ZWEITER TAG
Er wurde durch ein
Geräusch geweckt, das er nicht sofort bestimmen konnte, und wie
üblich war er ohne Übergang hellwach. Es war 2.15 Uhr. Er richtete
sich auf. Das Geräusch wiederholte sich. Es war der sehr hohe
Angstschrei einer Frau, nur wenig gedämpft, es musste aus einem
Zimmer nahe dem seinen kommen.
Er ging zur Tür,
öffnete sie und starrte in beide Richtungen auf den Flur. Ein
drittes Mal kam der Schrei. Müller war jetzt sicher, dass er aus
dem nächsten Zimmer links von ihm kam.
Dann wurde die Tür
heftig aufgerissen, es gab einen Knall. Eine gelbe Lichtbahn fiel
in den Flur. Kleider, Frauenkleider, ziemlich grell in Rot und
Pink, flogen aus dem Zimmer. Dann schoss eine nackte Figur wie eine
Kanonenkugel hinterher, und ein Mann schrie wutentbrannt: »Du miese
Nutte!«
Die Frau knallte
geräuschvoll an die Tür gegenüber, sackte zusammen und kauerte sich
auf den Boden.
Es war plötzlich sehr
still.
Müller ging zu der
offenen Tür und starrte in das Zimmer.
Ein Mann stand
breitbeinig etwa einen Meter von der Tür entfernt und starrte blass
vor Wut aus schmalen, dunklen Augen. Er war fast eins neunzig
groß.
»He«, sagte Müller
auf Englisch. »Nun vertragt euch doch wieder.«
In diesem Moment
begann sich die Frau hinter ihm zu bewegen, sie kroch auf allen
vieren auf dem Boden herum und raffte ihre Kleider
zusammen.
»Mir fehlt meine
Uhr«, erklärte sie.
Sie blutete heftig
aus der Nase und aus dem linken Ohr.
»Du elende Sau!«,
schrie der Mann vor Müller und duckte sich ab, um unter ihm
durchzutauchen und erneut auf die Frau im Flur
loszugehen.
»Nicht doch!«, sagte
Müller und stellte sich in den Weg.
Er zog übergangslos
das rechte Knie mit aller Gewalt hoch in den Schritt des Mannes.
Der versuchte zu schreien, öffnete grotesk lautlos den Mund, weil
er keine Luft mehr hatte.
Dann fasste Müller
ihn unter beiden Achseln, hob ihn an und schleuderte ihn mit aller
Gewalt links an sich vorbei gegen die Schmalseite des Türblattes.
Der Mann gab einen dumpfen Ton von sich und war augenblicklich
bewusstlos.
»Holen Sie sich die
Uhr«, sagte Müller ganz ruhig. »Und dann raus hier.«
Irgendwo hinter ihnen
näherten sich Menschen auf dem Flur, die laut sprachen, irgendetwas
riefen.
Die Frau lief an
Müller vorbei in den Raum, nahm etwas vom Tisch, drehte sich um und
kam zurück.
»Ins Zimmer nebenan«,
sagte Müller. »Schnell.«
Er schob die Frau in
sein Zimmer und schloss hinter ihnen beiden ab. Er bedeutete ihr,
leise zu sein, und ging mit ihr ins Bad. Auch diese Tür schloss
er.
Draußen auf dem Flur
sprachen Männer miteinander, abgehackt und aufgeregt laut. Sie
sprachen arabisch, und Müller konnte nicht genug verstehen. Jemand
rief aufgeregt: »Doktor!« und dann: »Ambulanz!«
Es klopfte an seine
Tür.
Er wartete ein paar
Sekunden, ehe er öffnete.
Der Mann war etwa
vierzig, trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine dunkelrote
Krawatte. Auf dem Anzugsrevers prangte ein Schild
»Security«.
»Es tut mir Leid,
Sir. Wir haben einen Notfall im Nebenzimmer. Da liegt ein
Bewusstloser. Haben Sie irgendetwas bemerkt?«
»Jemand hat
geschrien«, nickte Müller. »Es hörte sich an wie eine Frau. Aber
gesehen habe ich sie nicht.«
»Dann ist sie
weggerannt«, stellte der Wachmann verwundert fest. »Also muss die
Frau ihn zusammengeschlagen haben. So was!«
Müller zuckte die
Achseln. »Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich
sein?«
»Oh nein, nein,
danke. Das geht schon in Ordnung. Aber der Mann muss dringend ins
Krankenhaus. Das wird leider wieder etwas Lärm geben.«
»Das stört mich
nicht«, sagte Müller. »Falls ich helfen kann, klopfen Sie
einfach.«
»Danke für Ihr
Verständnis, Sir«, antwortete der Mann und wandte sich
ab.
Müller fragte sich
leicht irritiert, was Krause wohl zu all dem sagen würde, aber
immerhin konnte es zu Müller-Eisenwaren passen, eine Edelnutte zu
beschützen. Und es hatte entschieden gut getan, etwas Dampf
abzulassen.
Er schloss die Tür
seines Zimmers und drehte den Riegel zu.
Die Frau kam aus dem
Bad. Sie hatte sich angezogen und das Blut abgewaschen. In voller
Kriegsbemalung strahlte sie ihn an. Sie sagte bewundernd: »Ich habe
noch nie jemanden erlebt, der so schnell und brutal ist wie Sie.«
Ihr Englisch war nahezu perfekt.
Dann beugte sie sich
vor, entdeckte die Risse in ihrer Strumpfhose und begann, laut und
unflätig auf Französisch zu fluchen.
»Hey«, sagte Müller
ganz leise, weil er wusste, dass laute Leute nur durch leise Töne
erreichbar sind. Sicherheitshalber sprach auch er jetzt
französisch. »Seien Sie leise. Wir dürfen keinen Lärm machen.
Gleich marschiert hier ein Trupp Sanitäter durchs Gelände, und ich
bin ein ehrbarer, allein reisender Familienvater.« Dann sah er sie
an und fragte flüsternd: »Was kosten Sie eigentlich,
Schwester?«
»Das ist
Verhandlungssache.« Sie grinste. »Ich heiße Lulu.« Vielleicht war
sie fünfundzwanzig, vielleicht dreißig, und ihre Augen sagten, dass
nichts auf der Welt ihr fremd war.
»Schöner
Künstlername. Wer ist der Mann nebenan?«
»Irgendein reicher
Trottel. Hat mich gebucht.«
»Und wieso gab es
Krach?«
»Weil er was wollte,
was ich niemals liefere. Das Dreckschwein. Und dann wollte er mich
um mein Geld bescheißen, fing an zu schreien und schlug mich. Dann
rief er beim Empfang an und sagte: Entfernen Sie diese
Nutte!«
»Kommt so etwas oft
vor?«
»Oh nein. Das ist ein
gutes Haus hier, ich stehe im Adressbuch vom Portier. Das ist eine
verdammt gute Position. Und wie komme ich jetzt hier
raus?«
»Wir warten, bis sie
den Mann abgeholt haben. Dann bringe ich Sie runter.«
»Wir können aber
nicht durch die Halle«, sagte sie angstvoll.
»Ein Hotel ist immer
offen«, bemerkte er. »Ich bin ein Spezialist für
Hotelausgänge.«
»Na ja, wenn das so
ist. Ist in der Minibar ein Schnaps?«
»Schauen Sie nach,
und nehmen Sie sich einen. Aber nur einen.«
»Was glaubst du, wie
viel ich schlucken kann, ohne dass du es merkst?«
»Ich sagte: einen.
Und nicht mehr. Und wenn jemand an der Tür klopft, gehst du ins
Bad, klar?«
»Und dann machst du
wieder bummbumm, und alle liegen flach.« Sie lachte heiser. »Du
bist vielleicht eine Type.«
Müller lächelte und
sah ihr zu, wie sie laut und unbekümmert eine winzige Flasche
Whisky schlürfte und sich dann brav in einen Sessel
setzte.
»Tut das Ohr noch
weh?«
»Nicht schlimm, aber
ich höre auf dem Ding nicht mehr. Es rauscht.«
»Das geht vorbei«,
sagte er. »Bist du schon lange in der Stadt?«
»Nein, zwei Jahre
erst. Vorher war ich in Beirut, und Sheela, meine Freundin, sagte:
In Damaskus kannst du mehr Kohle machen.«
»Und? Machst
du?«
»Es ist nicht
schlecht«, erklärte sie. »Aber ich kann nur noch zehn Jahre
arbeiten, und dann muss alles gelaufen sein, und ich muss das Geld
haben für eine Kneipe oder so.« Sie hob das Gesicht, sah
offensichtlich in eine goldene Zukunft und strahlte: »Oder ich lass
endlich meine eigenen Pferdchen laufen. Und auch Jungs
dazu.«
»Und die Scharia?«,
fragte Müller sanft.
»Die braucht auch
erleichterte Männer, oder?«
Er gab ihr Zeichen,
leise zu sein, denn nun hörte man wieder Männer auf dem Flur. Sie
diskutierten auf Arabisch, dann quietschte es, und eine Stimme
befahl: »Anheben! Drei, zwei, eins, jetzt!« Wieder quietschte es,
dann rollte etwas dumpf über den Teppichboden. Die Geräusche wurden
leiser und entfernten sich.
»Wir können«, meinte
Müller.
Sie stiegen
gemächlich und stumm im Treppenhaus hinunter, tasteten sich leise
vor bis in die Tiefgarage, und selbstverständlich gab es eine
offene Tür.
»Du hast eine Nummer
gut«, sagte sie. »Du bist wirklich klasse.«
»Vergiss es«, meinte
er. »Und ich weiß rein zufällig, dass du seine Brieftasche geklaut
hast. Sei so klug, nimm das Geld heraus und schmeiß sie einfach
weg.«
Sie starrte ihn an
und wisperte: »Oh Mann!« Dann ging sie davon.
Müller erwachte um
sechs Uhr und fühlte sich ausgeruht. Er machte einige Dehnübungen
und versank dann in seiner üblichen morgendlichen
Konzentration.
Einer seiner Lehrer
hatte mal geäußert: »Leere morgens deine Seele, so wie die Leute
früher ihre Pisspötte geleert haben.«
Müller fühlte einen
vagen Ärger, weil ihm das seit Monaten nicht mehr gelang. Er
schlief mit den Ärgernissen seines Lebens ein und erwachte wieder
damit. Das stimmte ihn melancholisch, und eigentlich konnte er sich
Melancholie nicht leisten.
Es schien
unausweichlich, dass er sein Kind verlieren würde, dass eines Tages
der Satz fallen würde: »Aber Anna-Maria bleibt selbstverständlich
bei mir.« Und mit Sicherheit würde seine Mutter feststellen: »War
das denn notwendig, Junge?« Sein Vater, auch das war sicher, würde
nichts sagen, mit grauem Gesicht an seinem Schreibtisch hocken und
in den Garten starren. Wenn seine Mutter ihn fragen würde: »Was
hältst du denn davon?«, würde er mit mühsam unterdrückter Wut
antworten: »Meine Meinung interessiert doch eh
keinen.«
Vorausgesetzt, dieser
Vater lebte dann noch.
Diese gottverdammten
Konjunktive, dieses ewige »würde« im Leben, fluchte Müller. Und
diese gottverdammte Trutzburg von Vater, diese uneinnehmbare
Festung. Dieser schrecklich arrogante Peitschenhieb: »Du bist der
Sohn eines Schuldirektors, du hast alle Möglichkeiten, stattdessen
machst du gerade einmal Abitur und wirst dann
Polizist!«
Plötzlich verspürte
er den dringenden Wunsch, mit diesem Vater zu sprechen, irgendetwas
zu sagen, eine Gemeinsamkeit zu beschwören.
Er rief die Klinik in
Berlin an.
Er geriet an eine
Krankenschwester, die muffig und atemlos äußerte: »Ach Gottchen,
bei Ihrem Vater war ich noch gar nicht. Können Sie in einer
Viertelstunde noch einmal anrufen?«
Und Krause? Was würde
er sagen? Konzentrieren Sie sich auf das, was vor Ihnen liegt.
Vergessen Sie alles andere.
Sie würden
miteinander reden, und Krause würde unerbittlich auf den Punkt
zusteuern, der da lautete: »Machen Sie eine Pause in der Ehe,
nehmen Sie Abstand. Wir haben da ein preiswertes kleines Apartment
ganz in der Nähe.«
Bei Svenja war das
ganz genauso gelaufen.
Svenja. Niemand
schien zu wissen, ob sie überhaupt noch lebte. Niemand sagte ein
Wort. Sowinski hatte vor Wochen angedeutet, sie habe
»möglicherweise Schwierigkeiten« in Nordkorea, und eigentlich hätte
sie vor zwei Monaten zurückkehren müssen. Nichts war geschehen, als
gäbe es sie nicht mehr. Svenja, die Frau mit dem stillen Gesicht,
die einen so unglaublichen Mut besaß und die einmal erzählt hatte,
sie fühle sich eigentlich überall im Feindesland, außer dort, wo
Kinder spielten.
Und Melanie. Sie
würde niemals kommen und sagen: »Wir trennen uns, wir lassen uns
scheiden« oder irgendetwas in diesem Sinn, dachte Müller
verbittert. Eine Ehe war für sie so etwas wie ein verbindlicher,
lebenslang verpflichtender Sparplan. Gewiss, sie war eine
begehrenswert schöne Frau, aber sie lebte damit, als sei es ihre
alleinige Aufgabe, so zu erscheinen – eine Barbie auf Ewigkeit. Sie
sprachen nicht mehr miteinander, sie schliefen nicht mehr
miteinander, sie teilten das Leben nicht mehr.
Sofort musste Müller
an Anna-Maria denken, zwischen ihnen mit ihrem sprudelnden Lachen,
mit ihren kleinen Fingerfertigkeiten, wenn sie mühsam und
hartnäckig eine neue Kette aus winzigen Plastikperlen reihte, wenn
sie sagte: »Papi, das musst du tragen. Das ist eine
Freundschaftskette.«
Er hielt inne, er
konzentrierte sich auf seinen Atem, ließ ihn gleichmäßig strömen.
Er sah auf die Dächer der Stadt, die rotgolden schimmerten, die
schwarzen Linien dazwischen, die Straßen und Gassen waren, die
hochragenden Kuppeln der Moscheen, die wie Inseln wirkten. Und über
all dem der sanft rauschende Lärm der erwachenden
Stadt.
Hatten sie eigentlich
jemals Klartext geredet? Hatten sie gesagt, wir wollen wissen, wie
es weitergeht? Hatten sie gefragt: »Wieso läuft bei uns nichts
mehr?« Oh nein, sie gingen verdammt zivilisiert miteinander um. Nur
einmal hatte er etwas gesagt. An einem frühen Sonntagmorgen hatte
er, träge im Bett liegend, bemerkt: »Ich würde gern in eine Kirche
gehen.« Sie hatte ihn sekundenlang angestarrt, als sei er ein
Fremder. »Wieso Kirche? Du gehst doch nie in Gottesdienste.« – »Ich
gehe häufig in Kirchen«, hatte er gesagt und gleichzeitig den
heißen Strahl eines Schuldgefühls bemerkt: Sie weiß nichts davon,
sie weiß nichts von mir. »Ich bin nicht scharf auf Gottesdienste,
auf die Predigten, auf die ewige Wiederholung der angeblichen
Forderungen und Superangebote vom lieben Jesus. Mir reichen die
Kirchen, die Stille in ihnen.« Dann war eine für sie klassische
Frage gefallen. »Und? Was machst du mit der Stille?« »Ich höre ihr
zu und werde ruhig«, hatte er geantwortet. Er war einen Schritt
weitergegangen, hatte scheinbar zusammenhanglos die Frage gestellt:
»Was ist zum Beispiel mit uns? Warum schlafen wir nicht mehr
miteinander? Du greifst nicht mehr nach mir.« Da war sie
zusammengezuckt, hatte sich abgewendet, war im Bad verschwunden.
Ende der Vorstellung.
Und er? Er war ins
Kinderzimmer gegangen, auf Zehenspitzen, hatte Anna-Maria in ihrem
zerwühlten Bettchen betrachtet, hatte an den deutschen Liedtext
gedacht: Sie sieht so süß aus, wenn sie schläft …
Jetzt stand er auf
dem kleinen Balkon vor seinem Zimmer und fragte sich, ob das
heutige Treffen mit Achmed eine vollkommen neue Phase einleiten
könnte. Was würde er zu erzählen haben? Eine dieser
Katastrophenketten? Wir haben die Rakete der Nordkoreaner, wir
können Scud-C-Raketen alleine bauen, wir kriegen iranische Hilfe,
wir fegen Israel vom Erdball.
Er trat in das Zimmer
zurück und legte sich auf das Bett, um an die Decke zu
starren.
Er mochte sich nicht
in diesem wilden, wütenden Zustand, er fühlte dann Hass in sich
aufsteigen. Wie hatte Krause formuliert? »Steigen Sie aus, wenn Sie
wütend sind, Wut macht Sie angreifbar. Versuchen Sie, wieder
sachlich zu werden, das nächste Ziel ganz kühl anzupeilen.« Du
lieber Himmel, der Mann hatte gut reden.
Er ging um acht Uhr
ins Restaurant, um zu frühstücken, er aß wie immer Joghurt mit
Früchten, und er hörte wie immer mit dem Essen auf, ehe er satt
war. Das war der erste kleine Sieg des Tages.
Um Viertel vor neun
stieg er mit den zwei schweren Vertreterkoffern in ein Taxi und
ließ sich an den Südrand des Basars fahren, ungefähr einen Fußweg
von zehn Minuten von Achmeds Geschäft entfernt.
Er fühlte sich wohl
in diesem Gedränge, in dem einer auf den anderen nicht zu achten
schien, ausgenommen die Diebe. Er winkte einem Jungen, der mit
einem kleinen Karren auf Kunden wartete. Er sagte: »Die beiden
Koffer hier!«
»Natürlich, Sir«,
sagte der Junge und lud die Koffer auf den Karren. Dann pfiff er
laut und falsch einen US-Schlager.
Müller ging langsam,
schaute hier und da in Auslagen, prüfte ein Gewürz, besah sich eine
Wurst und blieb dann länger bei einem Devotionalienhändler stehen,
der Heiligenbildchen der kitschigen Sorte für Griechisch-Orthodoxe
anbot, aber auch holzgerahmte Farbdrucke von zahllosen
Rechtsgelehrten und Mächtigen des sunnitischen Islam.
Von diesem letzten
Standpunkt aus konnte er den Laden von Achmed sehen, und Achmed sah
ihn.
Dann bedeutete Müller
dem Jungen, ihm weiter zu folgen, umkreiste die nächsten
Verkaufsstände, kam auf der Rückseite von Achmeds Laden an, sah
schließlich Achmed die schmale Straße queren und im Obstgeschäft
gegenüber verschwinden.
Er sah, wie Achmed
das Obstgeschäft verließ, eine Orange spielerisch hochwarf und
wieder auffing.
Müller schlenderte
noch ein wenig weiter und kehrte exakt zehn Minuten später zu
Achmeds Laden zurück, ließ den Jungen die Koffer hineintragen und
bezahlte ihn dann.
»Mein deutscher
Hammer«, strahlte Achmed, was so viel hieß wie: Alles
klar!
Sie umarmten
sich.
»Wie geht es Nour und
den Kindern?«, fragte Müller.
»Fantastisch!«,
antwortete Achmed. »Sie fragen, ob du heute Abend kommst. Auf einen
Wein. Vielleicht ein wenig Spaß haben.«
»Mal sehen«, sagte
Müller leichthin. »Schließlich gibt es noch Konkurrenten von dir,
die auch beliefert sein wollen. Mal sehen.« Jetzt die ganz
unverfängliche Feststellung: »Ich kann keine Schrauben mehr sehen,
können wir einen Kaffee trinken oder irgendetwas in der
Art?«
»Aber
ja!«
Achmed war ein
schmaler Mann in Jeans und einem schneeweißen Hemd, einen Kopf
kleiner als Müller. Er wirkte flatterig, was noch niemals
vorgekommen war. Aber diese Nervosität, so schien es Müller, barg
keine Furcht. Groteskerweise hatte Müller sekundenlang das Gefühl,
dass er störte.
Achmed griff nach
Müllers rechtem Ellenbogen und drehte ihn zu einem
Tischchen.
Diese Griffe erlaubte
er sich oft, er brauchte körperliche Berührung, und Müller hatte
anfangs Schwierigkeiten damit gehabt, weil er genau das
scheute.
»Da kannst du deine
Sachen ausbreiten, dann gehen wir.«
Müller öffnete beide
Musterkoffer und legte bedachtsam sein Angebot aus, lauter neu
entwickelte Dinge: harte Bohreinsätze, Nägel aus noch unbekannten
Legierungen, Hämmer aus Kunststoff mit runden und eckigen Köpfen.
Ein paar hochmoderne kleine Maschinen, eine ganze Garnitur teurer,
verschnörkelter Schrankbeschläge, wie die Syrer sie
liebten.
»Es sind gute Sachen,
weißt du. Dann habe ich noch Schrauben mit Linksgewinde und
rechtsdrehenden Sicherungseinsätzen. Du musst nur aussuchen, und du
hast wie immer viel Zeit dazu. Hier sind deutsche Pflaumen für
dich.« Er drückte ihm die Papiertüte mit dem Geld, die er in einem
der Koffer verstaut hatte, in die Hand.
Achmed sagte artig
Danke, verzichtete auf jede Clownerie, packte die Papiertüte
beinahe achtlos in eine Schublade, die er abschloss. Dann pfiff er
grell, und ein junger Mann in einem blauen Arbeitskittel kam aus
der Tiefe des Ladens herbeigelaufen.
»Pass auf die Dinge
hier auf«, sagte Achmed, »sonst reißt dir mein Freund den Kopf
ab.«
Jetzt war
Müller-Zeit, jetzt musste Müller bestimmen, wo sie miteinander
sprechen würden. Bei den normalen, routinemäßigen Treffs, bei denen
wenig auszutauschen war, reichte ein ausgiebiges Schlendern durch
die Gassen um den Basar und scheinbar harmloses Plaudern in einer
Sprache, die sich an lange vereinbarten Codewörtern orientierte.
Bei diesem Treff musste es ein kleines Lokal sein, von denen es
hier viele gab und die Müller alle ganz genau kannte.
Er dachte an ein
Café, in dem vorwiegend junge Leute verkehrten, in dem immer ein
Fernseher lief, in dem man widerliche Brotfladen mit fettigem
Hammelfleisch essen konnte und in dem jeder über vierzig auffiel.
Es hieß Chez Gilbert und war angeblich die matte Erinnerung an
einen verrückten Franzosen, der einmal versucht hatte, in Damaskus
elegante Damen in elegante Roben zu hüllen. Immer, wenn das nicht
funktioniert hatte, war Gilbert hier aufgetaucht und hatte sich bis
zur Bewusstlosigkeit betrunken und dazu unaufhörlich
geweint.
Es bestand durchaus
die Gefahr, dass Achmed auf beiden Seiten des Zauns spielte, und so
fragte Müller kühl: »Irgendetwas, was ich wissen sollte? Irgendein
Sender an dir, ein Mikro, irgendein faules, mistiges Stück
Elektronik?«
»Ich bin clean«,
antwortete Achmed grinsend.
Noch eine ganze Zeit
lang, nachdem Müller Achmed angeworben hatte, hatte er ihn jedes
Mal in einem Nebenraum gründlich abgeklopft. Unweigerlich hatte
Achmed dabei in den höchsten Tönen gewimmert: »Gott, meine Eier!«
Seit vier Treffen hatte Müller auf die Untersuchung verzichtet,
hatte Achmed dadurch mehr Bedeutung gegeben, mehr Gleichheit,
durchaus mehr Freundschaft.
»Lass uns gehen«,
sagte er, und sie begannen, durch den Basar zu schlendern. »Was
treiben deine Söhne?«
»Das meiste erfahre
ich nie«, sagte Achmed. »Aber sie sind gut, gute Typen, weißt
du.«
»Und wollen sie nach
wie vor Medizin studieren?«
»Na ja, der Ältere
schon. Der Jüngere will mehr Richtung Jura. Soll mir recht sein.
Und wie geht es deiner Anna-Maria?«
»Gut, sehr gut. Sie
hat mir eine Freundschaftskette mitgegeben aus roten und blauen
Perlen. Ich muss sie tragen, sonst kriege ich Prügel.« Er streifte
den Ärmel seines Jacketts zurück. »Melanie arbeitet weiter in der
Bank, verdient gute Kohle.«
»Und die
Eltern?«
»Mein Vater liegt im
Krankenhaus. Schlaganfall. Das ist nicht gut, das ist beschissen.
Sie können nicht sagen, ob er überlebt.«
Achmed tänzelte einen
Schritt zur Seite und sah ihn an. »Du bist stinksauer auf den
Vater, nicht wahr?«
»Ja, bin ich
irgendwie. Wir haben über so viele Sachen nicht gesprochen. Es
passiert plötzlich, weißt du, und du denkst, das kann er doch nicht
bringen, nicht jetzt und von heute auf morgen. Aber so läuft das.«
Er dachte zufrieden: Achmed ist hochkonzentriert, er riecht so was,
Achmeds Einfühlungsvermögen ist grandios.
Sie schlenderten am
Chez Gilbert vorbei, und Müller sah aus den Augenwinkeln, dass der
Tisch, an den er gedacht hatte, frei war. Es war ein Tisch für zwei
Personen unmittelbar an der schaufenstergroßen Scheibe zur Straße
hin. Das war gut.
Dann entdeckte er an
der Scheibe ein schwarzes, kreisförmiges Gerät, nicht größer als
fünf Zentimeter im Durchmesser. Ein dünner Draht führte hinaus,
lief unten an der Scheibe entlang und verschwand im Raum.
Einbruchsicherung, dachte er automatisch, zu riskant. Kann auch
etwas anderes sein. Also nicht hier.
Sie schlenderten
weiter, hatten nicht mehr als zehn Schritte gemacht, als Achmed mit
einem heiteren Unterton bemerkte: »Die neue Einbruchsicherung stört
dich, nicht wahr?«
»Natürlich.« Müller
nickte. »Komm, gehen wir zu Atta und essen einen Salat oder so
was.« Achmed war tatsächlich ein idealer Spion.
Das Atta war nur
hundert Meter weiter, und sie fanden einen kleinen Tisch an der
Hauswand im Schatten, weit genug von anderen Tischen entfernt,
sodass sie gedämpft reden konnten.
Sie setzten sich, ein
junger Mann erschien und fragte nach ihren Wünschen. Sie bestellten
Wasser und Tee und einen scharfen Salat mit einer Pfefferwurst und
warteten, bis alles auf ihrem Tisch stand.
»Wie geht es Onkel
Hussein?«, fragte Müller.
»An sich sehr gut,
denke ich. Ich habe ihn vor drei Tagen getroffen. Aber er ist sehr
aufgeregt, er kann keine Sekunde still sitzen. Und er redet über
Sachen, über die er normalerweise niemals redet.« Dann starrte er
unvermittelt in eine Ferne, von der Müller nichts
wusste.
»Heißt das, die
Amerikaner, mit denen er zusammenarbeitet, haben etwas
gefunden?«
Ein ruckhaftes
Bewegen des Kopfes, wieder auf der Erde. Achmeds Lächeln war
geradezu strahlend. »Sie haben etwas gefunden.«
»Reden wir von
Erdöl?«
»Aber ja!«, strahlte
Achmed. Im gleichen Moment erlosch dann der Glanz in seinen Augen,
sein Gesicht wurde wieder starr. Aber diesmal stand eine unruhige
Frage darin.
»Das freut mich
aber«, sagte Müller. Er drehte sich nicht um, aber hinter ihm
musste irgendetwas sein, was Achmed beunruhigte. Müller konnte drei
besetzte kleine Tischchen sehen und den Eingang zu Attas Lokal. In
seiner Erinnerung war hinter seinem Rücken nichts, kein Tisch, kein
Stuhl, nur das alte Pflaster etwa eine Häuserbreite lang. Da war
aber auch eine Haustür, in Braun oder Dunkelgrün. Dann hörte er das
Knarren.
»Lass uns bezahlen,
wir gehen«, entschied er.
Achmed nickte nur und
ging zu Atta rein, um zu bezahlen. Dann schlenderten sie
weiter.
»Da war jemand an der
Tür«, sagte Achmed. »Oder nein, jemand war hinter der
Tür.«
»Du hast alles
gecheckt? Alles sauber? Weiß jemand von dem Treff?«
»Niemand.«
»Aber deine
Frau?«
»Sie weiß, dass du
hier bist, aber nicht, wann wir uns treffen. Und sie weiß immer
noch nichts von deinem Beruf.«
»Wenn es uns betraf,
wer könnte es sein? Was sagt man so?«
»Na ja, die Israelis
sind stark vertreten, aber das waren sie bekanntlich immer schon.
Der neue Mann der Israelis heißt angeblich Zvi. Er baut ein neues
Netz, heißt es. Ich weiß noch nicht, wie er aussieht und welchen
Arbeitsnamen er führt, aber ich weiß sicher, dass sie drei Männer
abgezogen und sechs dafür geschickt haben.«
»Woher weißt du
das?«
»Von meinen kleinen
U-Booten. Sie sagen, dass eine Computerfirma in Latakia gegründet
wurde. Von einem Mann, der aus Zypern kam und der Mustafa heißt.
Die Firma heißt Compudicta. Und sie machten einen gewaltigen
Fehler. Sie stellten einen Mitarbeiter ein, der vor vier Jahren in
Kairo aufgeflogen ist. Für die Israelis. Also einen Bekannten. So
etwas ist immer dumm.«
»Heißt das, dass die
Israelis hier aufrüsten?«
»Frag mich etwas
Leichteres. Könnte sein, dass sie für die Amis hier Rückendeckung
aufbauen. Und die werden immer nervöser, und sie werden hier die
nächste Sauerei anrichten. Und Onkel Hussein hat über all das
geredet wie ein Springbrunnen. Onkel Hussein ist sauer auf die
Scheißamerikaner.« Er lachte leise. »Das kannst du dir nicht
vorstellen: Normalerweise muss ich so etwas immer mühsam aus ihm
rauskitzeln, aber diesmal habe ich keine einzige Frage stellen
müssen, er redet plötzlich wie ein Buch.«
Dann wurde sein Blick
unvermittelt wieder starr, und er war in einer Welt, die Müller
verborgen blieb.
»Du willst sagen, die
Amis wollen in den Iran?«
»Sie gehen rein,
heißt das.« Achmed hatte Mühe, wieder auf den Teppich zu kommen,
seine Lider flatterten.
»Jetzt mal langsam.
Sie sind im Irak, nicht im Iran.« Müller wurde konkreter. Er durfte
Achmed nicht herumtänzeln lassen, und Achmed liebte das
Herumtänzeln in vagen Andeutungen. Achmed war von irgendetwas
erfüllt, über das er nicht sprechen wollte.
»Ich würde lieber
einen Tee trinken«, murmelte Achmed. Das war der Code, nichts mehr
von Bedeutung zu sagen, sich irgendwo niederzulassen, wo die Welt
vollkommen übersichtlich war.
Schließlich gingen
sie in eine Teestube, die gähnend leer war. Sie setzten sich an
einen kleinen Tisch im Eck, sodass sie beide eine Wand im Rücken
hatten. Eine Frau kam, sie bestellten Tee und süßes
Gebäck.
»Also gehen
Amerikaner in den Iran?«
»Langsam, langsam.
Unsere Grenzschutz-Wüstenbrigade hat normalerweise etwa zweitausend
Mann. Das weißt du. Es ist sicher, dass die Einheit fast verdoppelt
wurde. Und es ist auch sicher, dass sie Leute in der
nordwestlichsten Ecke konzentriert haben, also um Kamishli
herum.«
»Moment, Moment, hast
du einen glaubwürdigen Informanten?«
»Onkel Hussein, falls
dir das reicht. Ich sagte doch, dass er plötzlich redet wie ein
Buch. Sie bringen Amis oder Leute, die für die Amis arbeiten, erst
in den Norden des Irak, wo die CIA schon seit dem zweiten Golfkrieg
ein kleines Kommando unterhält. Und von da aus, immer dicht an der
türkischen Südgrenze entlang, werden jetzt die Gruppen in den Iran
gebracht.«
»Herrgott!«, fluchte
Müller. »Du kannst mir doch nichts vom Pferd erzählen. Die Amis
sitzen schon im Irak. Sie müssen nicht durch den nördlichen Irak in
den Iran geschleust werden.«
»Aber genau das
passiert«, widersprach Achmed, und er lachte. »Mein Onkel Hussein
sagt, die Amis haben fünfzehn Geheimdienste, und einer traut dem
anderen nicht. Und er ist stinksauer, weil das Ganze auf Kosten
Syriens gehen kann. Und da hat Onkel Hussein Recht. Aber du willst
was vom Erdöl wissen.«
»Ja, will
ich.«
»Sie haben also
insgesamt sechs Bohrungen entlang der jordanischen und irakischen
Wüste niedergebracht. Und sie sind fündig geworden. Es ist
fantastisches Öl, schwefelarm.« Er hob die Arme hinter den Kopf.
»Mein Land wird blühen, deutscher Freund.«
»Wer ist jetzt an den
Quellen?«
»Die Amis natürlich.
Das heißt, es sind Leute, die bei den Saudis viele Freunde haben,
und die Saudis haben viele Freunde bei den Amerikanern. Es ist wie
immer: Das Erdöl der Region gehört der Region, sagen die Politiker.
Aber die Anteile am Erlös liegen irgendwo in texanischen Safes. Und
die Russen wollen auch ihren Teil, weil wir ja bei den Russen
Schulden haben, wie du sicher weißt. Unser gesamtes Militär ist
russisch ausgerüstet. Leider. Jedenfalls jubelt Onkel Hussein, weil
er hofft, dass wir jetzt unser eigenes Raketenprogramm finanzieren
können. Ohne Hilfe von irgendwelchen westlichen oder östlichen
Teufeln.«
»Ihr habt jede Menge
östliche Teufel an der Festtafel«, sagte Müller
bissig.
»Weißt du etwas über
Ölmengen?«
»Sie schätzen, es
reicht für dreißig Jahre bei rund sechshundertfünfzigtausend Barrel
pro Tag.« Dann begann er leise zu lachen und fragte: »Was wird dein
Außenminister dazu sagen? Und was erst der Wirtschaftsminister! Sie
werden dich küssen und knutschen, und sie werden todsicher ihre
tief empfundene Freundschaft zu meinem Land
entdecken.«
»Kannst du mir den
Standort der Ölquellen nennen?«
»Aber ja. Bei einem
kleinen Berg namens al Tanf und südwestlich der Ortschaft Abu
Kamal, Hochebene. Aber ich warne dich, weil da eine Menge
Geheimdienst herumschwirrt.«
»Oh, ich will keine
Landpartie machen, ich will nur Schraubenzieher verkaufen. Sag mal,
was verschweigst du mir eigentlich?«
Achmed bekam vor
Empörung runde Augen. »Warum soll ich dir etwas
verschweigen?«
»Ich habe den
Eindruck«, stellte Müller ruhig fest.
»Hör mal, ich finde
meine Ernte verdammt gut. Neues Öl im Land und Amis, die im Iran
einsickern. Das ist doch keine Kleinigkeit.« Das kam vorwurfsvoll
daher wie bei einem ertappten Kind.
»Es ist gut«, nickte
Müller, »aber es ist nicht alles. Können wir über Zielsetzungen
reden?« Er wartete eine Antwort nicht ab. »Ich brauche die
Firmennamen, unter denen die Amerikaner bei den Ölquellen operieren
werden. Das müssen andere Firmen sein als die der
Versuchsbohrungen. Am besten noch die Aktiengesellschaften
dahinter. Und ich brauche die Anzahl der Gruppen und die Gesamtzahl
der Männer, die in den Iran gegangen sind oder noch gehen werden.
Und von welchem amerikanischen Geheimdienst. Und das Ganze so
schnell wie möglich, bitte. Per Telefon über Bestellcode
Eisenwaren. Das ist verdammt dringend. Und jetzt sag mir, was du
auf dem Herzen hast.«
Achmeds Hände
flatterten wie Vögel. »Ich habe nichts auf dem Herzen, verdammt
noch mal. Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Ich kenne dich gut,
du kennst mich gut. Ich sage dir, du kochst irgendetwas
aus.«
»Hey, wir sind
Freunde, oder? Ich würde dir sagen, wenn irgendetwas ist. Es ist
nichts, es ist alles beim Alten. Verdammt noch mal, was soll schon
sein?«
»Achmed, du hast das
Geld nicht nachgezählt.«
»Du bist ein Freund,
ich brauche nicht nachzuzählen.« Aber jetzt war er getroffen, und
er sah Müller nicht an.
»Hat Onkel Hussein
etwas gemerkt?«
»Hat er
nicht.«
»Hat irgendjemand
dich kontaktiert? Könntest du doppelt kassieren?«
»Nein, sicher
nicht.«
»Weißt du eigentlich,
welche Ölfördergesellschaften bei Onkel Hussein vor der Tür
stehen?«
»Nein, weiß ich
nicht. Vermutlich die halbe Welt. Wahrscheinlich kaufen wir die
Technik und fördern das Öl selbst. Da ist zu viel Geld im Spiel, zu
viel Einflussnahme, zu viele Arschlöcher, die auf Vorteile
lauern.«
»Wo du Recht hast,
hast du Recht. Hat Onkel Hussein eigentlich gesagt, seit wann die
amerikanischen Brüder in den Iran geschleust werden?«
»Er sagte seit vier
Wochen. Und er sagte auch – verdammt, das habe ich vergessen, zu
sagen – er sagte auch, dass die ersten drei Gruppen angekommen
sind. Also …«
»Also sind es mehr
als drei Gruppen.«
»Ja, hört sich so an.
Aber ich finde es heraus.« Er sah Müller an, als wolle er noch
etwas sagen, schwieg aber.
Nach einer Weile
murmelte Müller: »Ich dachte, wir sind Freunde.«
Achmed starrte auf
den Tisch. »Sind wir auch. Mach es mir nicht so schwer, Kumpel. Ich
kann doch nicht beichten, wenn ich nichts zu beichten habe.« Seine
Stimme war flach, monoton, ohne jeden Ausdruck. »Du wirst bis
morgen bleiben?«
»Ja, vermutlich. Soll
ich morgen noch einmal kommen? Willst du bis morgen Zeit haben, es
dir zu überlegen?«
»Nein, verdammt noch
mal.«
Sie zahlten und
gingen langsam zurück. Sie sprachen Belangloses, und sie waren um
Normalität bemüht. Zum ersten Mal war der Wurm drin in ihrer
Beziehung, und sie empfanden das beide als einen Verlust. Müller
erinnerte sich schmerzlich an seine Mission Grippe, die so deutlich
offenbart hatte, wer Achmed war, was ihn ausmachte und was ihre
Freundschaft ausmachte. Müller war in Damaskus krank geworden, eine
ganz gewöhnliche Grippe. Er hatte sich im Hotel aufs Bett gelegt
und Achmed informiert. Mir ist richtig elend, hatte er gesagt.
Keine halbe Stunde später war Achmed erschienen, mit der ganzen
Familie. Sie hatten in feierlicher Prozession eine Schachtel
Aspirin in sein Zimmer getragen und dazu »Charlie Brown« gesungen.
War das jetzt aus, vorbei, Schnee von gestern?
Als Müller seine
Koffer wieder eingepackt hatte, sich verabschiedete und dafür die
reiche arabische Sprache bemühte, nickte Achmed nur und sagte
beiläufig: »Bis zum nächsten Mal, mein Freund.«
»Kann es sein«,
fragte Müller leise auf Englisch, »dass dein geliebter Onkel
Hussein dir alle diese wunderbaren Nachrichten zugeflüstert hat,
weil er weiß, dass du sie mir sagen wirst, und weil er möchte, dass
wir annehmen, wir stehen dicht vor großen Schweinereien in
Nahost?«
Achmed zeigte sein
Pokergesicht, also fuhr Müller fort: »Natürlich betonen die Amis:
Jetzt muss die Diplomatie ran! Aber eigentlich ist es schon längst
zu spät, eigentlich sind sie schon da. Möglicherweise käme dann
mein Außenminister zu spät, möglicherweise würde mein Außenminister
sogar auf jede Art zu vermitteln verzichten. Will dein teurer Onkel
das?«
Achmed blinzelte,
öffnete die Augen dann weit, blickte angeekelt zum nicht sichtbaren
Himmel. Er umarmte Müller nicht, er sah ihn nicht an, er bellte
nach hinten in seinen Laden: »Wer, zum Teufel, hat hier nicht
aufgeräumt?«
Müller nahm die
Vertreterkoffer auf und ging langsam zu einem Taxistand um die
Ecke.
Er war in einem
fieberhaften Zustand, und er war zugleich wütend. Achmed war über
die Jahre hinweg ein verlässlicher Partner gewesen, jetzt schien
das alles infrage gestellt, und Müller wusste, dass er eine
schnelle Lösung nicht kriegen würde. Achmed war hochintelligent,
Achmed war ein blendender Spion, aber er war auch ein harter
Brocken. Ende der Gemütlichkeit. Was, um Gottes willen, war da
geschehen?
Er hatte jetzt eine
schnelle Entscheidung zu treffen, und er entschied sich
augenblicklich. Er ließ sich zurück zum Hotel fahren, schleppte die
Vertreterkoffer mit höchstmöglicher Geschwindigkeit sechs
Stockwerke hoch und registrierte dankbar, dass sich durch die
Anstrengung Gelassenheit einstellte.
Er rief mit einem
besonderen Handy eine sichere Leitung an und verlangte Krause,
indem er sagte: »Sechsviereinssechs.« Dann wartete er etwa dreißig
Sekunden, während die Leitung komplett verwürfelt
wurde.
»Ich
höre.«
»Ich brauche Hilfe.
Unser Mann schert aus.«
»Was sagte
er?«
»Zwei Dinge.
Amerikaner sickern in den Iran ein, und es ist Öl gefunden
worden.«
»Aber Sie denken, er
schert aus. Kann es sein, dass Sie irgendwie verspannt
waren?«
»Negativ.«
»Wollen Sie warten
und erneut nachfragen?«
»Negativ.«
»Beurteilung der
Informationen?«
»Sehr
dringend.«
»Kommen Sie nach
Hause.«
Müller war
erleichtert, er empfand diese Stadt zum ersten Mal als Bedrohung.
Er wollte heim zu seinem Vater, und er fummelte an seinem
Armkettchen herum und dachte an seine Tochter.
Er bekam einen Flug
nach Zürich, konnte in einen Flieger nach Berlin umsteigen und
landete dort um 21.35 Uhr. Vom Flughafen fuhr er direkt ins Amt,
ging in sein Büro und setzte sich an den Computer. Er schrieb
seinen Treffbericht mit einer ausführlichen Schilderung der
Unwägbarkeiten, die Achmeds Benehmen in ihm ausgelöst hatte, und
druckte ihn aus.
Dann brachte er ihn
in Krauses Büro und war nicht sonderlich überrascht, dass Krause
gedankenvoll hinter dem Schreibtisch hockte.
»Hier ist der
Bericht. Ich fahre jetzt ins Krankenhaus zu meinem
Vater.«
»Ja, tun Sie das«,
murmelte Krause. »Haben Sie irgendeine Vorstellung, warum Achmed so
war?«
»Habe ich nicht. Ich
war erstaunt, dass er plötzlich über Militärisches berichtete.
Gewöhnlich stelle ich immer die Frage nach Hamah, weil die Syrer
dort ihre Raketenwaffen entwickeln. Diesmal kam ich nicht dazu, zu
fragen, diesmal kam er sofort auf Onkel Husseins Schilderungen von
den Gruppen, die in den Iran sickern.«
»Gut. Geht eine Kopie
an Operative Sicherheit?«
»Morgen
früh.«
»Machen Sie es jetzt.
Sowinski ist noch am Tisch.«
»Geht klar. Ich
möchte eine Frage stellen. Haben wir eine Nachricht von Svenja aus
Nordkorea?«
Krause hob erst jetzt
den Kopf und sah ihn an.
»Sie mögen sie, nicht
wahr?«
»Ja.«
»Es gibt, sagen wir
mal, eine halbe Nachricht. Eine befreundete Station in Südkorea hat
einen Funkspruch aufgefangen, wonach sich zwei Leute an die
Ostküste durchzuschlagen versuchen. Wir nehmen an, das ist Svenja
mit einem Mann, den sie treffen und herausholen sollte.
Wahrscheinlich sind sie abgetaucht und stellen sich tot. Wenn sie
es schaffen, sage ich es Ihnen sofort.«
»Danke. Bis morgen
also.« Müller hatte immer wieder von Svenja geträumt und davon,
dass er sie vielleicht lieben könnte. Sie schien so etwas wie ein
Ziel, das man nie erreichte. Er ging hinaus, druckte den Bericht
ein zweites Mal aus und brachte ihn zu Sowinski, der genauso
versunken und nachdenklich an seinem Schreibtisch hockte wie
Krause. Aber Sowinski nickte nur und sagte kein einziges
Wort.
Müller brauchte gut
dreißig Minuten bis zum Krankenhaus und wurde dort trotz der späten
Zeit anstandslos zum Krankenzimmer seines Vaters gelotst.
Erleichtert stellte er dort fest, dass seine Mutter schon nach
Hause gegangen war. Er hätte nicht gewusst, wie er ihr hätte Trost
und Mut spenden sollen. Stattdessen war gerade eine
Krankenschwester im Zimmer.
»Ich komme aus dem
Ausland«, erklärte er. »Wie geht es meinem Vater? Und wie stehen
seine Chancen?«
Das Gesicht der
Schwester wirkte erschöpft. Sie war um die fünfzig, dünn, hager
fast, mit einem kantigen Kopf, auf dem das kurze, silbrige Haar wie
aus Protest in alle Richtungen stand.
»Wir liefern keine
Wunder«, sagte sie. »Wir können nur sagen, dass sein Zustand stabil
ist. Aber das heißt noch nicht, dass er überleben wird.« Sie sah
ihn an und lächelte mitfühlend. »Kann ja auch sein, dass er nicht
mehr will. Gehen Sie zu ihm, und halten Sie seine Hand.
Wahrscheinlich spürt er das.«
»Ja, danke«, murmelte
Müller und schob den Vorhang vor dem Bett seines Vaters zur
Seite.
Da stand ein Stuhl,
wahrscheinlich hatte seine Mutter darauf gesessen, Stunde um
Stunde. Irgendwelche Skalen zeichneten Leben, Lichter blinkten in
Grün, Rot und Gelb. Der Inhalt einer Infusionsflasche wurde Tropfen
um Tropfen in den Kranken entleert. Er lag mit geschlossenen Augen
da, das linke Augenlid flatterte heftig.
»Ich bin es, der
Karl«, sagte Müller und setzte sich. Er griff nach der linken Hand
des Vaters, die ohne Infusionsnadel war. Am Zeigefinger ein
Pulstastgerät. Aus dem linken Mundwinkel lief ein Speichelfaden,
der Atem war kaum zu hören. Die Hand war warm.
»Ich bin es, Karl«,
wiederholte Müller. »Ich komme gerade vom Flughafen von einer
Dienstreise und bin ziemlich kaputt. Sie sagen hier, du hast die
besten Chancen. Bald wirst du aufwachen, und dann kriegst du
Sauerkraut und Eisbein und Kartoffelpüree. Blaue Trauben natürlich
auch. Alles, was du gern isst. Von Mama soll ich grüßen. Sie ist zu
Hause und versucht, ein wenig zu schlafen. Auch von Melanie soll
ich grüßen, und Anna-Maria schickt dir einen dicken Kuss.« Er
tätschelte die Hand unbeholfen, er hatte seinen Vater ein Leben
lang immer nur sehr vorsichtig berührt, und er konnte sich nicht
daran erinnern, jemals mit diesem Vater über den Rasen getollt zu
sein.
»Wenn du gesund
wirst, fahren wir alle zum Titisee oder nach Amrum, egal, wo du hin
willst. Und ich nehme mir vierzehn Tage Ferien, und wir gehen
zusammen durch die Wälder oder am Strand lang.«
Sein Vater stieß ein
Krächzen aus, wahrscheinlich war es ein Husten. Das rechte Augenlid
flatterte jetzt auch, und es kam ihm so vor, als versuche sein
Vater die Augen zu öffnen.
»Ich bin es, Karl«,
sagte er wieder. »Mach die Augen einfach auf, kann doch nicht so
schwer sein. Aber wahrscheinlich habe ich gar keine Ahnung, und es
ist schwer, und du lächelst über meine blöde
Bemerkung.«
Wieder dieses
Krächzen, und diesmal zuckte auch die Hand mit der
Infusionsnadel.
»Soll ich die
Schwester rufen, willst du irgendetwas?«
Das Atmen wurde ein
wenig lauter.
»Kann es sein, dass
du mich hörst? Kann das sein?«
Das Flattern des
rechten Lids hörte auf.
Der Atem wurde wieder
leise.
»Ich gehe jetzt und
komme morgen wieder. Und ich denke, dir geht es dann besser und du
kannst mich erkennen.«
Müller konnte das
Elend, dieses schwache Stück Leben nicht mehr ertragen. Er ging und
spürte das Sterben seiner Hoffnung wie einen dumpfen Schmerz im
Bauch. Als er die Station verließ, als die Milchglastür sich hinter
ihm mit einem Seufzen schloss, weinte er.
Er fuhr langsam durch
die Nacht nach Hause und öffnete die Haustür vorsichtig, um nicht
zu stören. Er stellte den Koffer wie immer in die Küche, damit er
nicht auf der dröhnenden Holztreppe irgendwo aneckte. Dann setzte
er sich ins Wohnzimmer und starrte hinaus in den Garten, den er
verächtlich Ödland nannte, weil nichts darin seinem Bild von einem
Garten entsprach. Kurzer, ungesund grüner Rasen, keine Wildblumen,
die Tulpen eingezwängt in Erdvierecke, ein so genannter Teich von
zwei Quadratmetern Größe, in dem irgendeine Pflanze einem mickrigen
Goldfisch Deckung bot. Es war der sechste Goldfisch, die fünf
vorher waren wahrscheinlich wegen drückender Einsamkeit
eingegangen.
Er wünschte sich,
sein Vater möge wieder gesund werden. Vielleicht war es möglich,
mit ihm über das Leben zu sprechen und über das, was er sich
darunter vorstellte. Vielleicht konnte er ihm dann die Jahre bei
der Polizei erklären, und weshalb er jetzt beim
Bundesnachrichtendienst arbeitete. Sein Vater hatte nur abfällig
geäußert: »Die Schlapphutbrigade? Die versagen doch ständig.«
Müller war laut geworden: »Woher weißt du das eigentlich?« »Von
klugen Journalisten«, hatte sein Vater gebellt. »Genau, die
arbeiten ihre persönlichen Defizite an uns ab!«, hatte Müller
gebrüllt. Sie hatten nie wieder darüber gesprochen.
Vielleicht ist es
gut, wenn er stirbt, dachte er plötzlich. Dann muss er nicht
miterleben, wie diese Familie auseinander fällt. Das würde er
sowieso nicht verwinden, da würde er vollends
verstummen.
Auf der Treppe war
ein Geräusch, dann kam Melanie in den Raum. Sie feierte ihre
Schönheit in einem lang herabfließenden, halbdurchsichtigen Gewand
und sagte: »Ich habe dich gar nicht gehört. Wie war die
Reise?«
»Normal«, sagte er.
»Nichts Besonderes. Ich war noch bei Papa im
Krankenhaus.«
»Und? Wie geht es
ihm?«
»Na ja, er liegt im
Koma. Jedes Mal, wenn du glaubst, er schlägt die Augen auf,
passiert nichts.«
»Und was sagen die
Ärzte?«
»Sie können keine
Wunder vollbringen, nur abwarten. Vielleicht schafft er es ja. Wie
geht es Anna-Maria?«
»Klasse. Wir waren
heute Nachmittag im Zirkus. Und sie hat gejubelt. Sie hat noch auf
dem Weg nach Hause Beifall geklatscht.«
»Ich muss dir etwas
sagen, Melanie. Ich habe gestern mit meiner Mutter gesprochen. Sie
erzählte, du hättest nicht kommen können, weil du niemanden hattest
für Anna-Maria. Ich würde dich bitten, auf solche Touren zu
verzichten. Denn Astrid oder Eva können die Kleine immer für zwei,
drei Stunden nehmen. Und dann bin ich auch der Meinung, dass
Anna-Maria alt genug ist, den todkranken Opa zu besuchen, und
…«
»Auf keinen Fall!«,
rief Melanie hoch und schrill.
»Du kannst sie nicht
vom Leben fern halten«, wandte er ruhig ein. »Das eigentliche
Problem dabei bist du. Du willst meinen Vater nicht
sehen.«
»Nicht so, wie er da
liegt.«
»Wie liegt er denn
da?«
»Na ja, irgendwie
halb tot, oder? Mit Schläuchen und so, oder? Mit all diesen
tickenden Uhren und den furchtbaren Geräuschen, das kennt man doch
aus dem Fernsehen. Und dieses Gurgeln. Das kann ich nicht ertragen.
Ich will ihn lebend in Erinnerung behalten.«
»Er stirbt aber
vielleicht.«
»Das kann ich
nicht.«
Er
nickte.
Es hatte nicht den
geringsten Sinn, weiterzusprechen. Was immer er sagte, sie würde es
abblocken.
»Ich bin todmüde«,
murmelte er. »Ich möchte schlafen.«