Zwischenspiel

 
Basie hatte den Kamin angeheizt und die dicken, dunklen Ledersessel in einer weiten Runde aufgestellt.
Der Chef saß links, Kim neben ihm. Leicht seitlich versetzt der Sekretär von Kim, der keinen Namen zu haben schien.
Basie hatte festgestellt, dass der Sekretär eine Neunmillimeter-Glock in einem Achselhalfter an der rechten Körperseite trug. Er war also Linkshänder.
Basie hatte etwas hysterisch versucht, den Chef davon zu überzeugen, dass der Mann bei einer einfachen Geschäftsbesprechung keine Waffe tragen dürfe. Der Chef hatte nur gelacht und gesagt, es sei gleichgültig, ob der Mann eine Waffe trage. Die Waffe sei dessen Problem. »Das Selbstwertgefühl der Nordkoreaner ist einfach beschissen«, hatte er gemeint.
Kim trank gerade seinen dritten doppelstöckigen Wodka, der Chef hielt sich wie immer an Wasser, der Sekretär trank spärlich von seinem Coke. Sogar während des Trinkens behielt er immer den Raum im Auge. Das wirkte lächerlich. Aber immerhin gab es keine spürbare Anspannung.
»Mister Kim«, sagte der Chef seelenruhig. »Sie haben ein Problem. Sie haben eine Menge Rohopium, aber niemanden, der Ihnen das Zeug abnimmt. Und Sie wollen, dass für Sie das Geschäft im eigenen Hafen beendet ist. Sie wollen also mein Geld haben, bevor mein Schiff aus Ihrer Drei-Meilen-Zone ist. Sehe ich das so richtig?«
Kim nickte. Er war ein kleiner, nichts sagender Mensch in einem dunklen Anzug, hielt aber zu Hause einen Ministersessel besetzt, allerdings ohne klare Zuständigkeit.
»Und Sie wollen zwanzig Millionen US-Dollar auf die Hand?«, fragte der Chef im Ton eines Menschen, der die Forderung für unanständig hielt.
»Ja«, sagte Kim. »Vier Millionen US-Dollar in bar. Sofort. Und sechzehn Millionen US-Dollar auf eine bestimmte Bank in Singapur.«
Das hättest du jetzt besser nicht gesagt, dachte Basie. Die vier Millionen sind allein für dich, das sieht ein Blinder mit Krückstock.
»Mister Kim. Die Schwierigkeit besteht für mich nicht in vier Millionen US-Dollar in bar. Die Schwierigkeit besteht für mich darin, dass ich mindestens drei Schiffe brauche, weil ich auf hoher See mindestens zweimal umladen muss, um allzu neugierige Leute davon abzuhalten, das Schiff zu kapern. Und machen wir uns nichts vor: Es ist allgemein bekannt und durch Satelliten bewiesen, dass Sie Mohn anbauen lassen, obwohl alle Welt weiß, dass Ihre eigene Bevölkerung hungert. Nun fragt sich diese interessierte Welt, wohin Sie Ihr Rohopium schaffen. Das heißt für mich: Ich muss sehr vorsichtig operieren. Es kommt hinzu, dass die Staatengemeinschaft Nordkorea und seine Aufrüstungsbestrebungen nicht gerade liebt. Sie können ganz sicher sein, Mister Kim, dass die Amerikaner ständig vom Himmel herab auf Ihr Land schauen. Mein Risiko ist also gewaltig. Sagen wir also die vier Millionen plus zwölf nach Singapur.«
»Das sind vier Millionen zu wenig«, sagte Kim. Er sprach ein grauenhaftes Englisch, war aber immerhin verständlich.
»Ich kann das Geschäft für zwanzig Millionen nicht machen«, stellte der Chef fest. Dann hob er leicht die Hand und deutete auf sein Wasserglas.
Basie goss nach und wusste, was er zu tun hatte.
Zwischen dem Kaminzimmer und dem Esszimmer gab es eine breite Durchreiche. Und gleich dahinter saßen wie auf einem Präsentierteller die drei Frauen, die Basie am frühen Abend aus München geholt hatte. Sie lachten miteinander, trugen unglaublich tiefe Ausschnitte und halfen nach, sie dauernd noch tiefer rutschen zu lassen.
Basie öffnete die Durchreiche, nahm zwei silberne Schalen mit Käsegebäck und trug sie zu den kleinen Tischchen zwischen den Sesseln. Dann baute er sich dicht hinter dem Sekretär auf, was dem sichtlich unangenehm war.
»Sie müssen mich verstehen, Mister Kim«, sagte der Chef. »Ich habe das durchkalkuliert. Und wir wissen beide, dass Sie außer mir keinen anderen Abnehmer haben. Ehe ich es vergesse: Ich brauche einen abgeschlossenen Vertrag mit Ihrer Regierung, damit mein Schiff zu Ihnen kommen kann. Verkaufen Sie mir eine satte Ladung Teakholz, wenn möglich. Aber vergessen Sie zwanzig Millionen. Seien Sie mit sechzehn zufrieden.«
Basie bewegte sich nach vorn an dem Sekretär vorbei auf das Feuer zu. Er legte zwei Buchenscheite nach und sah, wie Kims Blick zu der Durchreiche glitt. Und er hörte, wie die Frauen leise lachten.
»Aber vielleicht wäre es ratsam, wenn wir beide eine Weile pausieren«, sagte der Chef. »Etwas Entspannung vielleicht?«
»Zwanzig Millionen«, wiederholte Kim stur und in sich gekehrt.
»Sechzehn«, widersprach der Chef lächelnd. »Und ich kenne keinen Kaufmann auf dieser Welt, der Ihnen ein besseres Angebot macht. Wir können das gleich regeln, kein Problem. Sie können auch eine Anweisung über sechzehn Millionen direkt mitnehmen. Dann brauchen Sie das Bare nicht zu transportieren.«
Genial, dachte Basie. Jetzt kriegt Kim Angst, dass ihm das Bare durch die Lappen geht.
»Vier in bar«, sagte Kim. »Gut, ich überlege eine Weile. Geht vielleicht bei achtzehn?«
Der Chef schüttelte lächelnd den Kopf. »Das geht nur bei sechzehn. Vier in bar, zwölf nach Singapur.« Dann lachte er plötzlich und fragte: »Was machen Sie eigentlich mit so viel Geld?«
»Ich diene meinem Führer«, sagte Kim.
»Ihr Chef hat einen sehr großen Hunger, denke ich. Na gut, wir reden später weiter.« Dann klatschte er in die Hände und rief: »Die Damen, bitte. Und, Basie, bitte, Champagner. Und den Koffer.«
Basie sagte brav: »Jawohl, Sir«, und freute sich über das Geschäft. Kim würde sechzehn kriegen, nicht einen Cent mehr. Das war sicherlich nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, aber genauso wenig das letzte Geschäft mit Nordkorea.
Die drei Frauen kamen in den Raum, und es war merkwürdig, zu erleben, wie Kim ein wenig zurückzuckte, als könne er mit diesem europäischen Angebot nicht umgehen. Dann stand er auf, reichte den Frauen nacheinander die Hand und verbeugte sich sehr förmlich. Er sagte irgendetwas auf Koreanisch, was niemand verstand.
Zum ersten Mal klinkte sich der Sekretär ein. Er stand auf, stand stramm und sagte ohne eine Miene zu verziehen: »You are welcome!«
»Das sind Jill, Mai Thai und Verena«, sagte der Chef. »Sie gehören gewissermaßen zu meinem Haus.«
Basie ging zum Safe in das Büro und holte den Aluminiumkoffer mit dem Bargeld heraus. Er musste grinsen, weil der Chef schon vorher richtig kalkuliert hatte: Vier Millionen will er für sich, hatte er vorhergesagt. Dann ging Basie zurück in das Kaminzimmer und schenkte den Champagner aus.
Kim konzentrierte sich auf die südostasiatische Mai Thai, hatte sich wahrscheinlich für die zwei üppigen langbeinigen Blondinen noch nicht genug Mut angetrunken.
Der Sekretär nahm keinen Champagner.
Kim deutete auf die Tür zum Roten Salon, und Mai Thai nickte lächelnd.
Der Sekretär erhob sich, nahm einen Stuhl und stellte ihn neben die Tür zum Roten Salon. Er setzte sich.
Basie wandte sich an die zwei Blondinen. »Sie können es gemütlicher haben, meine Damen«, sagte er. »Zwei Türen weiter serviere ich etwas zu essen, und da ist auch fantastische Musik.« Er wandte sich an den vor der Tür sitzenden Sekretär. »Wollen Sie mit uns kommen und etwas essen?«
»Nein«, sagte der Sekretär, ohne sein Gesicht zu verziehen.
Aus dem Roten Salon kam lautes Gelächter. Kim war wahrscheinlich zufrieden mit sich, der Welt und Mai Thai.
»Na, kommen Sie, meine Damen.« Basie grinste und führte die anderen beiden zu einem kleinen Buffet, wo er sie alleine ließ.
Seine Welt war in Ordnung, er hatte alles im Griff. Und mit dem Chef schien auch alles in Ordnung zu sein. Seit dem Unfall mit Selma war Basie ein wenig auf der Hut. Der Chef war schon seit längerer Zeit immer fahriger geworden. Er flippte manchmal richtig aus, kriegte Wutanfälle ohne Grund. Aber jetzt saß er oben in seinem Arbeitszimmer und telefonierte mit dem Kardinal. Das machte er immer, wenn ein hervorragendes Geschäft in Aussicht stand.
In diesem Augenblick gab es in Basies Welt nur einen Menschen, den er absolut nicht mochte. Das war der Sekretär mit der Glock unter der Achsel, der wie das Schicksal persönlich die Tür zu seinem vögelnden Boss abschottete, der hinter der Tür laut lärmend und lachend seinem Vergnügen nachging, wobei die hohen, spitzen Begeisterungsschreie von Mai Thai den klanglichen Background bildeten.
Es war nach ein Uhr, als der Minister über das Haustelefon die beiden Blondinen herzlich zu sich einlud und gleichzeitig Getränke bei Basie orderte.
Basie machte also ein Tablett zurecht, forderte die beiden Damen lächelnd zum Dienst am Nächsten auf und wollte mitsamt seinem Tablett an dem Sekretär vorbei in den Roten Salon marschieren.
Der Sekretär stand blitzschnell auf, Basie rannte gegen ihn, und das Tablett stürzte mit erheblichem Krach auf den Boden.
»Da geht niemand rein«, sagte der Sekretär.
»Ich bin hier zu Hause«, sagte Basie streng. »Ihr Chef hat Getränke bestellt und diese beiden Damen eingeladen. Über das Telefon.« Hinter ihm kicherten die beiden Blondinen.
»Der Herr Minister ist nur über mich zugänglich«, stellte der Sekretär fest.
»Dann ist er ein ganz armer Mensch«, sagte Basie im Brustton der Überzeugung. »Meine Damen, wenn Sie schon einmal vorgehen wollen, ich räume hier erst mal auf.«
Er eilte zurück in die Küche, machte ein neues Tablett fertig und kehrte zum Roten Salon zurück. Der Sekretär hatte ganz schmale Augen und hätte wahrscheinlich am liebsten jede Flasche auf ihren Inhalt kontrolliert.
Basie drängte sich an ihm vorbei in den Roten Salon. »Herr Minister«, sagte er demütig, »ich bitte um Entschuldigung, aber Ihr Terrier vor der Tür steht ständig im Weg herum und verursacht Kollisionen. Hier habe ich Champagner im Angebot, Kaviarhäppchen und exquisites bayerisches Weißbier.«
Der Minister war bis auf einen winzigen schwarzen Slip nackt, Mai Thai war gänzlich textillos, die beiden Blondinen hatten begonnen, den Minister zu befummeln und sich gleichzeitig aus den Kleidern zu räkeln. Es war nichts weiter als eine biedere, kleinbürgerliche Orgie, bei der die Beteiligten strikten Arbeitswillen bekundeten.
Der Minister sagte: »Der Mensch vor der Tür ist äußerst lästig. Und er ist dumm, ohne es zu wissen.«
»Sie tun mir Leid, Sir«, murmelte Basie leise.
»Glauben Sie, dass Ihr Chef irgendwann weiter verhandeln will?«
»Ich nehme das an, Sir«, erwiderte Basie artig, drehte sich und bat im Hinausgehen: »Melden Sie sich, wenn etwas fehlt, Sir.«
Basie ging an dem Sekretär vorbei in die Küche und legte neuen Champagner auf Eis. Dann rief der Chef über die Hausleitung an.
»Ich hätte gern eine kleine Flasche Champagner. Und vielleicht ein paar Häppchen Schweinsmedaillons.«
»Kommt sofort, Sir.«
»Was macht der Koreaner?«
»Er genießt das Leben. Jetzt hat er die Blondinen geholt. Ich nehme an, er ist jetzt locker. Aus der Whiskyflasche fehlen zwei Drittel.«
Basie machte ein Tablett für den Chef zurecht und trug es hoch in den ersten Stock in das Arbeitszimmer.
Der Chef telefonierte mal wieder. Die Stimme aus dem Lautsprecher kam sanft, aber energisch.
»Ich denke, wir nehmen dreizehn Uhr.«
»Einverstanden«, sagte der Chef und ging wie üblich auf und ab. »Und lasst es krachen.«
»Natürlich«, sagte die Stimme. »Ende.«
Basie kannte die Stimme nicht. Er stellte den Imbiss für den Chef auf ein kleines Tischchen und verließ den Raum wieder. Er ging hinunter in das Erdgeschoss, sah den Sekretär bewegungslos vor der Tür zum Roten Salon sitzen.
»Ich hätte gern ein Wasser«, sagte der Sekretär.
»Gern, Sir.« Basie nickte und brachte dem Mann ein Glas Mineralwasser.
»Möchten Sie etwas essen? Vielleicht etwas deutsche Wurst, deutschen Schinken? Sehr zu empfehlen.«
»Ich bin nicht hier, um zu essen«, erwiderte der Mann abweisend.
»Da haben Sie Recht«, murmelte Basie großzügig. »Ich wollte auch nur freundlich sein.«
Nein, er mochte diese Type nicht, ganz und gar nicht.
Großes Gelächter hinter der Tür, eine der Frauen quietschte ganz schrill, der Minister sagte irgendetwas, und alle grölten lachend.
»Im Gegensatz zu Ihnen ist Ihr Chef richtig gut drauf. Seien Sie doch locker, Mann. Niemand tut Ihnen was, niemand hat etwas gegen Sie. Und wir alle verehren Ihren großen Führer!«
Es war so offensichtlich Spott und Häme, dass ein Ruck durch den Mann ging, er plötzlich seine Waffe in der Hand hatte und aufrecht stand.
»Seien Sie vorsichtig«, sagte er nur. Dann setzte er sich wieder und verstaute die Waffe im Achselhalfter.
Tatsächlich war Basie beeindruckt von der Schnelligkeit des Mannes, er hatte abwehrend beide Hände erhoben.
In diesem Moment schrie eine der jungen Frauen hoch und schrill, dann folgte ein dumpfer Aufprall und ein lautes Klatschen.
Der Sekretär zog die Waffe, riss die Tür auf und stürmte in den Salon. Er fuchtelte mit der Waffe herum, beschrieb mit ihr einen Halbkreis wie in einem schlechten Krimi und brüllte irgendetwas auf Koreanisch.
Passiert war im Grunde gar nichts. Mai Thai war im Eifer eines körperlichen Gefechtes von der Lehne des Sofas gestürzt, lag wie ein sterbender Schwan auf dem roten Marmor des Raumes und schrie vor Lachen, während sie mit der nackten Hand klatschend auf den Marmorboden schlug.
Der Minister sah seinen Aufpasser empört an und rief etwas, was niemand verstand.
Der Sekretär maulte zurück, und es klang drohend.
Der Minister war empört, hatte einen roten Kopf und sagte etwas mit ätzender Schärfe. Dabei fummelte er in seiner Kleidung herum, die auf der Lehne eines Sessels hing.
Das dauerte nur zwei oder drei Sekunden.
Der Minister hatte offensichtlich endlich gefunden, was er suchte. Er stand auf und ging nackt direkt auf den Sekretär zu. Dann hob er die rechte Hand, und Basie sah die Waffe. Der Minister schoss, der Sekretär fiel wie ein gefällter Baum, die Frauen kreischten, Basie flüsterte: »Du lieber Gott!«
Der Minister sagte in seinem grauenhaften Englisch erleichtert und zufrieden: »Das wollte ich, seit wir Korea verlassen haben.« Dann wandte er sich an die Frauen und erklärte: »Es tut mir Leid, aber er war wirklich ein Schwein.«
Basie griff nach dem Haustelefon, wählte die Nummer des Chefs und sagte stark beunruhigt: »Chef, wir haben peinlicherweise eine Leiche im Haus.«
 
 
 
 
Müller hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Er fühlte sich, als sei er in fremder Umgebung auf der Flucht. War Karen auf ihn angesetzt worden? Und wenn ja, von wem und warum?
Er fuhr in seine neue Wohnung, nachdem er seine Koffer und Kisten bei seiner Mutter eingeladen hatte.
»Ich muss arbeiten«, hatte er unwillig geantwortet, als seine Mutter ihn gefragt hatte, ob er denn nicht wenigstens einen Tag Pause machen könne.
Beinahe dankbar für die Beschäftigung schleppte er sein Gepäck in mehreren Gängen in seine kleine Wohnung hinauf, räumte alles ordentlich in Schränke und Schubladen, duschte dann eine halbe Stunde lang, stand für Minuten vor dem Telefon und überlegte, ob er Karen anrufen und fragen sollte, ob sie Teil eines bösartigen Spiels war. Aber sie würde es natürlich nicht zugeben. Wieso hatte sie gesagt, sie müsse zurück nach Frankfurt, und war dann nicht abgereist? Wieso war sie bei der Beerdigung seines Vaters erschienen?
Dann sah Müller die Waffe, die er achtlos auf das Bett geworfen hatte.
In diese Zeiten wollte er nicht zurück. Er wollte, dass seine Albträume endeten, und wusste zugleich, dass er dafür mit irgendjemandem darüber sprechen musste. Er wusste, dass er sich Hoffnung gemacht hatte, dass dieser Jemand Karen sein würde.
Er zog einen Bademantel über und legte sich auf das Bett. Er ließ das Magazin aus der Waffe gleiten und zielte spielerisch mal hierhin, mal dorthin. Nie wieder Waffen, nie wieder Tod.
Was würde jetzt im Dienst geschehen? Würde er ein Verfemter sein? Würde er in eine Botschaft am Ende der Welt versetzt, um dort nahezu beschäftigungslos in der Sonne zu sitzen? Jetzt musste er jedenfalls erst einmal abwarten. Er war ein Kind von Krauses Gnaden, und er hasste diesen Zustand.
Als Krause schellte, war es 22.14 Uhr.
Er kam schnell herein, warf seinen Trenchcoat auf den rosafarbenen Sessel und sagte: »Wir haben im Augenblick keine Zeit für Streit.« Dann nahm er den Trenchcoat erneut auf und warf ihn auf den Boden. Er setzte sich in den Sessel, schaute sich um und stellte fest: »Ein gemütliches Heim ist das gerade nicht.«
»Alles für das Vaterland«, erwiderte Müller ironisch. Dann setzte er hinzu: »Falls Sie hierher gekommen sind, weil Sie völlige Unterwerfung wollen, dann sind Sie falsch. Wenn Sie etwas zu trinken wollen, ich habe Wein, Wasser und Whisky.«
»Einen kleinen Whisky hätte ich gern.«
Müller machte zwei großzügige Whiskys zurecht.
Krause fragte: »Glauben Sie an eine schmutzige Bombe?«
»Ja.«
»Glauben Sie, dass sie hier in Berlin gezündet wird?«
»Das weiß ich nicht. Ich denke, dass die Aufgeregtheiten in Sachen Al-Kaida in der Öffentlichkeit nicht richtig dargestellt sind. Al-Kaida ist längst eine übergeordnete Marke, so etwas, auf das man sich als potenzieller Terrorist berufen kann. Das sind inzwischen junge Briten, junge Franzosen, junge Deutsche, die einfach die Schnauze voll haben von dem Gegackere, in das einheimische Politiker ausbrechen, wenn sie von Terror reden. Wir machen die Muslime in aller Welt zu lächerlichen Figuren, weil wir dem üblen Gerede der USA folgen. Es könnte auch London treffen, Paris, Rom, ich weiß es einfach nicht. Was sagen Ihre Leute?«
»Sie wissen es auch nicht. Aber bevor wir weiter überlegen, muss ich erwähnen, dass die Geschichte mit der Frau Swoboda grenzenlos leichtsinnig war.« Dann schwieg er und sah Müller aufmerksam, aber freundlich an.
»Das ist richtig«, gestand Müller.
»Das darf nicht noch einmal geschehen«, sagte Krause. »Ich habe jetzt nur zwei Optionen. Ich nehme Sie entweder vollkommen raus aus dem Fall, oder ich erteile Ihnen die Weisung, mit dem Zeitungsausschnitt zu Frau Swoboda zu gehen und herauszufinden, was hinter all dem steckt. Ich tue Letzteres, weil wir praktisch keine Zeit haben. Nach der ersten Untersuchung dieser Scheune bei Pasewalk ist den Spezialisten klar, dass die schmutzige Bombe gebaut ist. Wir befinden uns an dem Punkt, an dem wir praktisch nur noch beten können.« Er legte eine Kopie des Zeitungsausschnittes auf den kleinen Tisch und lehnte sich dann zurück. Er trank einen kleinen Schluck.
»Dann noch ein Wort zu uns beiden. Es ist so, dass ich Sie für einen der besten Leute halte. Wir beide passen in unserer Denkweise gut zueinander. Natürlich wäre es Ihnen ein Leichtes gewesen, mich kurz einzuschalten, einfach zu sagen: Ich habe da eine Frau kennen gelernt. Sie hätten diese Irritationen ausschließen können, ja ausschließen müssen. Da ich ein guter Zuhörer bin, vergesse ich nicht, dass Sie sich nicht nur von Ihrer Frau getrennt haben, sondern auch noch hinnehmen mussten, dass diese Frau fremdgegangen ist. Das muss Sie unglaublich gekränkt haben …«
»Es war viel schlimmer«, unterbrach ihn Müller. »Ich dachte, es muss mich kränken, ich dachte, ich muss beleidigt sein. Aber es ist mir scheißegal. Da tauchte der böse Verdacht auf, dass ich bindungsunfähig bin. Und das hat mir wirklich zu schaffen gemacht.«
Krause lächelte leicht und nickte. »Aber im Hinblick auf die kommenden Jahre will ich festhalten, dass Sie mich beim nächsten Mal kontaktieren, um Fehlerquellen auszuschließen.«
»Ich werde mich daran halten«, versicherte Müller. »Wie geht es zeitlich weiter?«
»Wir arbeiten pausenlos durch. Es wäre also von Vorteil, wenn wir die Spur Karen Swoboda noch heute Nacht ausschließen oder aber einarbeiten könnten. Der Präsident ist ziemlich oft im Kanzleramt, während die Opposition herumschreit, dass er offensichtlich keine Ahnung hat.« Er lachte kurz und hart. »Dabei ist er der Einzige mit einer guten Spur. Und die so genannten Fachpolitiker geben Kommentare von sich, dass es der Sau graust. Nehmen Sie die verdammte Waffe da vom Bett. Das passt nicht zu Ihnen.«
»Dann erledige ich Frau Swoboda jetzt«, sagte Müller und fühlte sich befreit. Er war wieder aufgenommen in seinen Orden, er war wieder zu Hause.
»Und ich verschwinde«, sagte Krause. »Melden Sie sich, wenn Sie mehr wissen. Und noch etwas. Es gibt einen Mann namens Taylor bei der CIA. Er ist unangenehm, einer von der Sorte, die uns Deutschen übel nehmen, dass wir nicht mit Hurrageschrei in den Irak eingefallen sind. Engstirnig und furchtbar ungebildet. Und er ist mit einer ganzen Horde unterwegs. Dieser Taylor könnte Sie identifiziert haben, weil er vermutlich eine direkte Leitung in den Stab von Uri hat. Passen Sie also auf, und nehmen Sie keine Schokolade von fremden Onkels an.«
»Ich werde mich in Acht nehmen. Ich melde mich«, nickte Müller.
»Und sehen Sie zu, dass Sie irgendwann eine bessere Behausung bekommen. Das ist ja die reine Tristesse.«
»Das war Ihr Arrangement«, grinste Müller.
Krause hatte die Tür noch nicht hinter sich zugezogen, da rief Müller Karen an.
Sie meldete sich verschlafen und sagte ohne jede Einleitung: »Erzähl mir bloß nicht, du hättest vorher keine Zeit gehabt.«
»Ich hatte keine Zeit. Jetzt habe ich Zeit. Und Hunger. Kann dein Zimmerservice da etwas ändern?«
»Das wird zu machen sein«, sagte Karen.
 
Müller fuhr beschwingt durch das nächtliche Berlin und nahm sich fest vor, Karen auf keinen Fall zu schonen. Er würde sich schrittweise an sie herantasten, notfalls alle Tricks verwenden, die er beherrschte. Falls sich herausstellte, dass sie ihn gelinkt hatte, würde er sich zum Abschluss eine miese Bemerkung einfallen lassen. Er wusste, dass er auf dem Gebiet blendend war.
Er nahm es als ein gutes Zeichen, dass er einen freien Parkplatz unmittelbar neben dem Hoteleingang erwischte.
Der Tisch mit den zwei Stühlen und den brennenden Kerzen darauf wirkte festlich. Karen trug wieder den seidenen Morgenrock, der ihr Kastanienhaar so gut zu Geltung brachte.
»Schön, dich zu sehen«, sagte er und küsste sie auf die Stirn.
Sie wollte ihn an sich ziehen und irgendetwas sagen, aber sie schwieg dann, räusperte sich und fragte: »Sind Schinkenröllchen und Spargel okay?«
»Sehr gut«, sagte Müller. Er zog das Jackett aus und ließ es einfach auf den Boden fallen. Er fragte: »Wieso bist du nicht in Frankfurt? Du wolltest doch abreisen, oder?«
»Ja, wollte ich. Aber ich habe es mir anders überlegt. Ich wollte dich noch einmal sehen.« Sie sah ihn fragend an. »War das falsch?«
»Oh nein«, sagte er und setzte sich auf den Stuhl. »Ich habe gehofft, du wärst noch hier. Warum bist du auf dem Friedhof nicht zu mir gekommen?«
Sie lächelte unsicher. »Das schien mir nicht angemessen. Da war deine Frau, dein Kind, deine Mutter. Ich wollte dir nur zeigen, dass ich bei dir bin. Du hast sehr elend ausgesehen.«
»So habe ich mich auch gefühlt. Vor allem, weil ich wenig später zu einem Einsatz musste. Das war alles sehr irreal.«
»Was für ein Einsatz?«, fragte sie.
»Na ja, dienstlich halt. Außerhalb Berlins. Ich lebe im Moment zwischen den Welten, ich weiß zuweilen nicht, was real ist. Die Beerdigung meines Vaters oder der Einsatz oder beides.« Er legte sich Schinken und Spargel auf den Teller und fragte: »Soll ich den Sekt öffnen?«
»Ja, bitte.« Sie lächelte flüchtig, sie wirkte verwirrt.
Er öffnete die Flasche und goss ein.
»Willst du auch etwas essen?«
»Nein, ich habe keinen Hunger.« Sie sah ihn an und fragte: »Warum berührst du mich nicht?«
»Weil ich verunsichert bin«, antwortete er. »Kennst du einen Mann namens Breidscheid, Helmut Breidscheid?«
Auf ihrer Stirn bildeten sich zwei Falten, ihre Augen wurden schmal, sie mühte sich um Konzentration. »Breidscheid sagst du? Warte mal …«
Er griff nach seinem Jackett, zog den Zeitungsausschnitt heraus und hielt ihn ihr hin. »Hier vielleicht eine kleine Erinnerungshilfe?«
Sie betrachtete den Ausschnitt, dann zog ein breites Lächeln in ihr Gesicht. »Ja, natürlich kenne ich Breidscheid«, sagte sie heiter. »Aber das ist Jahre her. Und so beeindruckend war er nicht, dass ich mich sofort erinnern müsste.«
»Erzähl mir von ihm«, forderte Müller.
Karen hatte plötzlich einen schmerzlichen Zug um den Mund. Sie sah ihn nicht an, sie nahm ihr Glas und trank einen Schluck.
»Du bist nicht hier, um mich zu berühren. Du bist hier, um etwas herauszufinden. Es ist ja wohl dein Beruf.«
»Ja. Erzähl mir, bitte, von Breidscheid.«
»Du wolltest von Anfang an etwas herausfinden, nicht wahr? Ich war gar nicht gemeint.« Ihr Mund war immer noch schmerzlich verzogen.
»Nein«, sagte er, »so war es nicht.«
»Wenn es nicht so war, was bedeutet denn jetzt Breidscheid? Er hat in meinem Leben nicht die geringste Rolle gespielt. Ist er ein Krimineller? Suchst du ihn?«
»Das weiß ich nicht. An was erinnerst du dich?«
»An tiefste Stuttgarter Provinz. Ich habe für diesen Maschinenbauer Hechtsheim eine Werbekampagne entwickelt und gleichzeitig eine Hochglanzbroschüre entworfen. Beides kam hervorragend an, beides wurde sehr gut bezahlt. Und darauf haben wir einen Sekt getrunken. Ich erinnere mich, dass dieser Breidscheid ein Monopol bei diesen Maschinen hatte. Er faselte dauernd etwas vom Fernostgeschäft. Ich nehme also an, er war der Generalvertreter. Ach ja, der Maschinenbauer nannte den Breidscheid immer ›mein Schiffssachverständiger‹. Was das bedeutete, weiß ich nicht, obwohl beide immer darüber gelacht haben. Das ist alles.«
»Und du hattest nie wieder mit diesem Breidscheid zu tun?«
»Nie wieder«, sagte sie. »Du kannst also hingehen und sagen: Auftrag ausgeführt, Breidscheid existiert nicht für die Swoboda.«
»Das kann ich nicht«, widersprach Müller sanft. »Mein Dilemma besteht darin, dir noch ein paar Fragen stellen zu müssen. Die erste Frage: Wie oft hast du diesen Breidscheid getroffen?«
»Einmal«, antwortete sie. »Dabei wurde das Foto für die Zeitung geschossen. Er war nicht wichtig für mich, er war einfach zufällig da.«
»Kannst du dich an Einzelheiten erinnern? Ich meine, ihr habt einen Schluck Sekt getrunken, ihr habt miteinander gesprochen.«
»Na ja, der Maschinenbauer nannte mich immer gnädige Frau und wollte garantiert mit mir ins Bett steigen. Das wollen viele.«
»Und Breidscheid wollte das nicht?«
»Der nicht, der ist ein stark gehemmter Typ. Einer, der mit Frauen überhaupt nichts anzufangen weiß. Er ist einer dieser streng konservativen Typen, die mit Frauen nicht umgehen können, weil sie es auch gar nicht wollen. Für mich wirkte er wie aus Holz. Und er schaute alle Frauen, auch mich, so an, als halte er sie grundsätzlich für lüstern und geil.«
»Kannst du dich erinnern, wie lange euer Treffen dauerte?«
»Vielleicht eine Stunde, vielleicht anderthalb.«
»Hat Breidscheid etwas von sich selbst erzählt?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Darf ich mal eine Frage stellen?«
»Aber sicher.«
»Wie weit bist du jetzt von mir entfernt?« Ihre Stimme war plötzlich metallisch.
Elende Frage, dachte er.
»Nicht sehr weit«, log er. »Dass du in der Vergangenheit einmal auf Breidscheid getroffen bist, musste mich verdammt nachdenklich machen. Das ist eigentlich alles.«
»Aber wieso …« Dann weiteten sich ihre Augen plötzlich. »Das heißt ja, dass du denkst, dass ich dich aushorchen wollte. Oder? Das heißt es doch?« Sie wurde laut.
»Ich bin nicht darauf gestoßen«, sagte er. »Es waren meine Vorgesetzten. Und ich habe das abklären müssen. Das ist eigentlich alles.«
Ihre Hände flatterten unruhig vor ihrem Körper. »Moment mal, das ist nicht alles. Ich habe nicht mit dir Karten gespielt, um dich auszuhorchen. In was für einer Welt lebst du eigentlich?«
»In einer ziemlich komplizierten«, antwortete er. »Du hast also diesen Breidscheid nur einmal getroffen? Und bei diesem einen Mal hattest du nicht viel mit ihm zu tun? Und das ist viele Jahre her. Ist das richtig so?«
»Jawohl. Ich hatte gar nichts mit ihm zu tun.«
»Und für wie viele Firmen machst du solche Hochglanzbroschüren?«
»Etwa für dreißig pro Jahr. Das schwankt.«
»Bist du notfalls bereit, diese Aussage gegenüber meinen Chefs zu wiederholen?«
»Ist das dein Ernst?« Sie hatte vor Zorn ganz schmale Augen.
»Leider ja. Wir sind eine misstrauische Behörde.«
»Diese Geschichte mit dir geht nur mich etwas an. Und ich werde darüber keinem irgendeine Auskunft geben.« Sie hatte einen harten Mund, und die Falten darum wirkten wie gemeißelt.
»Ich bin bedauernswerterweise nicht in der Lage, dir den ganzen Hintergrund zu erläutern«, sagte Müller.
»Du machst dich doch nur lächerlich.«
»Ich bin ein Geheimdienstmann«, sagte Müller. »Und ich mag meinen Beruf.«
»Dann bin ich ohnehin eine vorübergehende Erscheinung«, sagte sie schnell und bitter.
Er nahm sein Jackett vom Boden auf und zog es an. Er murmelte: »Ich habe verstanden.«
»Genau das hast du nicht«, entgegnete sie schroff.
»Aber …« Er wollte fragen, wie es weitergehen könnte, begriff dann jedoch, dass sie an ihre Grenzen gestoßen war, dass sie nicht mehr wollte.
»Okay, ich gehe«, sagte er schließlich mit zittriger Stimme. »Aber ich würde gern mit dir darüber sprechen, ob denn das so enden muss.«
»Darauf kann ich verzichten.«
»Schade. Ich hätte dir etwas mehr Verständnis zugetraut«, sagte er, drehte sich um und verließ das Zimmer. Er war wütend. Dass er traurig war, wusste er nicht.
 
Als er in das Foyer trat, sah er, dass die Bar abgedunkelt war, auch der Pianist war gegangen. In der Rezeption saßen der Nachtportier und ein junges Mädchen, das den Computer bediente. Beide hoben nicht einmal den Kopf.
Der Ausgang des Hotels lag drei Stufen über dem Niveau der Straße. Er sah die beiden Männer da stehen und ihn neugierig anblicken. Er dachte: Die haben auf mich gewartet, wenngleich der Realist in ihm sofort korrigierte: Das kann nicht sein.
Die Männer waren beide groß und massig, und der linke sagte: »Endlich treffe ich Sie persönlich.«
Der rechte sagte: »Hallo, Mister Müller, schön, Sie zu sehen.«
Sie waren beide Amerikaner, und sie wirkten misstrauisch und kalt. Müller hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie beide von der CIA waren. Also fragte er: »Wer von Ihnen ist Taylor?«
»Das bin ich«, sagte der linke. »Das neben mir ist Grissom, ein Kollege. Und wir haben einige Fragen an Sie.«
»Das glaube ich gern«, antwortete Müller kühl. »Aber ich bin nicht befugt zu antworten. Da müssen Sie sich an meine Vorgesetzten wenden.«
»Das wird nicht gehen«, kommentierte Taylor. »Wissen Sie, wir haben gar nicht so viel Zeit. Und wir wollen doch alle, dass wir die Schweine möglichst schnell fassen, oder?«
»Ich weiß nicht, von welchen Schweinen Sie sprechen«, sagte Müller.
»Na ja«, erklärte Taylor geduldig, »wir sind ein befreundeter Verein, wir ziehen schließlich am selben Strang. Und wir wüssten gern, was Sie in Damaskus getrieben haben und wieso denn Damaskus hier in Berlin plötzlich so wichtig ist.«
»Wieso Damaskus?«, fragte Müller.
»Wir wissen, dass Sie einen Mann aus Damaskus hier in Berlin suchen. Und wir wissen, dass das in Zusammenhang steht mit dem Raub des radioaktiven Materials«, sagte Grissom.
Sie waren beide Mitte vierzig, hatten kantige Gesichter und wirkten aggressiv und brutal.
»Ach, du lieber Gott«, sagte Müller. »Da wissen Sie mehr als ich. Ich bin in der Sache nicht tätig. Wahrscheinlich verwechseln Sie mich mit jemandem.«
»Ist klar, dass Sie das sagen müssen«, erwiderte Taylor. »Wir wissen es besser. Notfalls müssen wir eben Ihre Freundin fragen, die Karen Swoboda.«
Das gibt Krieg, dachte Müller. Er zog sich auf eine Linie zurück, die er vertreten konnte. »Meine Freundin, Frau Swoboda, weiß absolut nichts. Sie ist eine Freundin, ganz privat.«
»Das werden wir feststellen«, sagte Grissom mit einem ekelhaften Lächeln.
»Vielleicht reden wir mal mit Ihrer Frau darüber.«
»Falls Sie Frau Swoboda oder meine Ehefrau belästigen, wird die Sache für Sie schmerzhaft«, protestierte Müller. »Ich marschiere auch nicht in Ihre Wohnküche und belästige Ihre Gespielinnen.«
»Wir haben uns gedacht, dass Sie so reagieren«, sagte Taylor. »Das ist eigentlich schade, denn wir wollen nur ein paar Antworten.«
»Na, dann«, sagte Müller und tat so, als wolle er an ihnen vorbeigehen.
Grissom war ungeheuer schnell und baute sich wie ein Schrank vor ihm auf. Er drohte nicht eine halbe Sekunde lang, sondern schlug sofort zu. Er traf nicht punktgenau, aber immerhin erwischte er Müller an der rechten Kopfseite. Dann kam sein Knie hoch und traf Müller schmerzhaft im Bauch.
»Dass Sie nicht mit uns kooperieren, ist dumm«, sagte Taylor gemütlich. »Lass ihn, Larry, er verträgt nichts. Und jetzt fahren wir in ein hübsches Hinterzimmer und schauen mal, was Sie so alles wissen.«
»Sie sollen ein mieser Sack sein«, knurrte Müller. »Tatsächlich sind Sie einer.«
Das ist wirklich Krieg, dachte er. Und ich will es ihnen schwer machen.
Er hatte kaum Luft, einen zusammenhängenden Satz zu sagen. Kopf und Unterleib schmerzten intensiv, Müller dachte, er müsse sich übergeben, und war von einer heillosen, zerstörerischen Wut erfüllt.
Grissom stand vor ihm und war bereit, weiter zu schlagen.
»Wir nehmen ihn mit«, entschied Taylor.
Grissom sagte: »Okay«, und schlug eine Doublette gegen Müllers Kopf.
Er war augenblicklich bewusstlos. Später erinnerte er sich an seinen letzten Gedanken. Das triviale Das-darf-doch-nicht-wahr-sein.
Er wurde wach, als sie ihn durch eine Tür stießen und er nach vorn auf die Knie fiel.
»Scheiße«, sagte er heftig.
Sie bugsierten ihn zu einer Matratze, die auf dem Boden lag. Die Matratze war der einzige Einrichtungsgegenstand des Raumes, sie war blau mit irgendwelchen goldenen Blüten bedruckt, fleckig und schmutzig. Grissom stieß Müller heftig nach vorn, und er fiel darauf.
»Hör zu, Kumpel«, sagte Taylor. »Du kannst es dir einfach machen und sagen, was ist. Andernfalls könnten wir auf die Idee kommen und dir eine Spritze setzen, nach der du wie ein Wasserfall redest.«
»Ich könnte dich aber auch so schlagen, dass du die Schmerzen nicht mehr aushältst und redest«, drohte Grissom.
»So ein Scheiß!«, erwiderte Müller.
Aber er wusste, dass sie Recht hatten, und er schätzte die Szene so ein, dass Taylors Chef angeordnet hatte: Geht auf die Jagd nach diesem Mann, und lasst euch von ihm erzählen, was ist. Und wie ihr das macht, will ich gar nicht wissen.
Müller erinnerte sich an viele Gerüchte, die über die amerikanische Bruderschaft im Umlauf waren, aber auch an einige Begebenheiten, die definitiv der Wahrheit entsprachen. So waren zahlreiche Fälle bekannt, wo Agenten der CIA Verdächtige in Länder entführt hatten, in denen sie ungestört foltern konnten, etwa nach Ägypten. Es war sinnlos, zu schweigen, Müller musste ihnen etwas auftischen, irgendeine Geschichte erzählen, langsam, Stückchen für Stückchen, haarscharf an der Wahrheit entlang. Er erinnerte sich an einen Ausspruch Krauses: »Es ist eindeutig so, dass amerikanische Agenten grundsätzlich glauben, überall auf der Welt die Regeln brechen zu können. Es gibt natürlich Ausnahmen, aber die sind verdammt rar.«
Taylor, das schien sicher, war keine Ausnahme, und Grissom war schlicht brutal.
Er konnte nicht sprechen, ohne zu lispeln. Wahrscheinlich hing das damit zusammen, dass Grissom seinen linken Mundwinkel getroffen hatte.
Er sagte leise: »Okay, was wollt ihr denn wissen?«
»Wie heißt der Mann aus Damaskus, den du suchst?«, fragte Taylor schnell.
»Abu Omar«, sagte Müller. »Aber ich weiß nicht, ob das sein richtiger Name ist. Ich kenne nur diesen Namen.«
»Okay. Alter, Beruf und so weiter.«
»Ich kenne sein Alter nicht, seinen Beruf auch nicht.«
»Ist er ein Profi im Geschäft?«
»Nein, würde ich sagen. Ich habe ihn nur einmal getroffen. Ich schätze, er ist um die dreißig. Ob verheiratet, ob Kinder, weiß ich nicht.«
»Wieso kommst du auf die Idee, dass er irgendetwas mit dem Raub des radioaktiven Materials zu tun hat?«
Die Einschläge kommen immer dichter, dachte Müller.
»Weil dieser Mann angeblich gesagt hat, in Deutschland sei es am leichtesten, solches Material illegal zu bekommen.«
»Hast du ihn gefragt? Hat er das gesagt? Ist er ein Terrorist? Hat er Verbindung zu Terroristen? Zur Al-Kaida? Zu denen in Afghanistan? Zu denen, die die Sauerei in New York angerichtet haben?«
»Ich war in Damaskus«, begann Müller monoton. »Ich wollte den Typen kontaktieren. Ich hatte eine Telefonnummer, sonst nichts.«
»Von wem?«
»Von einem Vorgesetzten. Von wem der sie hatte, weiß ich nicht.«
»Also, langsam.« Taylor setzte sich auf die Fensterbank. Jetzt war er bei der Sache. »Du fliegst in Damaskus ein. Was machst du dann?«
»Taxi, Hotel«, antwortete Müller. Die Matratze roch muffig. Müller entdeckte einen großen Fleck neben sich. Der Fleck sah aus wie getrocknetes Blut.
»Kann ich mich hinsetzen?«, fragte er.
»Wieso?«, fragte Grissom aggressiv.
»Weil das hier verdammt dreckig ist«, antwortete Müller kühl. »Und ich liege ungern im Dreck, wenn du neben mir stehst und jederzeit zutreten kannst.«
»Er hat Recht«, murmelte Taylor. »Setz dich. Mit dem Rücken an die Wand.«
Müller hatte extreme Kopfschmerzen, er musste die Augen schließen. Er richtete sich in Sitzhaltung auf und schob sich dann an die Wand. Als er sich anlehnen konnte und sein Körper sich ein wenig entspannte, gingen die Schmerzen augenblicklich zurück.
Der Raum, in den sie ihn gebracht hatten, war offensichtlich ein Apartment, denn Müller sah eine Nische mit einer Kochecke und durch die offene Tür eine Holzwand, in der Garderobenhaken eingeschraubt waren. Wahrscheinlich gab es rechts davon ein Bad. Von der Decke baumelte ein Kabel ohne Lampe, durch das große Fenster war ersichtlich, dass die Wohnung in einem oberen Stockwerk liegen musste, denn er sah keine anderen Häuser, keine Türme, keine Schornsteine, nur den Himmel.
Der lichtete sich langsam und kündigte den neuen Tag an. Er sah auf seiner Uhr, dass es kurz vor halb drei war. Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Er wollte handeln.
Er sagte: »Warum habt ihr nicht einen meiner Chefs gefragt? Die hätten euch doch alles erklärt.«
Taylor antwortete: »Dein Chef mag mich nicht, und ich ihn ehrlich gestanden auch nicht.«
»Das ist ja nicht verwunderlich«, sagte Müller trocken. »Ihr benehmt euch wie Wildsäue. Es ist mit euch immer dieselbe Scheiße, ob hier oder im Irak oder in Afghanistan.«
»Lass das!«, sagte Grissom scharf. »Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt.«
Müller musste lachen, das tat weh, die Kopfschmerzen wurden stechend. »Grissom, der Herrscher über das Erdreich! Mann, seid ihr Arschlöcher. Also gut, was wollt ihr noch wissen?«
»Es kam zu einem Treffen«, sagte Taylor. »Mit diesem Abu Omar. Wo war das Treffen, wie lief das ab? Ich brauche die Inhalte.«
»Es lief in einem Lokal in der Altstadt ab. Er wartete auf mich. Wir saßen an einem Tisch auf der Straße. Er wirkte höflich und zurückhaltend, machte aber klar, dass er Geld erwartete. Er wollte zweitausend US-Dollar.«
»Hat er sie bekommen?«, fragte Grissom schnell.
Müller antwortete nicht, sondern blickte Grissom lange an, dann Taylor. Er sagte: »Kannst du, bitte, deinen blöden Terrier zurückpfeifen? Er stellt die falschen Fragen. Dumme Fragen. Er versteht die ganze Sache nicht, sie übersteigt seinen Horizont. Und immer, wenn er was nicht versteht, prügelt er los. Wir nennen das in Europa unkultiviert.«
Grissom tat genau das, was Müller bezweckt hatte. Er kam nach vorn und wollte Müller schlagen.
Aber Müller hatte blitzschnell seine Beine angezogen und stieß sie mit aller Gewalt nach vorn. Sein rechter Fuß traf Grissom im Gesicht, der linke landete ungefähr auf dem Solarplexus des Amerikaners.
Grissom atmete laut aus und lag still.
Müller sagte monoton: »Abu Omar bekam die zweitausend Dollar. Und was er erzählte, schien auf den ersten Blick logisch. Er sagte, eine bestimmte Gruppe der Al-Kaida habe sich Berlin vorgenommen und wolle hier in der Nähe an radioaktives Material kommen. Wie geschehen. Aber verrückterweise war Abu Omar am folgenden Tag nicht mehr in Damaskus, sondern tauchte in Berlin auf. Wir haben ihn am Flughafen Tegel identifiziert. Seitdem suchen wir ihn in dieser gottverdammten Stadt. Und steck um Gottes willen diese Waffe weg. Wem willst du Angst machen? Mir?«
Taylor lehnte an der verdreckten Kopfwand und hielt einen Revolver in der Hand. Er sagte: »Leute wie dich brauchen wir. Du kannst umsteigen, wenn du willst.«
»Kein Interesse«, erwiderte Müller. »Kann ich mich mal hinstellen? Mir ist schlecht von den Schlägen.« Er dachte fiebrig: Von Breidscheid wissen sie nichts. Noch nicht.
»Okay«, sagte Taylor. »Aber unternimm nichts. Ich würde schießen, mein Kleiner.«
Müller richtete sich an der Wand auf und bemühte sich, den ohnmächtigen Grissom dabei nicht zu berühren. Als er stand, drehte er sich zu Taylor und fragte: »Was willst du noch wissen?«
»Du hast ihm todsicher den Kiefer gebrochen.«
»Na ja, dann darf er ja nach Hause fliegen und sich ausruhen.« Müller trat von der Matratze auf den uralten, fleckigen Teppichboden und reckte beide Arme in die Höhe.
»Ich kann dir nicht mehr erzählen, weil ich nichts weiß. Ich suche Abu Omar. Hier in Berlin. Und wenn ich ihn habe, sage ich dir Bescheid. Ist das okay? Und lasst die Frau in Ruhe. Die weiß absolut nichts, sie kennt nicht mal meinen Beruf. Sie hat keine Ahnung, dass es einen Mann namens Abu Omar gibt.« Er ging langsam an das Fenster und starrte hinaus in den frühen Morgen. Auf den ersten Blick erkannte er drei Tankstellen unter voller Beleuchtung und zwei sich kreuzende Schnellstraßen.
Das ist Marzahn, dachte er.
Er drehte sich zu Taylor herum und grübelte: »Ich frage mich, weshalb ihr Amerikaner euch so viele Feinde in einer so unglaublich kurzen Zeit gemacht habt. Das muss mit eurem verrückten Präsidenten zu tun haben und mit seinen Scheißkriegen in Afghanistan und im Irak.«
»Wir bringen die Demokratie«, sagte Taylor matt.
Müller setzte sich langsam zum Ausgang hin in Bewegung. Er antwortete: »Das höre ich dauernd, und ich weiß, dass es falsch ist. Ihr bringt Tod und Unruhe und vor allem Hass.«
Er war jetzt auf Armlänge neben Taylor, und er brannte vor Wut.
Als er einen Schritt an dem Mann vorbei war und deutlich hörte, wie der erleichtert ausatmete, sackte er tief in die Knie, drehte sich, sprang hoch. Er erwischte Taylor mit dem linken Fuß am Kopf. Die Waffe schepperte laut gegen einen Heizkörper, Taylor sackte zusammen, versuchte aber, sich hochzustemmen.
»Du verdammtes Arschloch!«, brüllte Müller und grätschte dem Mann zwischen die Beine. Taylor war augenblicklich bewusstlos.
Müller wurde schlecht, er musste sich übergeben.
Er stand da weit vorgebeugt, kotzte und verfluchte seinen Beruf. Er hatte heftige Kopfschmerzen, und das Würgen wollte nicht aufhören.
An der Innenseite der Apartmenttür steckte ein Schlüssel. Er zog ihn ab, öffnete die Tür und schloss sie hinter sich. Dann stand er in einem beinahe dunklen, langen Flur, der wie ein Schlund vor ihm lag. Er drehte den Schlüssel herum, zog ihn ab und warf ihn durch den Briefschlitz der nächsten Wohnung.
An der Wand stand meterhoch eine schwarze Elf – elfter Stock. Müller rief den Lift und schaute dann nach dem Klingelschild an der Wohnung, in die er gebracht worden war. Da stand »Greifix-Bau GmbH & Co.«.
Noch im Lift griff er nach seinem Handy und rief die Notnummer an, auf die er zurückgreifen konnte, wenn es eng wurde.
Krause sagte etwas krächzend: »Ja, bitte!«
»Tut mir Leid, dass ich Sie aus dem Bett hole. Ich habe mit der Frau gesprochen. Nach meiner Überzeugung ist sie in unseren Fall in keiner Weise involviert. Ich werde ein Protokoll schreiben. Dann hat mich von der befreundeten Bruderschaft jenseits des großen Meeres ein Mann namens Taylor vor dem Hotel angesprochen. Bei ihm war ein zweiter Mann namens Grissom. Denen müsste mit einem Notarzt geholfen werden. Ich gebe gleich durch, in welchem Haus sie sind. Es handelt sich um den elften Stock eines Plattenbaus in Marzahn, der Mieter der Wohnung ist eine Baufirma namens Greifix.«
»Was haben Sie mit den Amerikanern gemacht?«
»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ich habe sie k. o. geschlagen. Möglicherweise Kieferbruch. Können Sie das Rote Kreuz schicken?«
Der Aufzug hielt im Erdgeschoss.
»So, jetzt habe ich die Hausnummer, achtundfünfzig. Ja, es ist Marzahn.« Er gab den Straßennamen durch.
Krause atmete tief durch und flüsterte beinahe. »Mein Gott, auch das noch.«
»Dieser Grissom hat mich mehrfach geschlagen. Und Taylor hat eine Waffe aus der Tasche gepult. Da bin ich erst richtig wütend geworden. Ich komme jetzt rein, wenn ich ein Taxi auftreiben kann. Ende.«
Im Osten schimmerte zaghaft das erste Tageslicht.
»Schlagen Sie aber nicht den Taxifahrer k. o.«, mahnte Krause.
Während er die Schnellstraße überquerte, um zu einer der Tankstellen zu kommen, rief Müller Karen an.
»Tut mir Leid, dass ich dich störe, aber du musst dringend ausziehen. Und zwar schnell.«
»Was soll denn das?«
»Es gibt Leute, die der Meinung sind, dass du etwas über den Raub des radioaktiven Materials weißt.«
»Jetzt spinnst du.«
»Nein. Zieh aus und ruf mich an, wenn du ausgezogen bist. Das ist wichtig. Ich weiß, ich bin schuld. Aber ausziehen musst du trotzdem. Es handelt sich um unangenehme Leute.« Er kletterte über eine Leitplanke und beendete die Verbindung, weil sie vollkommen haltlos zu schimpfen begann.
Dann rief er seine Frau an. Als sie sich verschlafen meldete, fragte er knapp: »Kannst du ein paar Tage mit dem Kind zu einer Freundin?«
»Warum denn das?«
»Weil möglicherweise Gefahr besteht.«
Sie fragte nicht weiter, sondern entschied knapp: »Wir sind dann bei Jennifer.«