44.

 

Sir Anthony Allam saß allein in seinem Büro und lauschte dem Ticken seiner antiken, goldverzierten Asprey-Bronzeuhr. Die Uhr hatte seinem Vater gehört, der sie von seinem Vater bekommen hatte; die Reihe setzte sich fort bis ins Jahr 1835. Damals hatte Sir Robert Peel, der die Londoner Metropolitan Police grundlegend modernisiert und den Beamten den Spitznamen »Bobbies« eingebracht hatte, die Uhr in einer feierlichen Zeremonie zum 50. Dienstjubiläum an Detective Superintendent Aloysius Allam überreicht. Heute, sechs Generationen später, hatten sich die Allams in Polizeikreisen auf beiden Seiten des Atlantiks einen Namen gemacht, und Sir Tony verfügte über die besten Kontakte, die ein Polizist sich nur wünschen konnte.

Er drückte auf einen unter dem Schreibtisch verborgenen Knopf, mit dem er seiner Sekretärin zu verstehen gab, dass er unter keinen Umständen gestört werden wollte, und drehte sich auf seinem Stuhl zum Sideboard, in dem sich ein Telefon befand, das mit den neuesten technischen Errungenschaften ausgestattet war. In Zeiten wie diesen konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. Es war durchaus möglich, dass die eigenen Leute genau wie die Gegenseite versuchten, die vertraulichen Gespräche abzuhören. Allam schlug sein Adressbuch auf und wählte eine ausländische Nummer, die ihn mit einem Anschluss in einem unscheinbaren Stadtteil von Washington, D. C., verband.

»Hallo, Tony«, meldete sich eine raue amerikanische Männerstimme.

»Guten Abend, Frank. Wie steht's denn so bei dir? Behandeln deine Mitmenschen dich gut?«

»So lala«, erwiderte Frank Connor. »Und selber? Ist es in eurem Teil der Welt nicht ein bisschen spät für einen Anruf?«

»Du hast doch nicht allen Ernstes geglaubt, du könntest unsere schöne Stadt besuchen, ohne dass ich Wind davon bekomme? Genießt du deinen Aufenthalt bei uns?«

Connor grunzte. »Das Essen ist genauso mies wie bei meinem letzten Besuch.«

»Du hast die Frau bislang genauso wenig aufspüren können wie wir, nehme ich an.«

»Von wem redest du?«

»Das weißt du ganz genau. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie euch an der Nase herumgeführt hat.«

Am anderen Ende der Leitung trat eine lange Pause ein. Schließlich gab Connor auf und seufzte. »Diese verfluchten Agenten von der Front. Einige von denen sind am Ende so neben der Spur, dass sie nur noch den Ausweg sehen, sich selbst ins Verderben zu stürzen.«

»Auf mich wirkt sie aber noch ziemlich klar bei Verstand«, sagte Allam. »Wir haben sie gefilmt, als sie die Autobombe beim Anschlag auf Igor Iwanow gezündet hat.«

»Ziemlich üble Sache«, sagte Connor ohne eine Spur von Mitgefühl in der Stimme.

»Mit der du nichts zu tun hast, nehme ich an.«

»Ich bitte dich, Tony. Du kennst mich gut genug.«

Allam hütete sich, diese Bemerkung zu kommentieren. »Hast du irgendeine Idee, für wen sie jetzt arbeitet?«

»Wenn ich das wüsste, säße ich nicht hier und würde euren labberigen Frühstücksspeck essen. Iwanow hat Unmengen von Leuten gegen sich aufgebracht. Der Mann ist ein übler Schlächter. Sie nennen ihn das Monster von Grosny. Er ist ein Kriegsverbrecher der schlimmsten Sorte. Man erzählt sich von ihm, dass er sich die Hände gerne mit dem Blut anderer schmutzig macht. Angeblich hat er den kürzlich ermordeten Journalisten eigenhändig aus dem Fenster gestoßen. Du weißt schon, diesen Burschen in St. Petersburg.«

»Das habe ich auch gehört. Iwanow ist ein echter Teufel.« Allam räusperte sich. »Es gibt da nur einen Haken - meine Leute sind überzeugt davon, dass Emma Ransom gar nicht hinter Iwanow her war. Sie haben mir gesagt, dass die Bombe eine Art Ablenkungsmanöver war, um in die Büroräume der britischen Atomorganisation einzudringen und mehrere Laptops zu stehlen, auf denen heikle Sicherheitscodes gespeichert sind. Meine Leute gehen davon aus, dass Emma Ransom in den nächsten achtundvierzig Stunden einen Anschlag auf ein Kernkraftwerk verüben wird oder irgendeinen Vorfall inszeniert.«

»In England?«

»Vielleicht. Möglicherweise auch im Ausland.«

»Wenn jemand so was durchziehen kann, dann sie. Mir scheint, du hast alle Hände voll zu tun. Ich versuche nur, eine alte Rechnung zu begleichen.«

»Heute Morgen im Krankenhaus hast du eine ziemliche Szene gemacht. Gehört Prudence Meadows auch zu den Agenten, die sich am Ende selbst in den Abgrund stürzen, oder traf das eher auf ihren Mann zu?«

»Kein Kommentar.«

»Sieh dich vor, Frank. Vergiss nicht, dass wir nur Vettern sind.«

»Ich werde mich von jetzt an nur noch von meiner besten Seite zeigen.«

»Danke«, sagte Allam aufrichtig. »Um ehrlich zu sein, rufe ich nur als Freund an. Wir haben erfahren, dass Jonathan Ransom inzwischen in Rom ist. Wahrscheinlich versucht er, seine Frau zu finden. Für mich steht fest, dass er keiner von deinen Leuten ist. Die Spuren, die Ransom hinterlässt, sind anderthalb Kilometer lang und mindestens doppelt so breit. Ich habe zwei meiner Leute nach Rom geschickt. Sie sollen die Carabinieri unterstützen und versuchen, Ransom zur Strecke zu bringen. Ich vermute, dass er mehr weiß, als er zugibt. Gibt es von deiner Seite aus noch etwas hinzuzufügen?«

Am anderen Ende trat erneut eine längere Pause ein. Allam hatte das unbestimmte Gefühl, dass Frank Connor sich unruhig auf seinem Stuhl wand. Der Gedanke versetzte ihn in Hochstimmung.

»Hast du morgen Zeit, dich mit mir zum Essen zu treffen?«, fragte Connor schließlich.

»Ich könnte meine Termine verschieben, ja.«

»Gut«, sagte Connor. »Cinnamon Club, um 13.00 Uhr. Ach ja, eine Sache noch ...«

»Und welche?«, sagte Allam. Dann lauschte er wortlos Frank Connors Ausführungen. Es gelang ihm nur mit Mühe, seinen aufsteigenden Zorn unter Kontrolle zu halten.

»Also gut«, sagte er, als Connor geendet hatte. »Wir sehen uns dann morgen um eins. Aber, Frank ... Frank? Bist du noch dran?«

Doch am anderen Ende der Leitung antwortete niemand mehr. Connor hatte aufgelegt.