69.

 

In London ging die Sonne fünf Minuten früher auf, um genau 5.40 Uhr. In Zimmer 619 auf der Intensivstation des St. Catharine's Hospital stahlen sich die ersten Sonnenstrahlen durch einen Spalt in den zugezogenen Vorhängen und fielen auf eine Augenbraue des schlafenden Patienten. Es war ein Mann mit harten Gesichtszügen, zerzaustem schwarzem Haar, Adlernase und Bartstoppeln auf den eingefallenen Wangen. Selbst im Schlaf besaß er noch eine beeindruckende Präsenz. Er wirkte wie ein Raubtier, das jeden Moment erwachen, aufspringen und angreifen konnte. Jeder auf der Station kannte diesen Mann und seinen Ruf, und alle nahmen sich vor ihm in Acht.

Aber der Patient rührte sich nicht. Die Minuten dehnten sich. Das Sonnenlicht legte sich warm auf seine Augen, doch der Mann schien es gar nicht zu bemerken. Seit fast sechsundneunzig Stunden lag der russische Innenminister Igor Iwanow nun im Koma. Obwohl er keine sichtbaren Verletzungen hatte, waren die behandelnden Neurologen sich einig, dass Iwanow durch die Explosionswelle der Bombe, die etliche seiner Landsleute getötet hatte, ein schweres Trauma erlitten hatte. Mittlerweile hatte der gesundheitliche Zustand des Patienten sich normalisiert. Sein Blutdruck lag bei vorbildlichen 120 zu 70. Sein Herzschlag - 58 Pulsschläge in der Minute - war der eines Athleten. Seine Cholesterinwerte lagen unter dem Durchschnitt, sein Testosteronspiegel deutlich darüber. Die Ärzte waren überzeugt, dass der Patient es in erster Linie seiner hervorragenden körperlichen Verfassung zu verdanken hatte, dass er den schrecklichen Anschlag überlebt hatte.

Eine Schwester betrat das Zimmer und begann mit der morgendlichen Routine. Sie zog die Vorhänge auf, hob den Kopf des Patienten an, schüttelte sein Kissen auf, leerte den Urinbeutel und legte ihn sorgsam wieder an. Wie gewöhnlich ließ sie sich dabei ein wenig mehr Zeit als nötig. Obwohl sie schon seit mehr als einem Jahr in diesem Krankenhaus arbeitete, hatte sie noch nie einen so gut ausgestatteten Mann gesehen. Sie lächelte ein wenig beschämt.

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihren Arm und packte mit beängstigender Kraft zu.

»Beim nächsten Mal«, sagte Iwanow mit bemerkenswert klarer Stimme, »klopfen Sie bitte an, bevor Sie ins Zimmer kommen. Und wenn Sie das hier gerne noch einmal sehen möchten, brauchen Sie nur zu fragen.«

Die Schwester schlug erschrocken die Hand vor den Mund und rannte aus dem Zimmer.

Iwanow ließ den Kopf aufs Kissen sinken und schloss die Augen. Nach der kleinen Anstrengung hatte er Kopfschmerzen und fühlte sich schwach. Aber das war nur eine Frage der Zeit. In wenigen Stunden würde er es vor Ungeduld kaum noch im Bett aushalten können. Er beschloss, dass er bis spätestens 18.00 Uhr in einem Flugzeug nach Moskau sitzen würde.

Die Ärzte hatten sich geirrt. Was ihn am Leben gehalten und dazu bewogen hatte, wieder aus dem Koma aufzuwachen, hatte nichts mit seiner überdurchschnittlich guten körperlichen Verfassung zu tun. Es war einzig und allein die Wut gewesen.

Igor Iwanow wusste nur zu gut, wem er das hier zu verdanken hatte. Und er dürstete nach Rache.