22.

 

Auf der Intensivstation des Londoner St. Catharine's Hospital lag Igor Iwanow regungslos im Krankenbett. An seinem Arm hing eine Glukoseinfusion. Eine weitere Infusion gab im Stundentakt eine Dosis Pentobarbital in seine Vene ab, um das künstliche Koma zu verlängern, in das der Verletzte nach der OP versetzt worden war. Ein Blutdruckmesser am Arm überprüfte unablässig seinen Puls. Über spezielle Klammern an den Fingerspitzen wurde der Sauerstoffgehalt des Blutes gemessen. Die Hautpartien, die unter den Verbänden am Kopf und Gesicht hervorlugten, leuchteten in Schattierungen von Rot und Lila. Die Schnittverletzungen auf Stirn und Wange waren mit neunundneunzig Stichen genäht worden. Iwanow war schon vor dem Attentat kein attraktiver Mann gewesen. Bei seiner Entlassung aus dem Krankenhaus würde er entstellt sein - vorausgesetzt, er kam mit dem Leben davon.

»Haben Sie eine Ahnung, wer dieser Mann ist?«, fragte die Schwester, eine Brünette mit sanfter Stimme, die Anna hieß.

Dr. Andrew Howe, leitender Arzt der Neurologie, notierte die letzten Ergebnisse über den Zustand des Patienten in der Krankenakte. »Iwanow? Irgendein Diplomat, soweit ich weiß.«

»Er ist ein Monster.«

»Wie bitte?«, fragte Howe, entsetzt über den giftigen Tonfall der Schwester.

»Bei uns zu Hause nennen wir ihn den Schwarzen Teufel.«

Howe legte die Krankenakte beiseite und betrachtete das Namensschild am Kittel der Krankenschwester. Anna Bakarewa stand darauf.

»Woher kommen Sie?«

»Aus Grosny, Tschetschenien«, antwortete sie. »Ich bin vor vielen Jahren von dort geflohen. Als ich elf war. Aber ich erinnere mich an Iwanow. Er war Befehlshaber der Truppen, die in die Stadt eingefallen sind.«

Howe hatte früher beim Militär gearbeitet, als Chirurg bei der schottischen königlichen Garde, wo er von den Gräueltaten der russischen Armee nach ihrem Angriff auf die tschetschenische Hauptstadt Mitte der neunziger Jahre gehört hatte.

Die Krankenschwester starrte Iwanow unverwandt mit ihren großen schwarzen Augen an. »Seine Männer kamen auf der Suche nach einem Anführer der Widerstandsbewegung in unsere Straße. Als sie niemanden fanden, haben sie alle Männer aus meinem Wohnblock und sämtlichen Häusern auf die Straße gezerrt und zum Fußballstadion gebracht. Sie haben alle mitgenommen, ob alt oder jung, insgesamt siebenhundert Männer, darunter auch meinen Bruder. Er war damals zehn.« Sie hielt inne und zeigte mit dem Finger auf Iwanow. »Er hat jeden Einzelnen dieser siebenhundert Männer persönlich erschossen.«

»Das tut mir leid«, sagte Howe, der der Schwester kein Wort glaubte.

»Wird er überleben?«, fragte Anna in einem Tonfall, der für eine Frau in ihrem Beruf völlig unangemessen war.

»Es ist noch zu früh, um das sagen zu können. Abgesehen von den Schnittverletzungen und Prellungen scheint er keine ernsthaften Verletzungen davongetragen zu haben. Keine Brüche oder inneren Blutungen. Ich mache mir allerdings Sorgen um seinen Kopf. Er ist ziemlich heftig durch den Wagen geschleudert worden.«

Howe kannte sich mit Hirntraumata aus. Vor einigen Jahren hatte er an verschiedenen Orten in Basra im Süden des Irans gearbeitet. Seine Kollegen und er hatten am häufigsten Verletzungen durch selbst gebastelte Sprengkörper behandeln müssen. Während dieser Zeit war Howe mehr als zweihundert Patienten mit einem vergleichbaren Krankheitsbild wie Iwanow begegnet. So kurz nach dem erlittenen Hirntrauma konnte man noch keine Prognose über den Genesungsverlauf treffen. Einige Patienten trugen keine bleibenden Schäden davon. Andere erholten sich über Monate hinweg nicht. Wieder andere erwachten nie mehr aus dem Koma. Und meist gab es die verschiedensten Spätfolgen: Lücken im Kurzzeitgedächtnis, Verlust des Geschmacks- oder Geruchssinns oder schlimmere neurologische Störungen.

»Sein MRI war unauffällig«, sagte Howe. »Sobald sich die Schwellung zurückbildet, wissen wir mehr.«

Die tschetschenische Krankenschwester nickte. Die Informationen gefielen ihr offensichtlich gar nicht.

Howe verließ den Raum und ging auf direktem Weg zum Stationszimmer, wo er dafür Sorge trug, dass Schwester Anna Bakarewa nicht mehr für die Pflege des Patienten Igor Iwanow zuständig war. Er nahm zwar nicht an, dass sie so weit gehen würde, dem Patienten etwas anzutun, aber es war möglich, dass sie vergessen würde, ihm ein Schmerzmittel zu geben oder versehentlich ein falsches Medikament verabreichte. Ein solches Risiko wollte er unter keinen Umständen eingehen.