61.

 

Eine ganz normale Nacht. Eine ganz normale Inventur.

Emma breitete ihr übliches Werkzeug auf dem Bett aus: Messer, Isolierband, Pfefferspray, Elektroschockpistole, zwei Paar Handschellen, Mullkompressen (eine Packung, hypoallergen), eine Sig Sauer 9 mm mit Schalldämpfer sowie zwei Magazine.

Sie trat einen Schritt zurück und begutachtete die Werkzeuge, die sie heute Nacht brauchen würde. Schon auf den ersten Blick fiel ihr auf, dass etwas fehlte. Sie durchwühlte ihre Tasche, bis ihre Finger den rechteckigen metallenen Gegenstand ertasteten, den Dietrich.

So. Alles komplett.

Emma setzte sich aufs Bett und untersuchte jedes einzelne Werkzeug, um sicherzugehen, dass alles einwandfrei funktionierte.

Sie prüfte die Schärfe des Messers.

Sie markierte den Anfang des Isolierbands, damit sie es später ohne langes Suchen benutzen konnte.

Sie entfernte das Schutzsiegel vom Pfefferspray und drückte probehalber kurz auf den Sprühknopf. Eine kleine Pfefferwolke verteilte sich im Raum. Sie schnüffelte, und sofort stiegen ihr Tränen in die Augen. Zufrieden legte sie die Dose zurück aufs Bett.

Sie stellte die Elektroschockpistole auf zehntausend Volt ein und prüfte, ob die Batterien voll waren.

Handschellen und Mullkompressen waren in tadellosem Zustand.

Emma schraubte den Schalldämpfer auf die Pistole und schob ein Magazin ein. Sie wartete, bis ihre Hand sich an das Gewicht der Waffe gewöhnt hatte, und zielte in die Zimmerecken. Dann zog sie das Magazin wieder heraus, schraubte den Schalldämpfer ab und legte die Waffe zurück aufs Bett neben den Dietrich.

Emma richtete sich auf und blickte auf ihr Gesicht im Spiegel. Eine Minute lang verharrte sie regungslos, ohne zu atmen oder zu blinzeln. Test bestanden.

Die Balkontüren standen weit offen. Eine kühle Brise wehte vom Meer herüber und strich sanft durch ihr Haar. Emma erhob sich vom Bett und trat hinaus auf den Balkon ihres Zimmers in der dritten Etage des Hotels Bel-Air in Bricquebec, Normandie, und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. In der Ferne schimmerte das Meer.

Emma ging zurück ins Zimmer und verstaute alle Werkzeuge in ihrem Arbeitsgürtel, den sie dann unter das Bett schob. Aus ihrer Handtasche zog sie eine Karte der Umgebung und schaute sich die Entfernung zwischen Bricquebec und La Reine an. Mit dem Finger fuhr sie über die Karte, bis sie fand, was sie suchte: Der Karte zufolge war die Rue Saint-Martin eine schnurgerade Landstraße im sieben Kilometer entfernten Nachbarort Brédonchel. Emma holte ihr Laptop vom Schreibtisch und setzte sich wieder auf das Bett. Sie legte die DVD ein, die sie zuvor von Pierre Bertels bekommen hatte, und suchte die Adresse von M. Jean Grégoire heraus, dem Sicherheitschef von La Reine. Bei Google Maps gab sie die Adresse »12 Rue Saint-Martin, Brédonchel, Frankreich« ein. Auf dem Bildschirm erschien ein einzeln stehendes Haus inmitten von Grünflächen. Emma zoomte an das Haus heran, so nahe es ging. Obwohl das Bild ein wenig unscharf war, konnte sie erkennen, dass es sich um ein Landhaus mit Schieferdach, zwei Schornsteinen und einem Boulehof auf der Rückseite handelte. Emma klickte auf Google Street View. Auf dem kleinen Monitor erschien ein gestochen scharfes Foto, das von der Auffahrt aufgenommen worden war.

Sie klickte wieder auf Satellitenansicht und sah, dass sich im Umkreis von zweihundert Metern keine anderen Häuser befanden. Das würde ihr die Sache sehr erleichtern, denn zweihundert Meter galten offiziell als Rufdistanz.

Emma schlüpfte in Jeans und T-Shirt. Bevor sie das Zimmer verließ, band sie sich ein Tuch um den Kopf und setzte sich eine Sportsonnenbrille auf. Auf dem Weg zur Zimmertür schnappte sie sich ihren Fotoapparat und schraubte das Teleobjektiv auf. Der Hotelbedienstete am Empfangstresen beachtete sie kaum, als sie das Hotel verließ.

 

Die Fahrt zur Rue Sainte-Martin dauerte zehn Minuten. Emma entdeckte Schilder mit historisch bedeutsamen Namen wie Bayeux und Caen, und mehr als einmal kam sie an kleinen, auffallend gepflegten Friedhöfen mit zahllosen weißen Grabsteinen vorbei, vor denen jeweils eine amerikanische Flagge ausgebreitet war. Sie wusste nichts über diese Orte oder die Schlachten, die hier stattgefunden hatten. Ihre Kenntnisse über den Zweiten Weltkrieg beschränkten sich auf Städte wie Stalingrad, Leningrad und Kaliningrad.

Straßennamen konnte sie nirgendwo entdecken. Sie verließ sich ganz auf das Navigationssystem ihres Wagens. Als sie die Kreuzung erreichte, an der sie auf die Rue Saint-Martin abbiegen musste, verlangsamte sie das Tempo auf dreißig Stundenkilometer und ließ beide Seitenfenster herunter. An der Straße stand nur ein einziges Haus. Es war das Haus, das sie von den Computerbildern her kannte. Die Eingangstür hatte einen neuen Anstrich bekommen. Abgesehen davon sah alles genau so aus wie auf den Fotos. Als Kate am Haus vorbeifuhr, machte sie mit ihrer Kamera etliche Schnappschüsse. Nach ungefähr einem Kilometer wendete sie und fuhr den gleichen Weg zurück. Sie war bestimmt nicht der erste Tourist, der sich auf den zahlreichen Straßen ohne Straßenschild verfahren hatte.

Auf dem Rückweg fuhr Kate ein wenig schneller. Als der Wagen sich erneut dem Haus näherte, sah sie, wie ein rothaariges Mädchen von einem Fahrrad sprang, es achtlos auf den Rasen fallen ließ und zur Haustür rannte. Ein blonder Junge, höchstens drei Jahre alt, lief ihr aufgeregt rufend hinterher.

Emma ging nicht vom Gas. Sie blickte starr nach vorn, obwohl ihre Kehle wie zugeschnürt war. Dass Kinder im Haus waren, hatte sie nicht gewusst. Doch eine Stimme in ihrem Kopf hämmerte ihr gnadenlos ein, wer sie war und weshalb sie nicht von ihren Plänen abrücken durfte. Es war die Stimme von Papi.

Zwei weitere Personen, dachte Kate mit einer distanzierten Sachlichkeit, auf die Papi mehr als stolz gewesen wäre.

Sie würde vier Paar Handschellen brauchen.