72.
Emma trat aus dem Sicherheitsgebäude und lief auf einem eingezäunten Weg über einen weitläufigen Innenhof, bis sie das Verwaltungsgebäude erreichte. Auch hier saß im Eingangsbereich ein Sicherheitsbeamter hinter einem Schreibtisch. Emma zeigte ihm ihren Werksausweis und ging durch ein hohes Drehkreuz, das den Eingang zum Hauptreaktorkomplex abriegelte. Auf der anderen Seite des Drehkreuzes musste sie erneut durch einen Metalldetektor. Wieder wurde ihre Handtasche durchsucht; anschließend wurde sie in eine Spezialkammer zur Kontrolle auf Sprengstoffrückstände geführt. Sie spürte einen Luftstrom; ein grünes Licht leuchtete auf. Dann gab ein Sicherheitsbeamter ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie die Kammer verlassen und das nächste Drehkreuz passieren konnte. Emma durchquerte eine kleine Halle und erreichte eine Doppelglastür, die nach draußen führte. Sie zog ihre Schlüsselkarte durch die elektronische Türverriegelung, wartete auf das grüne Licht und trat durch die Türen hinaus in die strahlende Morgensonne.
Draußen hielt sie einen Moment inne, betrachtete das Verwaltungsgebäude hinter sich und den mit Stacheldraht umwickelten Sicherheitszaun, der das Kraftwerk umschloss.
Reinzukommen war die leichteste Übung.
Vor ihr erhob sich der Reaktorbau, ein gigantischer, fensterloser Betonklotz. Innen befanden sich der Reaktorkontrollraum und der Reaktordruckbehälter. Doch Emma ging nicht auf den Reaktorbau zu. Sie hatte nicht die Absicht, in den Reaktorkontrollraum einzudringen. Stattdessen zog sie ihr Handy aus der Tasche und lud sich den Plan vom Werksgelände auf das Display. Sie ging am Reaktorbau vorbei, überquerte ein weitläufiges Lagerhallengelände und steuerte auf eine riesige Halle von der Größe eines Fußballfeldes zu. Für den Weg brauchte sie fünf Minuten. Während dieser Zeit begegneten ihr nur drei oder vier Männer. Keiner von ihnen beachtete sie.
Sie zog ihre Schlüsselkarte erneut durch eine Türverriegelung und betrat die Lagerhalle. An der Decke hingen überdimensionale Lampen. In langen Reihen waren Schiffscontainer gestapelt, immer drei aufeinander. Ein Gabelstapler fuhr auf der Suche nach einer bestimmten Fracht an ihr vorbei. Ungefähr auf halber Höhe der Lagerhalle sah Emma zwei riesige Türen, die geöffnet waren. Durch diese Türen schob sich soeben langsam der vordere Teil einer Lokomotive.
Einmal im Jahr musste der Reaktor kurzzeitig abgeschaltet werden, damit die abgebrannten Brennelemente gegen neue, »heiße« Brennstäbe ausgetauscht werden konnten. In dieser Zeit wurden auch überalterte Geräte ausgewechselt und eine vier- bis sechswöchige Generalinspektion durchgeführt. Für diese Wartung mussten ungefähr hundert Container mit neuen Lieferungen unterschiedlichster Art ins Kernkraftwerk gebracht werden.
Die letzte Wartung war vor zwei Wochen durchgeführt worden.
Emma lief durch die Reihen der Container zu einer einsam gelegenen Ecke am hinteren Ende der Lagerhalle. Hier wurden keine Container aufbewahrt, sondern Metallrohre. Die Rohre mit einem Durchmesser von vierzig Zentimetern waren zu Hunderten aufeinandergestapelt. Emma ging weiter bis zur Rückwand der Halle, warf einen Blick auf das Display ihres Handys und gab ihre GPS-Daten ein. Auf dem Werksplan erschien ein roter Punkt. Emma ließ den Blick über die Rohre an der Wand schweifen, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. An einem der Rohre war an einem Ende ein grünes Klebeband befestigt. Emma zählte vier Rohre nach unten ab und blickte in das Rohr hinein.
Ihr stockte vor Schreck der Atem.
Das Rohr war leer.
Sie zog den Ärmel ihres Blazers hoch, steckte den Arm in das Rohr und tastete nach einem Päckchen mit Wachsummantelung, konnte aber nichts finden. Panik stieg in ihr auf.
Noch einmal.
Erneut zählte Emma vier Rohre ab und überprüfte sämtliche Rohre rechts und links.
Wieder nichts.
Sie kauerte sich auf den Boden und durchsuchte die Rohre in der näheren Umgebung. Doch so sehr sie auch suchte und tastete, sie konnte nichts finden. Sie fragte sich, ob jemand das Rohr abtransportiert hatte, konnte es sich aber nicht vorstellen. Schließlich war das Rohr mit dem grünen Klebeband ja auch noch da, und ...
Abrupt hielt sie inne. Wenn es nicht das vierte Rohr unter der gekennzeichneten Rohrleitung war, musste es das vierte Rohr darüber sein. Emma stellte sich auf die Zehenspitzen, zählte vier Rohre über der Markierung ab und schob die Hand hinein.
Ihre Finger ertasteten nichts außer kaltem Metall. Wieder das falsche Rohr. Aber das Päckchen musste hier irgendwo sein! Papi hatte es gesagt, und sein Wort reichte Emma vollkommen. Sie stellte den Fuß auf eins der unteren Rohre, reckte sich so hoch sie konnte und steckte den Arm noch tiefer in das Rohr. Ihre Finger berührten etwas Festes, Glattes. Sie packte zu und zog das Päckchen langsam zu sich heran, bis es herausrutschte und in ihren Armen landete.
Emma drehte sich um. Der Gang hinter ihr war leer. Sie schwitzte, obwohl die Suche körperlich gar nicht anstrengend gewesen war. Dann holte sie tief Luft und wickelte das Päckchen behutsam aus. In einer Schachtel lagen zwei vorbereitete Bomben. Beide waren fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter groß, acht Zentimeter dick, mit glänzendem schwarzem Isolierband umwickelt und mit LED-Anzeigern mit Tastenfeldern versehen, um die Uhrzeit und den Zeitpunkt der Detonation einzustellen. Emma stellte den ersten Anzeiger auf dreißig Minuten ein, den zweiten auf sechs Minuten. Danach schob sie beide Bomben ungefähr auf Augenhöhe in eines der Rohre. Anschließend holte sie ihr Handy hervor, prägte sich die Lage der einzelnen Gebäude ein und ging in Gedanken wiederholt ihre Route ab.
»Was tun Sie denn hier?«
Emma zuckte zusammen und fuhr herum. Drei Schritte hinter ihr stand der stellvertretende Sicherheitsschef des Kraftwerks, Alain Royale. Emma blickte ihm prüfend ins Gesicht, konnte aber nicht erkennen, ob der Mann gesehen hatte, wie sie die Zünder eingestellt hatte. Geistesgegenwärtig zog Emma eine der Bomben aus dem Rohr und sagte: »Ich bin froh, Sie zu sehen, Monsieur Royale. Können Sie mir verraten, wie das Ding hierhergekommen ist?«
Royale trat einen Schritt näher. »Eine Durchsuchung der Lagerhalle ist in der Inspektion doch gar nicht vorgesehen«, sagte er.
»Normalerweise nicht, aber heute mache ich eine Ausnahme. Haben Sie das Rohr mit dem grünen Klebeband markiert?«
»Natürlich nicht.«
»Das dachte ich mir. Wie es aussieht, haben Sie ein Problem mit Schmugglern. Vermutlich geht es um Drogen.« Emma hielt ihm die Bombe entgegen. »Sehen Sie selbst. Oder können Sie mir verraten, was das ist?«
Royale nahm die Bombe in beide Hände.
»Nun?«, fuhr Emma fort. »Was soll das sein? Ich habe noch nie so etwas wie dieses Ding gesehen.«
Royale sah die LED-Anzeige und wurde blass. »Oh Scheiße, das ist eine verdammte Bombe!«
Der Sicherheitschef hob den Blick. In diesem Moment traf Emmas Hand ihn am Unterkiefer. Sie legte ihr ganzes Körpergewicht in den Schlag, sodass Royales Wangenknochen unter der Wucht brach. Bewusstlos stürzte er zu Boden.
In diesem Augenblick meldete sich eine knackende Stimme auf Royales Walkie-Talkie. »Monsieur Royale, wir haben einen Notruf von der Nationalpolizei. Melden Sie sich schnellstmöglich bei mir. Es geht um einen Notfall Code 9.«
Sekunden später gellte Sirenengeheul durch die Lagerhalle. An den Türen leuchtete alle zwei Sekunden eine rote Warnlampe auf.
Emma kümmerte sich nicht um den Alarm. Sie ging neben Royale in die Hocke und nahm seine Schlüsselkarte vom Schlüsselbund. Dann steckte sie die Bomben in ihre Handtasche und rannte zum nächsten Ausgang.