ZWEITER TAG
 
Er wurde durch ein Geräusch geweckt, das er nicht sofort bestimmen konnte, und wie üblich war er ohne Übergang hellwach. Es war 2.15 Uhr. Er richtete sich auf. Das Geräusch wiederholte sich. Es war der sehr hohe Angstschrei einer Frau, nur wenig gedämpft, es musste aus einem Zimmer nahe dem seinen kommen.
Er ging zur Tür, öffnete sie und starrte in beide Richtungen auf den Flur. Ein drittes Mal kam der Schrei. Müller war jetzt sicher, dass er aus dem nächsten Zimmer links von ihm kam.
Dann wurde die Tür heftig aufgerissen, es gab einen Knall. Eine gelbe Lichtbahn fiel in den Flur. Kleider, Frauenkleider, ziemlich grell in Rot und Pink, flogen aus dem Zimmer. Dann schoss eine nackte Figur wie eine Kanonenkugel hinterher, und ein Mann schrie wutentbrannt: »Du miese Nutte!«
Die Frau knallte geräuschvoll an die Tür gegenüber, sackte zusammen und kauerte sich auf den Boden.
Es war plötzlich sehr still.
Müller ging zu der offenen Tür und starrte in das Zimmer.
Ein Mann stand breitbeinig etwa einen Meter von der Tür entfernt und starrte blass vor Wut aus schmalen, dunklen Augen. Er war fast eins neunzig groß.
»He«, sagte Müller auf Englisch. »Nun vertragt euch doch wieder.«
In diesem Moment begann sich die Frau hinter ihm zu bewegen, sie kroch auf allen vieren auf dem Boden herum und raffte ihre Kleider zusammen.
»Mir fehlt meine Uhr«, erklärte sie.
Sie blutete heftig aus der Nase und aus dem linken Ohr.
»Du elende Sau!«, schrie der Mann vor Müller und duckte sich ab, um unter ihm durchzutauchen und erneut auf die Frau im Flur loszugehen.
»Nicht doch!«, sagte Müller und stellte sich in den Weg.
Er zog übergangslos das rechte Knie mit aller Gewalt hoch in den Schritt des Mannes. Der versuchte zu schreien, öffnete grotesk lautlos den Mund, weil er keine Luft mehr hatte.
Dann fasste Müller ihn unter beiden Achseln, hob ihn an und schleuderte ihn mit aller Gewalt links an sich vorbei gegen die Schmalseite des Türblattes. Der Mann gab einen dumpfen Ton von sich und war augenblicklich bewusstlos.
»Holen Sie sich die Uhr«, sagte Müller ganz ruhig. »Und dann raus hier.«
Irgendwo hinter ihnen näherten sich Menschen auf dem Flur, die laut sprachen, irgendetwas riefen.
Die Frau lief an Müller vorbei in den Raum, nahm etwas vom Tisch, drehte sich um und kam zurück.
»Ins Zimmer nebenan«, sagte Müller. »Schnell.«
Er schob die Frau in sein Zimmer und schloss hinter ihnen beiden ab. Er bedeutete ihr, leise zu sein, und ging mit ihr ins Bad. Auch diese Tür schloss er.
Draußen auf dem Flur sprachen Männer miteinander, abgehackt und aufgeregt laut. Sie sprachen arabisch, und Müller konnte nicht genug verstehen. Jemand rief aufgeregt: »Doktor!« und dann: »Ambulanz!«
Es klopfte an seine Tür.
Er wartete ein paar Sekunden, ehe er öffnete.
Der Mann war etwa vierzig, trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine dunkelrote Krawatte. Auf dem Anzugsrevers prangte ein Schild »Security«.
»Es tut mir Leid, Sir. Wir haben einen Notfall im Nebenzimmer. Da liegt ein Bewusstloser. Haben Sie irgendetwas bemerkt?«
»Jemand hat geschrien«, nickte Müller. »Es hörte sich an wie eine Frau. Aber gesehen habe ich sie nicht.«
»Dann ist sie weggerannt«, stellte der Wachmann verwundert fest. »Also muss die Frau ihn zusammengeschlagen haben. So was!«
Müller zuckte die Achseln. »Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?«
»Oh nein, nein, danke. Das geht schon in Ordnung. Aber der Mann muss dringend ins Krankenhaus. Das wird leider wieder etwas Lärm geben.«
»Das stört mich nicht«, sagte Müller. »Falls ich helfen kann, klopfen Sie einfach.«
»Danke für Ihr Verständnis, Sir«, antwortete der Mann und wandte sich ab.
Müller fragte sich leicht irritiert, was Krause wohl zu all dem sagen würde, aber immerhin konnte es zu Müller-Eisenwaren passen, eine Edelnutte zu beschützen. Und es hatte entschieden gut getan, etwas Dampf abzulassen.
Er schloss die Tür seines Zimmers und drehte den Riegel zu.
Die Frau kam aus dem Bad. Sie hatte sich angezogen und das Blut abgewaschen. In voller Kriegsbemalung strahlte sie ihn an. Sie sagte bewundernd: »Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so schnell und brutal ist wie Sie.« Ihr Englisch war nahezu perfekt.
Dann beugte sie sich vor, entdeckte die Risse in ihrer Strumpfhose und begann, laut und unflätig auf Französisch zu fluchen.
»Hey«, sagte Müller ganz leise, weil er wusste, dass laute Leute nur durch leise Töne erreichbar sind. Sicherheitshalber sprach auch er jetzt französisch. »Seien Sie leise. Wir dürfen keinen Lärm machen. Gleich marschiert hier ein Trupp Sanitäter durchs Gelände, und ich bin ein ehrbarer, allein reisender Familienvater.« Dann sah er sie an und fragte flüsternd: »Was kosten Sie eigentlich, Schwester?«
»Das ist Verhandlungssache.« Sie grinste. »Ich heiße Lulu.« Vielleicht war sie fünfundzwanzig, vielleicht dreißig, und ihre Augen sagten, dass nichts auf der Welt ihr fremd war.
»Schöner Künstlername. Wer ist der Mann nebenan?«
»Irgendein reicher Trottel. Hat mich gebucht.«
»Und wieso gab es Krach?«
»Weil er was wollte, was ich niemals liefere. Das Dreckschwein. Und dann wollte er mich um mein Geld bescheißen, fing an zu schreien und schlug mich. Dann rief er beim Empfang an und sagte: Entfernen Sie diese Nutte!«
»Kommt so etwas oft vor?«
»Oh nein. Das ist ein gutes Haus hier, ich stehe im Adressbuch vom Portier. Das ist eine verdammt gute Position. Und wie komme ich jetzt hier raus?«
»Wir warten, bis sie den Mann abgeholt haben. Dann bringe ich Sie runter.«
»Wir können aber nicht durch die Halle«, sagte sie angstvoll.
»Ein Hotel ist immer offen«, bemerkte er. »Ich bin ein Spezialist für Hotelausgänge.«
»Na ja, wenn das so ist. Ist in der Minibar ein Schnaps?«
»Schauen Sie nach, und nehmen Sie sich einen. Aber nur einen.«
»Was glaubst du, wie viel ich schlucken kann, ohne dass du es merkst?«
»Ich sagte: einen. Und nicht mehr. Und wenn jemand an der Tür klopft, gehst du ins Bad, klar?«
»Und dann machst du wieder bummbumm, und alle liegen flach.« Sie lachte heiser. »Du bist vielleicht eine Type.«
Müller lächelte und sah ihr zu, wie sie laut und unbekümmert eine winzige Flasche Whisky schlürfte und sich dann brav in einen Sessel setzte.
»Tut das Ohr noch weh?«
»Nicht schlimm, aber ich höre auf dem Ding nicht mehr. Es rauscht.«
»Das geht vorbei«, sagte er. »Bist du schon lange in der Stadt?«
»Nein, zwei Jahre erst. Vorher war ich in Beirut, und Sheela, meine Freundin, sagte: In Damaskus kannst du mehr Kohle machen.«
»Und? Machst du?«
»Es ist nicht schlecht«, erklärte sie. »Aber ich kann nur noch zehn Jahre arbeiten, und dann muss alles gelaufen sein, und ich muss das Geld haben für eine Kneipe oder so.« Sie hob das Gesicht, sah offensichtlich in eine goldene Zukunft und strahlte: »Oder ich lass endlich meine eigenen Pferdchen laufen. Und auch Jungs dazu.«
»Und die Scharia?«, fragte Müller sanft.
»Die braucht auch erleichterte Männer, oder?«
Er gab ihr Zeichen, leise zu sein, denn nun hörte man wieder Männer auf dem Flur. Sie diskutierten auf Arabisch, dann quietschte es, und eine Stimme befahl: »Anheben! Drei, zwei, eins, jetzt!« Wieder quietschte es, dann rollte etwas dumpf über den Teppichboden. Die Geräusche wurden leiser und entfernten sich.
»Wir können«, meinte Müller.
Sie stiegen gemächlich und stumm im Treppenhaus hinunter, tasteten sich leise vor bis in die Tiefgarage, und selbstverständlich gab es eine offene Tür.
»Du hast eine Nummer gut«, sagte sie. »Du bist wirklich klasse.«
»Vergiss es«, meinte er. »Und ich weiß rein zufällig, dass du seine Brieftasche geklaut hast. Sei so klug, nimm das Geld heraus und schmeiß sie einfach weg.«
Sie starrte ihn an und wisperte: »Oh Mann!« Dann ging sie davon.
 
 
 
 
Müller erwachte um sechs Uhr und fühlte sich ausgeruht. Er machte einige Dehnübungen und versank dann in seiner üblichen morgendlichen Konzentration.
Einer seiner Lehrer hatte mal geäußert: »Leere morgens deine Seele, so wie die Leute früher ihre Pisspötte geleert haben.«
Müller fühlte einen vagen Ärger, weil ihm das seit Monaten nicht mehr gelang. Er schlief mit den Ärgernissen seines Lebens ein und erwachte wieder damit. Das stimmte ihn melancholisch, und eigentlich konnte er sich Melancholie nicht leisten.
Es schien unausweichlich, dass er sein Kind verlieren würde, dass eines Tages der Satz fallen würde: »Aber Anna-Maria bleibt selbstverständlich bei mir.« Und mit Sicherheit würde seine Mutter feststellen: »War das denn notwendig, Junge?« Sein Vater, auch das war sicher, würde nichts sagen, mit grauem Gesicht an seinem Schreibtisch hocken und in den Garten starren. Wenn seine Mutter ihn fragen würde: »Was hältst du denn davon?«, würde er mit mühsam unterdrückter Wut antworten: »Meine Meinung interessiert doch eh keinen.«
Vorausgesetzt, dieser Vater lebte dann noch.
Diese gottverdammten Konjunktive, dieses ewige »würde« im Leben, fluchte Müller. Und diese gottverdammte Trutzburg von Vater, diese uneinnehmbare Festung. Dieser schrecklich arrogante Peitschenhieb: »Du bist der Sohn eines Schuldirektors, du hast alle Möglichkeiten, stattdessen machst du gerade einmal Abitur und wirst dann Polizist!«
Plötzlich verspürte er den dringenden Wunsch, mit diesem Vater zu sprechen, irgendetwas zu sagen, eine Gemeinsamkeit zu beschwören.
Er rief die Klinik in Berlin an.
Er geriet an eine Krankenschwester, die muffig und atemlos äußerte: »Ach Gottchen, bei Ihrem Vater war ich noch gar nicht. Können Sie in einer Viertelstunde noch einmal anrufen?«
Und Krause? Was würde er sagen? Konzentrieren Sie sich auf das, was vor Ihnen liegt. Vergessen Sie alles andere.
Sie würden miteinander reden, und Krause würde unerbittlich auf den Punkt zusteuern, der da lautete: »Machen Sie eine Pause in der Ehe, nehmen Sie Abstand. Wir haben da ein preiswertes kleines Apartment ganz in der Nähe.«
Bei Svenja war das ganz genauso gelaufen.
Svenja. Niemand schien zu wissen, ob sie überhaupt noch lebte. Niemand sagte ein Wort. Sowinski hatte vor Wochen angedeutet, sie habe »möglicherweise Schwierigkeiten« in Nordkorea, und eigentlich hätte sie vor zwei Monaten zurückkehren müssen. Nichts war geschehen, als gäbe es sie nicht mehr. Svenja, die Frau mit dem stillen Gesicht, die einen so unglaublichen Mut besaß und die einmal erzählt hatte, sie fühle sich eigentlich überall im Feindesland, außer dort, wo Kinder spielten.
Und Melanie. Sie würde niemals kommen und sagen: »Wir trennen uns, wir lassen uns scheiden« oder irgendetwas in diesem Sinn, dachte Müller verbittert. Eine Ehe war für sie so etwas wie ein verbindlicher, lebenslang verpflichtender Sparplan. Gewiss, sie war eine begehrenswert schöne Frau, aber sie lebte damit, als sei es ihre alleinige Aufgabe, so zu erscheinen – eine Barbie auf Ewigkeit. Sie sprachen nicht mehr miteinander, sie schliefen nicht mehr miteinander, sie teilten das Leben nicht mehr.
Sofort musste Müller an Anna-Maria denken, zwischen ihnen mit ihrem sprudelnden Lachen, mit ihren kleinen Fingerfertigkeiten, wenn sie mühsam und hartnäckig eine neue Kette aus winzigen Plastikperlen reihte, wenn sie sagte: »Papi, das musst du tragen. Das ist eine Freundschaftskette.«
Er hielt inne, er konzentrierte sich auf seinen Atem, ließ ihn gleichmäßig strömen. Er sah auf die Dächer der Stadt, die rotgolden schimmerten, die schwarzen Linien dazwischen, die Straßen und Gassen waren, die hochragenden Kuppeln der Moscheen, die wie Inseln wirkten. Und über all dem der sanft rauschende Lärm der erwachenden Stadt.
Hatten sie eigentlich jemals Klartext geredet? Hatten sie gesagt, wir wollen wissen, wie es weitergeht? Hatten sie gefragt: »Wieso läuft bei uns nichts mehr?« Oh nein, sie gingen verdammt zivilisiert miteinander um. Nur einmal hatte er etwas gesagt. An einem frühen Sonntagmorgen hatte er, träge im Bett liegend, bemerkt: »Ich würde gern in eine Kirche gehen.« Sie hatte ihn sekundenlang angestarrt, als sei er ein Fremder. »Wieso Kirche? Du gehst doch nie in Gottesdienste.« – »Ich gehe häufig in Kirchen«, hatte er gesagt und gleichzeitig den heißen Strahl eines Schuldgefühls bemerkt: Sie weiß nichts davon, sie weiß nichts von mir. »Ich bin nicht scharf auf Gottesdienste, auf die Predigten, auf die ewige Wiederholung der angeblichen Forderungen und Superangebote vom lieben Jesus. Mir reichen die Kirchen, die Stille in ihnen.« Dann war eine für sie klassische Frage gefallen. »Und? Was machst du mit der Stille?« »Ich höre ihr zu und werde ruhig«, hatte er geantwortet. Er war einen Schritt weitergegangen, hatte scheinbar zusammenhanglos die Frage gestellt: »Was ist zum Beispiel mit uns? Warum schlafen wir nicht mehr miteinander? Du greifst nicht mehr nach mir.« Da war sie zusammengezuckt, hatte sich abgewendet, war im Bad verschwunden. Ende der Vorstellung.
Und er? Er war ins Kinderzimmer gegangen, auf Zehenspitzen, hatte Anna-Maria in ihrem zerwühlten Bettchen betrachtet, hatte an den deutschen Liedtext gedacht: Sie sieht so süß aus, wenn sie schläft …
Jetzt stand er auf dem kleinen Balkon vor seinem Zimmer und fragte sich, ob das heutige Treffen mit Achmed eine vollkommen neue Phase einleiten könnte. Was würde er zu erzählen haben? Eine dieser Katastrophenketten? Wir haben die Rakete der Nordkoreaner, wir können Scud-C-Raketen alleine bauen, wir kriegen iranische Hilfe, wir fegen Israel vom Erdball.
Er trat in das Zimmer zurück und legte sich auf das Bett, um an die Decke zu starren.
Er mochte sich nicht in diesem wilden, wütenden Zustand, er fühlte dann Hass in sich aufsteigen. Wie hatte Krause formuliert? »Steigen Sie aus, wenn Sie wütend sind, Wut macht Sie angreifbar. Versuchen Sie, wieder sachlich zu werden, das nächste Ziel ganz kühl anzupeilen.« Du lieber Himmel, der Mann hatte gut reden.
Er ging um acht Uhr ins Restaurant, um zu frühstücken, er aß wie immer Joghurt mit Früchten, und er hörte wie immer mit dem Essen auf, ehe er satt war. Das war der erste kleine Sieg des Tages.
 
Um Viertel vor neun stieg er mit den zwei schweren Vertreterkoffern in ein Taxi und ließ sich an den Südrand des Basars fahren, ungefähr einen Fußweg von zehn Minuten von Achmeds Geschäft entfernt.
Er fühlte sich wohl in diesem Gedränge, in dem einer auf den anderen nicht zu achten schien, ausgenommen die Diebe. Er winkte einem Jungen, der mit einem kleinen Karren auf Kunden wartete. Er sagte: »Die beiden Koffer hier!«
»Natürlich, Sir«, sagte der Junge und lud die Koffer auf den Karren. Dann pfiff er laut und falsch einen US-Schlager.
Müller ging langsam, schaute hier und da in Auslagen, prüfte ein Gewürz, besah sich eine Wurst und blieb dann länger bei einem Devotionalienhändler stehen, der Heiligenbildchen der kitschigen Sorte für Griechisch-Orthodoxe anbot, aber auch holzgerahmte Farbdrucke von zahllosen Rechtsgelehrten und Mächtigen des sunnitischen Islam.
Von diesem letzten Standpunkt aus konnte er den Laden von Achmed sehen, und Achmed sah ihn.
Dann bedeutete Müller dem Jungen, ihm weiter zu folgen, umkreiste die nächsten Verkaufsstände, kam auf der Rückseite von Achmeds Laden an, sah schließlich Achmed die schmale Straße queren und im Obstgeschäft gegenüber verschwinden.
Er sah, wie Achmed das Obstgeschäft verließ, eine Orange spielerisch hochwarf und wieder auffing.
Müller schlenderte noch ein wenig weiter und kehrte exakt zehn Minuten später zu Achmeds Laden zurück, ließ den Jungen die Koffer hineintragen und bezahlte ihn dann.
»Mein deutscher Hammer«, strahlte Achmed, was so viel hieß wie: Alles klar!
Sie umarmten sich.
»Wie geht es Nour und den Kindern?«, fragte Müller.
»Fantastisch!«, antwortete Achmed. »Sie fragen, ob du heute Abend kommst. Auf einen Wein. Vielleicht ein wenig Spaß haben.«
»Mal sehen«, sagte Müller leichthin. »Schließlich gibt es noch Konkurrenten von dir, die auch beliefert sein wollen. Mal sehen.« Jetzt die ganz unverfängliche Feststellung: »Ich kann keine Schrauben mehr sehen, können wir einen Kaffee trinken oder irgendetwas in der Art?«
»Aber ja!«
Achmed war ein schmaler Mann in Jeans und einem schneeweißen Hemd, einen Kopf kleiner als Müller. Er wirkte flatterig, was noch niemals vorgekommen war. Aber diese Nervosität, so schien es Müller, barg keine Furcht. Groteskerweise hatte Müller sekundenlang das Gefühl, dass er störte.
Achmed griff nach Müllers rechtem Ellenbogen und drehte ihn zu einem Tischchen.
Diese Griffe erlaubte er sich oft, er brauchte körperliche Berührung, und Müller hatte anfangs Schwierigkeiten damit gehabt, weil er genau das scheute.
»Da kannst du deine Sachen ausbreiten, dann gehen wir.«
Müller öffnete beide Musterkoffer und legte bedachtsam sein Angebot aus, lauter neu entwickelte Dinge: harte Bohreinsätze, Nägel aus noch unbekannten Legierungen, Hämmer aus Kunststoff mit runden und eckigen Köpfen. Ein paar hochmoderne kleine Maschinen, eine ganze Garnitur teurer, verschnörkelter Schrankbeschläge, wie die Syrer sie liebten.
»Es sind gute Sachen, weißt du. Dann habe ich noch Schrauben mit Linksgewinde und rechtsdrehenden Sicherungseinsätzen. Du musst nur aussuchen, und du hast wie immer viel Zeit dazu. Hier sind deutsche Pflaumen für dich.« Er drückte ihm die Papiertüte mit dem Geld, die er in einem der Koffer verstaut hatte, in die Hand.
Achmed sagte artig Danke, verzichtete auf jede Clownerie, packte die Papiertüte beinahe achtlos in eine Schublade, die er abschloss. Dann pfiff er grell, und ein junger Mann in einem blauen Arbeitskittel kam aus der Tiefe des Ladens herbeigelaufen.
»Pass auf die Dinge hier auf«, sagte Achmed, »sonst reißt dir mein Freund den Kopf ab.«
Jetzt war Müller-Zeit, jetzt musste Müller bestimmen, wo sie miteinander sprechen würden. Bei den normalen, routinemäßigen Treffs, bei denen wenig auszutauschen war, reichte ein ausgiebiges Schlendern durch die Gassen um den Basar und scheinbar harmloses Plaudern in einer Sprache, die sich an lange vereinbarten Codewörtern orientierte. Bei diesem Treff musste es ein kleines Lokal sein, von denen es hier viele gab und die Müller alle ganz genau kannte.
Er dachte an ein Café, in dem vorwiegend junge Leute verkehrten, in dem immer ein Fernseher lief, in dem man widerliche Brotfladen mit fettigem Hammelfleisch essen konnte und in dem jeder über vierzig auffiel. Es hieß Chez Gilbert und war angeblich die matte Erinnerung an einen verrückten Franzosen, der einmal versucht hatte, in Damaskus elegante Damen in elegante Roben zu hüllen. Immer, wenn das nicht funktioniert hatte, war Gilbert hier aufgetaucht und hatte sich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken und dazu unaufhörlich geweint.
Es bestand durchaus die Gefahr, dass Achmed auf beiden Seiten des Zauns spielte, und so fragte Müller kühl: »Irgendetwas, was ich wissen sollte? Irgendein Sender an dir, ein Mikro, irgendein faules, mistiges Stück Elektronik?«
»Ich bin clean«, antwortete Achmed grinsend.
Noch eine ganze Zeit lang, nachdem Müller Achmed angeworben hatte, hatte er ihn jedes Mal in einem Nebenraum gründlich abgeklopft. Unweigerlich hatte Achmed dabei in den höchsten Tönen gewimmert: »Gott, meine Eier!« Seit vier Treffen hatte Müller auf die Untersuchung verzichtet, hatte Achmed dadurch mehr Bedeutung gegeben, mehr Gleichheit, durchaus mehr Freundschaft.
»Lass uns gehen«, sagte er, und sie begannen, durch den Basar zu schlendern. »Was treiben deine Söhne?«
»Das meiste erfahre ich nie«, sagte Achmed. »Aber sie sind gut, gute Typen, weißt du.«
»Und wollen sie nach wie vor Medizin studieren?«
»Na ja, der Ältere schon. Der Jüngere will mehr Richtung Jura. Soll mir recht sein. Und wie geht es deiner Anna-Maria?«
»Gut, sehr gut. Sie hat mir eine Freundschaftskette mitgegeben aus roten und blauen Perlen. Ich muss sie tragen, sonst kriege ich Prügel.« Er streifte den Ärmel seines Jacketts zurück. »Melanie arbeitet weiter in der Bank, verdient gute Kohle.«
»Und die Eltern?«
»Mein Vater liegt im Krankenhaus. Schlaganfall. Das ist nicht gut, das ist beschissen. Sie können nicht sagen, ob er überlebt.«
Achmed tänzelte einen Schritt zur Seite und sah ihn an. »Du bist stinksauer auf den Vater, nicht wahr?«
»Ja, bin ich irgendwie. Wir haben über so viele Sachen nicht gesprochen. Es passiert plötzlich, weißt du, und du denkst, das kann er doch nicht bringen, nicht jetzt und von heute auf morgen. Aber so läuft das.« Er dachte zufrieden: Achmed ist hochkonzentriert, er riecht so was, Achmeds Einfühlungsvermögen ist grandios.
Sie schlenderten am Chez Gilbert vorbei, und Müller sah aus den Augenwinkeln, dass der Tisch, an den er gedacht hatte, frei war. Es war ein Tisch für zwei Personen unmittelbar an der schaufenstergroßen Scheibe zur Straße hin. Das war gut.
Dann entdeckte er an der Scheibe ein schwarzes, kreisförmiges Gerät, nicht größer als fünf Zentimeter im Durchmesser. Ein dünner Draht führte hinaus, lief unten an der Scheibe entlang und verschwand im Raum. Einbruchsicherung, dachte er automatisch, zu riskant. Kann auch etwas anderes sein. Also nicht hier.
Sie schlenderten weiter, hatten nicht mehr als zehn Schritte gemacht, als Achmed mit einem heiteren Unterton bemerkte: »Die neue Einbruchsicherung stört dich, nicht wahr?«
»Natürlich.« Müller nickte. »Komm, gehen wir zu Atta und essen einen Salat oder so was.« Achmed war tatsächlich ein idealer Spion.
Das Atta war nur hundert Meter weiter, und sie fanden einen kleinen Tisch an der Hauswand im Schatten, weit genug von anderen Tischen entfernt, sodass sie gedämpft reden konnten.
Sie setzten sich, ein junger Mann erschien und fragte nach ihren Wünschen. Sie bestellten Wasser und Tee und einen scharfen Salat mit einer Pfefferwurst und warteten, bis alles auf ihrem Tisch stand.
»Wie geht es Onkel Hussein?«, fragte Müller.
»An sich sehr gut, denke ich. Ich habe ihn vor drei Tagen getroffen. Aber er ist sehr aufgeregt, er kann keine Sekunde still sitzen. Und er redet über Sachen, über die er normalerweise niemals redet.« Dann starrte er unvermittelt in eine Ferne, von der Müller nichts wusste.
»Heißt das, die Amerikaner, mit denen er zusammenarbeitet, haben etwas gefunden?«
Ein ruckhaftes Bewegen des Kopfes, wieder auf der Erde. Achmeds Lächeln war geradezu strahlend. »Sie haben etwas gefunden.«
»Reden wir von Erdöl?«
»Aber ja!«, strahlte Achmed. Im gleichen Moment erlosch dann der Glanz in seinen Augen, sein Gesicht wurde wieder starr. Aber diesmal stand eine unruhige Frage darin.
»Das freut mich aber«, sagte Müller. Er drehte sich nicht um, aber hinter ihm musste irgendetwas sein, was Achmed beunruhigte. Müller konnte drei besetzte kleine Tischchen sehen und den Eingang zu Attas Lokal. In seiner Erinnerung war hinter seinem Rücken nichts, kein Tisch, kein Stuhl, nur das alte Pflaster etwa eine Häuserbreite lang. Da war aber auch eine Haustür, in Braun oder Dunkelgrün. Dann hörte er das Knarren.
»Lass uns bezahlen, wir gehen«, entschied er.
Achmed nickte nur und ging zu Atta rein, um zu bezahlen. Dann schlenderten sie weiter.
»Da war jemand an der Tür«, sagte Achmed. »Oder nein, jemand war hinter der Tür.«
»Du hast alles gecheckt? Alles sauber? Weiß jemand von dem Treff?«
»Niemand.«
»Aber deine Frau?«
»Sie weiß, dass du hier bist, aber nicht, wann wir uns treffen. Und sie weiß immer noch nichts von deinem Beruf.«
»Wenn es uns betraf, wer könnte es sein? Was sagt man so?«
»Na ja, die Israelis sind stark vertreten, aber das waren sie bekanntlich immer schon. Der neue Mann der Israelis heißt angeblich Zvi. Er baut ein neues Netz, heißt es. Ich weiß noch nicht, wie er aussieht und welchen Arbeitsnamen er führt, aber ich weiß sicher, dass sie drei Männer abgezogen und sechs dafür geschickt haben.«
»Woher weißt du das?«
»Von meinen kleinen U-Booten. Sie sagen, dass eine Computerfirma in Latakia gegründet wurde. Von einem Mann, der aus Zypern kam und der Mustafa heißt. Die Firma heißt Compudicta. Und sie machten einen gewaltigen Fehler. Sie stellten einen Mitarbeiter ein, der vor vier Jahren in Kairo aufgeflogen ist. Für die Israelis. Also einen Bekannten. So etwas ist immer dumm.«
»Heißt das, dass die Israelis hier aufrüsten?«
»Frag mich etwas Leichteres. Könnte sein, dass sie für die Amis hier Rückendeckung aufbauen. Und die werden immer nervöser, und sie werden hier die nächste Sauerei anrichten. Und Onkel Hussein hat über all das geredet wie ein Springbrunnen. Onkel Hussein ist sauer auf die Scheißamerikaner.« Er lachte leise. »Das kannst du dir nicht vorstellen: Normalerweise muss ich so etwas immer mühsam aus ihm rauskitzeln, aber diesmal habe ich keine einzige Frage stellen müssen, er redet plötzlich wie ein Buch.«
Dann wurde sein Blick unvermittelt wieder starr, und er war in einer Welt, die Müller verborgen blieb.
»Du willst sagen, die Amis wollen in den Iran?«
»Sie gehen rein, heißt das.« Achmed hatte Mühe, wieder auf den Teppich zu kommen, seine Lider flatterten.
»Jetzt mal langsam. Sie sind im Irak, nicht im Iran.« Müller wurde konkreter. Er durfte Achmed nicht herumtänzeln lassen, und Achmed liebte das Herumtänzeln in vagen Andeutungen. Achmed war von irgendetwas erfüllt, über das er nicht sprechen wollte.
»Ich würde lieber einen Tee trinken«, murmelte Achmed. Das war der Code, nichts mehr von Bedeutung zu sagen, sich irgendwo niederzulassen, wo die Welt vollkommen übersichtlich war.
Schließlich gingen sie in eine Teestube, die gähnend leer war. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch im Eck, sodass sie beide eine Wand im Rücken hatten. Eine Frau kam, sie bestellten Tee und süßes Gebäck.
»Also gehen Amerikaner in den Iran?«
»Langsam, langsam. Unsere Grenzschutz-Wüstenbrigade hat normalerweise etwa zweitausend Mann. Das weißt du. Es ist sicher, dass die Einheit fast verdoppelt wurde. Und es ist auch sicher, dass sie Leute in der nordwestlichsten Ecke konzentriert haben, also um Kamishli herum.«
»Moment, Moment, hast du einen glaubwürdigen Informanten?«
»Onkel Hussein, falls dir das reicht. Ich sagte doch, dass er plötzlich redet wie ein Buch. Sie bringen Amis oder Leute, die für die Amis arbeiten, erst in den Norden des Irak, wo die CIA schon seit dem zweiten Golfkrieg ein kleines Kommando unterhält. Und von da aus, immer dicht an der türkischen Südgrenze entlang, werden jetzt die Gruppen in den Iran gebracht.«
»Herrgott!«, fluchte Müller. »Du kannst mir doch nichts vom Pferd erzählen. Die Amis sitzen schon im Irak. Sie müssen nicht durch den nördlichen Irak in den Iran geschleust werden.«
»Aber genau das passiert«, widersprach Achmed, und er lachte. »Mein Onkel Hussein sagt, die Amis haben fünfzehn Geheimdienste, und einer traut dem anderen nicht. Und er ist stinksauer, weil das Ganze auf Kosten Syriens gehen kann. Und da hat Onkel Hussein Recht. Aber du willst was vom Erdöl wissen.«
»Ja, will ich.«
»Sie haben also insgesamt sechs Bohrungen entlang der jordanischen und irakischen Wüste niedergebracht. Und sie sind fündig geworden. Es ist fantastisches Öl, schwefelarm.« Er hob die Arme hinter den Kopf. »Mein Land wird blühen, deutscher Freund.«
»Wer ist jetzt an den Quellen?«
»Die Amis natürlich. Das heißt, es sind Leute, die bei den Saudis viele Freunde haben, und die Saudis haben viele Freunde bei den Amerikanern. Es ist wie immer: Das Erdöl der Region gehört der Region, sagen die Politiker. Aber die Anteile am Erlös liegen irgendwo in texanischen Safes. Und die Russen wollen auch ihren Teil, weil wir ja bei den Russen Schulden haben, wie du sicher weißt. Unser gesamtes Militär ist russisch ausgerüstet. Leider. Jedenfalls jubelt Onkel Hussein, weil er hofft, dass wir jetzt unser eigenes Raketenprogramm finanzieren können. Ohne Hilfe von irgendwelchen westlichen oder östlichen Teufeln.«
»Ihr habt jede Menge östliche Teufel an der Festtafel«, sagte Müller bissig.
»Weißt du etwas über Ölmengen?«
»Sie schätzen, es reicht für dreißig Jahre bei rund sechshundertfünfzigtausend Barrel pro Tag.« Dann begann er leise zu lachen und fragte: »Was wird dein Außenminister dazu sagen? Und was erst der Wirtschaftsminister! Sie werden dich küssen und knutschen, und sie werden todsicher ihre tief empfundene Freundschaft zu meinem Land entdecken.«
»Kannst du mir den Standort der Ölquellen nennen?«
»Aber ja. Bei einem kleinen Berg namens al Tanf und südwestlich der Ortschaft Abu Kamal, Hochebene. Aber ich warne dich, weil da eine Menge Geheimdienst herumschwirrt.«
»Oh, ich will keine Landpartie machen, ich will nur Schraubenzieher verkaufen. Sag mal, was verschweigst du mir eigentlich?«
Achmed bekam vor Empörung runde Augen. »Warum soll ich dir etwas verschweigen?«
»Ich habe den Eindruck«, stellte Müller ruhig fest.
»Hör mal, ich finde meine Ernte verdammt gut. Neues Öl im Land und Amis, die im Iran einsickern. Das ist doch keine Kleinigkeit.« Das kam vorwurfsvoll daher wie bei einem ertappten Kind.
»Es ist gut«, nickte Müller, »aber es ist nicht alles. Können wir über Zielsetzungen reden?« Er wartete eine Antwort nicht ab. »Ich brauche die Firmennamen, unter denen die Amerikaner bei den Ölquellen operieren werden. Das müssen andere Firmen sein als die der Versuchsbohrungen. Am besten noch die Aktiengesellschaften dahinter. Und ich brauche die Anzahl der Gruppen und die Gesamtzahl der Männer, die in den Iran gegangen sind oder noch gehen werden. Und von welchem amerikanischen Geheimdienst. Und das Ganze so schnell wie möglich, bitte. Per Telefon über Bestellcode Eisenwaren. Das ist verdammt dringend. Und jetzt sag mir, was du auf dem Herzen hast.«
Achmeds Hände flatterten wie Vögel. »Ich habe nichts auf dem Herzen, verdammt noch mal. Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Ich kenne dich gut, du kennst mich gut. Ich sage dir, du kochst irgendetwas aus.«
»Hey, wir sind Freunde, oder? Ich würde dir sagen, wenn irgendetwas ist. Es ist nichts, es ist alles beim Alten. Verdammt noch mal, was soll schon sein?«
»Achmed, du hast das Geld nicht nachgezählt.«
»Du bist ein Freund, ich brauche nicht nachzuzählen.« Aber jetzt war er getroffen, und er sah Müller nicht an.
»Hat Onkel Hussein etwas gemerkt?«
»Hat er nicht.«
»Hat irgendjemand dich kontaktiert? Könntest du doppelt kassieren?«
»Nein, sicher nicht.«
»Weißt du eigentlich, welche Ölfördergesellschaften bei Onkel Hussein vor der Tür stehen?«
»Nein, weiß ich nicht. Vermutlich die halbe Welt. Wahrscheinlich kaufen wir die Technik und fördern das Öl selbst. Da ist zu viel Geld im Spiel, zu viel Einflussnahme, zu viele Arschlöcher, die auf Vorteile lauern.«
»Wo du Recht hast, hast du Recht. Hat Onkel Hussein eigentlich gesagt, seit wann die amerikanischen Brüder in den Iran geschleust werden?«
»Er sagte seit vier Wochen. Und er sagte auch – verdammt, das habe ich vergessen, zu sagen – er sagte auch, dass die ersten drei Gruppen angekommen sind. Also …«
»Also sind es mehr als drei Gruppen.«
»Ja, hört sich so an. Aber ich finde es heraus.« Er sah Müller an, als wolle er noch etwas sagen, schwieg aber.
Nach einer Weile murmelte Müller: »Ich dachte, wir sind Freunde.«
Achmed starrte auf den Tisch. »Sind wir auch. Mach es mir nicht so schwer, Kumpel. Ich kann doch nicht beichten, wenn ich nichts zu beichten habe.« Seine Stimme war flach, monoton, ohne jeden Ausdruck. »Du wirst bis morgen bleiben?«
»Ja, vermutlich. Soll ich morgen noch einmal kommen? Willst du bis morgen Zeit haben, es dir zu überlegen?«
»Nein, verdammt noch mal.«
Sie zahlten und gingen langsam zurück. Sie sprachen Belangloses, und sie waren um Normalität bemüht. Zum ersten Mal war der Wurm drin in ihrer Beziehung, und sie empfanden das beide als einen Verlust. Müller erinnerte sich schmerzlich an seine Mission Grippe, die so deutlich offenbart hatte, wer Achmed war, was ihn ausmachte und was ihre Freundschaft ausmachte. Müller war in Damaskus krank geworden, eine ganz gewöhnliche Grippe. Er hatte sich im Hotel aufs Bett gelegt und Achmed informiert. Mir ist richtig elend, hatte er gesagt. Keine halbe Stunde später war Achmed erschienen, mit der ganzen Familie. Sie hatten in feierlicher Prozession eine Schachtel Aspirin in sein Zimmer getragen und dazu »Charlie Brown« gesungen. War das jetzt aus, vorbei, Schnee von gestern?
Als Müller seine Koffer wieder eingepackt hatte, sich verabschiedete und dafür die reiche arabische Sprache bemühte, nickte Achmed nur und sagte beiläufig: »Bis zum nächsten Mal, mein Freund.«
»Kann es sein«, fragte Müller leise auf Englisch, »dass dein geliebter Onkel Hussein dir alle diese wunderbaren Nachrichten zugeflüstert hat, weil er weiß, dass du sie mir sagen wirst, und weil er möchte, dass wir annehmen, wir stehen dicht vor großen Schweinereien in Nahost?«
Achmed zeigte sein Pokergesicht, also fuhr Müller fort: »Natürlich betonen die Amis: Jetzt muss die Diplomatie ran! Aber eigentlich ist es schon längst zu spät, eigentlich sind sie schon da. Möglicherweise käme dann mein Außenminister zu spät, möglicherweise würde mein Außenminister sogar auf jede Art zu vermitteln verzichten. Will dein teurer Onkel das?«
Achmed blinzelte, öffnete die Augen dann weit, blickte angeekelt zum nicht sichtbaren Himmel. Er umarmte Müller nicht, er sah ihn nicht an, er bellte nach hinten in seinen Laden: »Wer, zum Teufel, hat hier nicht aufgeräumt?«
Müller nahm die Vertreterkoffer auf und ging langsam zu einem Taxistand um die Ecke.
Er war in einem fieberhaften Zustand, und er war zugleich wütend. Achmed war über die Jahre hinweg ein verlässlicher Partner gewesen, jetzt schien das alles infrage gestellt, und Müller wusste, dass er eine schnelle Lösung nicht kriegen würde. Achmed war hochintelligent, Achmed war ein blendender Spion, aber er war auch ein harter Brocken. Ende der Gemütlichkeit. Was, um Gottes willen, war da geschehen?
Er hatte jetzt eine schnelle Entscheidung zu treffen, und er entschied sich augenblicklich. Er ließ sich zurück zum Hotel fahren, schleppte die Vertreterkoffer mit höchstmöglicher Geschwindigkeit sechs Stockwerke hoch und registrierte dankbar, dass sich durch die Anstrengung Gelassenheit einstellte.
Er rief mit einem besonderen Handy eine sichere Leitung an und verlangte Krause, indem er sagte: »Sechsviereinssechs.« Dann wartete er etwa dreißig Sekunden, während die Leitung komplett verwürfelt wurde.
»Ich höre.«
»Ich brauche Hilfe. Unser Mann schert aus.«
»Was sagte er?«
»Zwei Dinge. Amerikaner sickern in den Iran ein, und es ist Öl gefunden worden.«
»Aber Sie denken, er schert aus. Kann es sein, dass Sie irgendwie verspannt waren?«
»Negativ.«
»Wollen Sie warten und erneut nachfragen?«
»Negativ.«
»Beurteilung der Informationen?«
»Sehr dringend.«
»Kommen Sie nach Hause.«
Müller war erleichtert, er empfand diese Stadt zum ersten Mal als Bedrohung. Er wollte heim zu seinem Vater, und er fummelte an seinem Armkettchen herum und dachte an seine Tochter.
 
 
 
 
Er bekam einen Flug nach Zürich, konnte in einen Flieger nach Berlin umsteigen und landete dort um 21.35 Uhr. Vom Flughafen fuhr er direkt ins Amt, ging in sein Büro und setzte sich an den Computer. Er schrieb seinen Treffbericht mit einer ausführlichen Schilderung der Unwägbarkeiten, die Achmeds Benehmen in ihm ausgelöst hatte, und druckte ihn aus.
Dann brachte er ihn in Krauses Büro und war nicht sonderlich überrascht, dass Krause gedankenvoll hinter dem Schreibtisch hockte.
»Hier ist der Bericht. Ich fahre jetzt ins Krankenhaus zu meinem Vater.«
»Ja, tun Sie das«, murmelte Krause. »Haben Sie irgendeine Vorstellung, warum Achmed so war?«
»Habe ich nicht. Ich war erstaunt, dass er plötzlich über Militärisches berichtete. Gewöhnlich stelle ich immer die Frage nach Hamah, weil die Syrer dort ihre Raketenwaffen entwickeln. Diesmal kam ich nicht dazu, zu fragen, diesmal kam er sofort auf Onkel Husseins Schilderungen von den Gruppen, die in den Iran sickern.«
»Gut. Geht eine Kopie an Operative Sicherheit?«
»Morgen früh.«
»Machen Sie es jetzt. Sowinski ist noch am Tisch.«
»Geht klar. Ich möchte eine Frage stellen. Haben wir eine Nachricht von Svenja aus Nordkorea?«
Krause hob erst jetzt den Kopf und sah ihn an.
»Sie mögen sie, nicht wahr?«
»Ja.«
»Es gibt, sagen wir mal, eine halbe Nachricht. Eine befreundete Station in Südkorea hat einen Funkspruch aufgefangen, wonach sich zwei Leute an die Ostküste durchzuschlagen versuchen. Wir nehmen an, das ist Svenja mit einem Mann, den sie treffen und herausholen sollte. Wahrscheinlich sind sie abgetaucht und stellen sich tot. Wenn sie es schaffen, sage ich es Ihnen sofort.«
»Danke. Bis morgen also.« Müller hatte immer wieder von Svenja geträumt und davon, dass er sie vielleicht lieben könnte. Sie schien so etwas wie ein Ziel, das man nie erreichte. Er ging hinaus, druckte den Bericht ein zweites Mal aus und brachte ihn zu Sowinski, der genauso versunken und nachdenklich an seinem Schreibtisch hockte wie Krause. Aber Sowinski nickte nur und sagte kein einziges Wort.
 
Müller brauchte gut dreißig Minuten bis zum Krankenhaus und wurde dort trotz der späten Zeit anstandslos zum Krankenzimmer seines Vaters gelotst. Erleichtert stellte er dort fest, dass seine Mutter schon nach Hause gegangen war. Er hätte nicht gewusst, wie er ihr hätte Trost und Mut spenden sollen. Stattdessen war gerade eine Krankenschwester im Zimmer.
»Ich komme aus dem Ausland«, erklärte er. »Wie geht es meinem Vater? Und wie stehen seine Chancen?«
Das Gesicht der Schwester wirkte erschöpft. Sie war um die fünfzig, dünn, hager fast, mit einem kantigen Kopf, auf dem das kurze, silbrige Haar wie aus Protest in alle Richtungen stand.
»Wir liefern keine Wunder«, sagte sie. »Wir können nur sagen, dass sein Zustand stabil ist. Aber das heißt noch nicht, dass er überleben wird.« Sie sah ihn an und lächelte mitfühlend. »Kann ja auch sein, dass er nicht mehr will. Gehen Sie zu ihm, und halten Sie seine Hand. Wahrscheinlich spürt er das.«
»Ja, danke«, murmelte Müller und schob den Vorhang vor dem Bett seines Vaters zur Seite.
Da stand ein Stuhl, wahrscheinlich hatte seine Mutter darauf gesessen, Stunde um Stunde. Irgendwelche Skalen zeichneten Leben, Lichter blinkten in Grün, Rot und Gelb. Der Inhalt einer Infusionsflasche wurde Tropfen um Tropfen in den Kranken entleert. Er lag mit geschlossenen Augen da, das linke Augenlid flatterte heftig.
»Ich bin es, der Karl«, sagte Müller und setzte sich. Er griff nach der linken Hand des Vaters, die ohne Infusionsnadel war. Am Zeigefinger ein Pulstastgerät. Aus dem linken Mundwinkel lief ein Speichelfaden, der Atem war kaum zu hören. Die Hand war warm.
»Ich bin es, Karl«, wiederholte Müller. »Ich komme gerade vom Flughafen von einer Dienstreise und bin ziemlich kaputt. Sie sagen hier, du hast die besten Chancen. Bald wirst du aufwachen, und dann kriegst du Sauerkraut und Eisbein und Kartoffelpüree. Blaue Trauben natürlich auch. Alles, was du gern isst. Von Mama soll ich grüßen. Sie ist zu Hause und versucht, ein wenig zu schlafen. Auch von Melanie soll ich grüßen, und Anna-Maria schickt dir einen dicken Kuss.« Er tätschelte die Hand unbeholfen, er hatte seinen Vater ein Leben lang immer nur sehr vorsichtig berührt, und er konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit diesem Vater über den Rasen getollt zu sein.
»Wenn du gesund wirst, fahren wir alle zum Titisee oder nach Amrum, egal, wo du hin willst. Und ich nehme mir vierzehn Tage Ferien, und wir gehen zusammen durch die Wälder oder am Strand lang.«
Sein Vater stieß ein Krächzen aus, wahrscheinlich war es ein Husten. Das rechte Augenlid flatterte jetzt auch, und es kam ihm so vor, als versuche sein Vater die Augen zu öffnen.
»Ich bin es, Karl«, sagte er wieder. »Mach die Augen einfach auf, kann doch nicht so schwer sein. Aber wahrscheinlich habe ich gar keine Ahnung, und es ist schwer, und du lächelst über meine blöde Bemerkung.«
Wieder dieses Krächzen, und diesmal zuckte auch die Hand mit der Infusionsnadel.
»Soll ich die Schwester rufen, willst du irgendetwas?«
Das Atmen wurde ein wenig lauter.
»Kann es sein, dass du mich hörst? Kann das sein?«
Das Flattern des rechten Lids hörte auf.
Der Atem wurde wieder leise.
»Ich gehe jetzt und komme morgen wieder. Und ich denke, dir geht es dann besser und du kannst mich erkennen.«
Müller konnte das Elend, dieses schwache Stück Leben nicht mehr ertragen. Er ging und spürte das Sterben seiner Hoffnung wie einen dumpfen Schmerz im Bauch. Als er die Station verließ, als die Milchglastür sich hinter ihm mit einem Seufzen schloss, weinte er.
 
Er fuhr langsam durch die Nacht nach Hause und öffnete die Haustür vorsichtig, um nicht zu stören. Er stellte den Koffer wie immer in die Küche, damit er nicht auf der dröhnenden Holztreppe irgendwo aneckte. Dann setzte er sich ins Wohnzimmer und starrte hinaus in den Garten, den er verächtlich Ödland nannte, weil nichts darin seinem Bild von einem Garten entsprach. Kurzer, ungesund grüner Rasen, keine Wildblumen, die Tulpen eingezwängt in Erdvierecke, ein so genannter Teich von zwei Quadratmetern Größe, in dem irgendeine Pflanze einem mickrigen Goldfisch Deckung bot. Es war der sechste Goldfisch, die fünf vorher waren wahrscheinlich wegen drückender Einsamkeit eingegangen.
Er wünschte sich, sein Vater möge wieder gesund werden. Vielleicht war es möglich, mit ihm über das Leben zu sprechen und über das, was er sich darunter vorstellte. Vielleicht konnte er ihm dann die Jahre bei der Polizei erklären, und weshalb er jetzt beim Bundesnachrichtendienst arbeitete. Sein Vater hatte nur abfällig geäußert: »Die Schlapphutbrigade? Die versagen doch ständig.« Müller war laut geworden: »Woher weißt du das eigentlich?« »Von klugen Journalisten«, hatte sein Vater gebellt. »Genau, die arbeiten ihre persönlichen Defizite an uns ab!«, hatte Müller gebrüllt. Sie hatten nie wieder darüber gesprochen.
Vielleicht ist es gut, wenn er stirbt, dachte er plötzlich. Dann muss er nicht miterleben, wie diese Familie auseinander fällt. Das würde er sowieso nicht verwinden, da würde er vollends verstummen.
Auf der Treppe war ein Geräusch, dann kam Melanie in den Raum. Sie feierte ihre Schönheit in einem lang herabfließenden, halbdurchsichtigen Gewand und sagte: »Ich habe dich gar nicht gehört. Wie war die Reise?«
»Normal«, sagte er. »Nichts Besonderes. Ich war noch bei Papa im Krankenhaus.«
»Und? Wie geht es ihm?«
»Na ja, er liegt im Koma. Jedes Mal, wenn du glaubst, er schlägt die Augen auf, passiert nichts.«
»Und was sagen die Ärzte?«
»Sie können keine Wunder vollbringen, nur abwarten. Vielleicht schafft er es ja. Wie geht es Anna-Maria?«
»Klasse. Wir waren heute Nachmittag im Zirkus. Und sie hat gejubelt. Sie hat noch auf dem Weg nach Hause Beifall geklatscht.«
»Ich muss dir etwas sagen, Melanie. Ich habe gestern mit meiner Mutter gesprochen. Sie erzählte, du hättest nicht kommen können, weil du niemanden hattest für Anna-Maria. Ich würde dich bitten, auf solche Touren zu verzichten. Denn Astrid oder Eva können die Kleine immer für zwei, drei Stunden nehmen. Und dann bin ich auch der Meinung, dass Anna-Maria alt genug ist, den todkranken Opa zu besuchen, und …«
»Auf keinen Fall!«, rief Melanie hoch und schrill.
»Du kannst sie nicht vom Leben fern halten«, wandte er ruhig ein. »Das eigentliche Problem dabei bist du. Du willst meinen Vater nicht sehen.«
»Nicht so, wie er da liegt.«
»Wie liegt er denn da?«
»Na ja, irgendwie halb tot, oder? Mit Schläuchen und so, oder? Mit all diesen tickenden Uhren und den furchtbaren Geräuschen, das kennt man doch aus dem Fernsehen. Und dieses Gurgeln. Das kann ich nicht ertragen. Ich will ihn lebend in Erinnerung behalten.«
»Er stirbt aber vielleicht.«
»Das kann ich nicht.«
Er nickte.
Es hatte nicht den geringsten Sinn, weiterzusprechen. Was immer er sagte, sie würde es abblocken.
»Ich bin todmüde«, murmelte er. »Ich möchte schlafen.«