schlüsselwörter auftauchten. Die meisten Dateien trugen seltsame Namen wie »Report 15« oder »Kommunikation-12/Februar«, sodass Jonathan nichts damit anfangen konnte. Die fünfte Datei jedoch trug den in Großbuchstaben ausgeschriebenen Namen »Larissa Alexandrowna Antonowa«.
Jonathan klickte zweimal auf die Datei.
Auf dem Bildschirm erschien die eingescannte Kopie eines Personalberichts. Ganz oben stand der Name Larissa Alexandrowna Antonowa, darunter »geb. 2. August 1976«. In der rechten oberen Ecke war ein Schwarzweißfoto. Das Foto zeigte eine junge Frau von ungefähr achtzehn Jahren mit ebenmäßiger Haut und trotzigem Blick, mit dem sie den Fotografen zu warnen schien, sich ja nicht mit ihr anzulegen. Die Haare der jungen Frau waren zu einem Knoten zusammengebunden, und der Kragen ihrer Militäruniform lag eng um ihren Hals.
Die Frau auf dem Foto war Emma.
Jonathan empfand bei ihrem Anblick nicht die kleinste Gefühlsregung, und das erschien ihm schlimmer als die bitterste Enttäuschung. Auf dem Bericht war eine Art Firmenemblem zu sehen. Die Buchstaben kamen Jonathan irgendwie bekannt vor. Trotzdem brauchte er einige Zeit, bis er sie entschlüsselt hatte:
FSB. Der russische Inlandsgeheimdienst.
Jonathan überflog den Bericht und vertiefte sich in den schwer verständlichen Text. Viele Worte kannte er nicht, aber die wenigen, die er verstand, reichten ihm vollkommen aus. Während er las, schlug die Uhr Viertel nach neun. Jonathan las immer noch, als der Peugeot in die in den Fels gehauene Garage einbog und schwere Schritte auf der Verbindungstreppe zwischen Garage und Wohnbereich zu hören waren. Jonathan bemerkte nichts von alledem. Er war blind und taub für die Welt um sich herum, war voll und ganz in die entsetzliche Wahrheit abgetaucht. Für ihn zählte nur noch die Vergangenheit.
Seite für Seite arbeitete Jonathan sich durch den Bericht. Vor seinen Augen entwirrte sich das Knäuel aus Lügen, Tarnungen und Täuschungsmanövern seiner Frau. Immer tiefer drang er in Emmas geheime Vergangenheit ein, die bis zu einem gewissen Punkt auch seine eigene war. Allein die Flut an Informationen überwältigte ihn, erstickte ihn beinahe: Daten, Orte und Namen. Schulen, Direktoren und Klassen. Prüfungen, Zeugnisse und Empfehlungen. Und danach der Wechsel von der Schule zum Militär, wo es wieder Schulen, Kurse, Abteilungen und Berichte über die körperliche Fitness und die politische Gesinnung gab. Schließlich gelangte Jonathan zum interessantesten Teil der Personalakte: Einsätze und Operationen.
In der Akte fanden sich auch Fotos.
Fotos von Emma als Schülerin, spindeldürr, einen Arm in einem Gipsverband und mit dem schlimmsten Hautausschlag im Gesicht, den Jonathan je gesehen hatte. Emma in Uniform bei ihrer Einführung. Wie alt war sie damals wohl gewesen? Fünfzehn? Sechzehn? Jedenfalls zu jung, um zum Militär zu gehen. Noch ein Bild von Emma in Uniform, dieses Mal mit Offiziersabzeichen. Ihre Gesichtshaut war inzwischen makellos, der Kopf stolz erhoben. Sie mochte um die achtzehn gewesen sein. Ihr Gesicht hatte mehr Fülle, ihr Blick mehr Selbstbewusstsein bekommen.
Dann Emma in Zivilkleidung, wie sie ein Diplom überreicht bekam. Sie schüttelte ihrem Vorgesetzten, einem gut zwanzig Jahre älteren, korpulenten, grauhaarigen Mann mit gewaltigen Tränensäcken die Hand. An der Wand hing ein Wappen, auf dem ein Schild mit einem Schwert abgebildet war, das Symbol des FSB. Unter dem Foto stand ein Datum: 1. Juni 1994.
Es gab auch Fotos von Emma, die ohne ihr Wissen aufgenommen worden waren.
Emma bei der Inspektion auf dem Exerzierplatz inmitten einer Truppe weiblicher Kadetten, das Gewehr an der Schulter.
Emma beim Shoppen mit einer Freundin in einer belebten Einkaufsstraße.
Emma in ihrer Wohnung, ein Glas Wein in der Hand.
Und noch andere, intime Fotos. Fotos, die Emma im Dienst zeigten. Kompromittierende Fotos für Erpressungsversuche. Fotos, bei deren Anblick Jonathan schlecht wurde. Auf allen stand unten in kleinen schwarzen Buchstaben »Nachtigall«.
Nachtigall. Das war auch Emmas Codename bei Division gewesen.
»Überrascht?«, fragte eine kultivierte Männerstimme.
Jonathan zuckte zusammen, fuhr auf dem Stuhl herum und sah Alex, der mit einer locker in der Hand liegenden Pistole im Türrahmen lehnte.
»Für wen hätte Sie Ihrer Meinung nach denn arbeiten sollen?«
»Keine Ahnung«, antwortete Jonathan. »Jedenfalls nicht für Sie.«
»Sie kam aus Sibirien. Da blieb ihr wohl kaum etwas anderes übrig.« Alex machte eine Geste mit der Pistole. »Stehen Sie auf und folgen Sie mir. Keine Bange. Wir haben nicht vor, Ihnen etwas anzutun. Sie waren nett zu Lara. Und wir sind Leute, die ihre Dankbarkeit zu zeigen verstehen.«
»Wenn Sie mir wirklich danken wollen, sollten Sie zuerst Ihre Pistole wegstecken.«
»Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.«
Alex tastete Jonathan ab. Als er keine Waffe bei ihm fand, gab er ihm durch eine Geste zu verstehen, dass er mit ihm den Flur hinuntergehen solle. »Möchten Sie ein Glas Wasser? Einen kleinen Imbiss?«
»Nein, danke«, sagte Jonathan. »Verraten Sie mir bitte nur eins. Was soll Emma in Ihrem Auftrag erledigen?«
»Sie meinen Lara. Ich dachte, das wüssten Sie. War das nicht der Grund, weshalb ich mich in Monaco mit Ihnen treffen sollte?« Alex wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Wohnzimmer. »Im ganzen Haus sind Bewegungsmelder. Ich war noch keine zehn Minuten weg, als ich über mein Handy alarmiert wurde.«
»Sie haben bei Emmas Entlassung aus dem Krankenhaus fünfundzwanzigtausend Euro bezahlt. Das haben Sie bestimmt nicht ohne Grund getan.«
Alex lächelte nur vielsagend.
In der Küche führte er ein kurzes Telefonat. Er sprach so schnell, dass Jonathan kein Wort verstand. Als er das Gespräch beendet hatte, war sein Gesicht wie versteinert. »Was haben Sie auf dem Computer gefunden?«
Aber Jonathan war mit einer anderen Frage beschäftigt. »Wo ist Simenon?«
»Entschuldigen Sie, Dr. Ransom, aber wir befinden uns in meinem Haus. Also bin ich derjenige, der hier die Fragen stellt. Also, was genau haben Sie gelesen?«
»Gar nichts. Ich spreche kein Russisch.«
»Was Sie nicht sagen. Verraten Sie mir dann, wie Sie sich mit den Ärzten in Kabul verständigt haben?«
Sie waren natürlich genauestens über seine Vergangenheit informiert. Emmas Überwachung hatte weit über die in Oxford aufgenommenen Fotos hinaus gereicht. »Ich habe ihre Personalakte gefunden«, gab er widerstrebend zu. »Ich habe mir die Fotos angeschaut.«
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht. Mehr musste ich nicht wissen.«
»Dann gibt es keinen Grund zur Sorge. Wollen Sie wirklich nichts essen? Probieren Sie eine Orange. Es sind Blutorangen aus Israel. Wir haben eine kleine Autofahrt vor uns.« Der Russe zog die Wagenschlüssel aus der Hosentasche. »Wir gehen jetzt gemeinsam bis zur Treppe am Ende des Flurs. Bitte nach Ihnen ...«
»Gendarmerie. Ouvrez la porte.« Dem lauten Befehl folgte ein ebenso lautes Klopfen an der Eingangstür.
Der Russe huschte an Jonathan vorbei.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, zischte er und wandte sich der Tür zu.
Wieder klopften die Polizeibeamten an, noch lauter als beim ersten Mal.
Jonathan blickte sich hastig in der Küche um und griff nach dem erstbesten Gegenstand, der massiv genug war, um eine brauchbare Waffe abzugeben. Es war eine große Obstschale aus geschliffenem Glas. Jonathan fuhr herum und schlug sie dem Russen mit aller Wucht an die Schläfe. Der Geheimagent schwankte und klammerte sich am Küchentresen fest. Mit einem Satz war Jonathan hinter ihm und versetzte ihm mit der Schale einen Schlag auf den Hinterkopf. Alex brach zusammen, zuckte ein paarmal und blieb regungslos liegen. Jonathan erkannte, dass der Mann tot war.
»Police! Ouvrez la porte! Maintenant!« Das Hämmern an der Tür wurde lauter und fordernder. Stimmen befahlen, die Tür sofort zu öffnen.
Jonathans Blick wanderte zu der Pistole. Er hatte die Pistole von Prudence Meadows in Rom gelassen und sich geschworen, nie wieder eine Waffe an sich zu nehmen. Aber diese Entscheidung war voreilig gewesen, wie Jonathan nun einsehen musste. Hastig schnappte er sich die Waffe und rannte den Flur hinunter. Die Tür zur Kellertreppe stand offen. Die Stufen verloren sich im düsteren Kellergewölbe. Nachdem Jonathan ein paar Stufen hinuntergestiegen war, blieb er stehen und warf einen Blick über die Schulter. Er konnte die halbgeöffnete Tür des Arbeitszimmers sehen, in dem der Computer stand.
»Police! Ouvrez!«
Jonathan zögerte noch einen Augenblick; dann setzte er sich in Bewegung.