SECHSTER TAG
 
Diesmal kamen beide Träume, diesmal mischten sie sich, und es gab es keine Flucht.
Es herrschte Halbdunkel, und er stand mit Gerd, den sie Gerry nannten, vor der Tür mit den dicken Milchglasscheiben. Er hatte die Griffe der Ramme ganz fest in beiden Händen. Gerrys Gesicht war dicht vor seinem, und sie ließen die Ramme langsam nach außen schwingen. Dann nickte Gerry, und sie schoben die Ramme mit aller Gewalt nach vorn. Er hörte, wie das dicke Glas zerbarst, er sah, wie die Tür aufsprang und wie sein rechter Arm dicht am Handgelenk in das Glas hineinfuhr. Es war ein unglaublich heißes Gefühl, und das Blut kam sofort und sah hellrot aus. Es sprudelte aus dem Arm, war nicht zu stoppen, und jemand hinter ihm sagte: »Oh Gott, was ist das?«
Dann schossen die Männer an ihm vorbei in den Raum, und er sackte ganz langsam an der Wand in seinem Rücken herunter. Gerry murmelte hilflos: »Du brauchst Hilfe, Kleiner.« Sie nannten ihn alle Kleiner.
Das Licht blieb, es wurde nur ein wenig blauer. Er bewegte sich jetzt allein, der Flur vor ihm war seltsamerweise mit alten Säcken verhängt, die nach oben ins Endlose führten. Er trug die Waffe mit beiden Händen, und jemand vor ihm sagte: »Du blutest ja wie ein Schwein.« Er kannte den Mann nicht, hatte ihn noch nie gesehen. Er sah, wie das Blut aus der Wunde lief und wie ein Rinnsal davon auf die Waffe tropfte, und er hatte plötzlich eine panische Angst davor, die Waffe könne versagen.
Vor ihm war ein helles Viereck, dahinter waren die Geiseln und die Geiselnehmer. Das war ganz sicher, das hatten sie herausgefunden. Der Mann vor ihm drehte sich um und flüsterte: »Den Rest machst du!« Und dann schlug der Mann einen der Säcke beiseite und verschwand dahinter.
»Das ist gegen den Plan!«, sagte er, aber es war niemand da, der ihn hören konnte.
Dann füllte ein Mann die Türöffnung vor ihm. Und der Mann hob unendlich langsam beide Hände. Und er hatte irgendetwas in den Händen, natürlich eine Waffe, was sonst. Müller schoss. Er war ganz sicher, nur einmal geschossen zu haben, aber das Hemd des Mannes vor ihm sprang auf und entblößte seinen weißen Körper. Und der Körper hatte Löcher, unendlich viele Löcher, und aus allen Löchern sprudelte ihm Blut entgegen, und Müller glitt aus, weil so viel Blut auf dem Boden war.
Dann sah er, dass er durch eine sumpfige Flüssigkeit ging, in der sich Tiere bewegten, dicke, weiße, quabbelige Tiere. Maden von riesigem Ausmaß. Und Müller drehte sich herum, um aus der Flüssigkeit zu entkommen, und schrie. Da war niemand, der ihn hören konnte.
»Mein Gott!«, rief Karen laut. »Karl! So hör doch!«
Er stand am Kopfende des Bettes in den Kissen, und er wusste augenblicklich, wo er war.
Er seufzte angewidert: »Nein!«
»Was ist denn, Liebster?«
»Ich … ich weiß es nicht.«
»Das ist ja furchtbar. Du hast geschrien, richtig schlimm geschrien. Was war denn?«
»Ein Polizistentraum«, sagte er hohl. Dann ließ er sich in die Knie sinken und verfluchte die Minute, in der er Karen zum ersten Mal gesehen hatte. Er sagte mit trockenem Mund: »Ich schäme mich so.«
Sie war blass und zitterte. Sie nahm eine Decke und legte sie sich um die Schultern.
Es war drei Uhr.
»Aber warum? Ich bin es, Karen.«
Er atmete schwer und hastig und antwortete nicht.
»Was ist ein Polizistentraum?«, fragte sie eindringlich.
»Ich war einmal ein Polizist«, sagte er und hatte Mühe, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen.
»Und was ist da passiert?«
»Ich habe einen Mann erschossen.«
»Ja? Und?«
»Er war verheiratet und hatte zwei Kinder.«
»Du erschießt doch nicht einfach einen Mann. So etwas macht niemand. Karl, tu mir einen Gefallen und rede mit mir.«
»Es ist so schwer«, murmelte er. »Alles ging schief.« Sein Atem hatte sich beruhigt. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem Kopfteil des Bettes und starrte in eine Landschaft, die niemand außer ihm sehen konnte. »Später kamen dann Träume. Sie hören nicht auf.« Er sah sie an. »Es tut mir Leid. Ist da in der Minibar ein Whisky oder ein Kognak?«
»Ich schaue nach«, sagte sie. Sie glitt vom Bett. »Es ist beides da.« Sie hielt zwei kleine Fläschchen hoch.
»Den Kognak, bitte.«
Sie goss ihn in einen kleinen Kognakschwenker und reichte ihn über das Bett.
»Danke«, sagte er und trank. Aber es half nicht, zurück blieb ein schaler Geschmack.
»Hast du denn keinen Therapeuten bekommen?«
»Nein, habe ich nicht. Die Untersuchungskommission hat mir eine Belobigung ausgesprochen, und wir haben nicht weiter darüber geredet.«
»Das müssen Arschlöcher gewesen sein.« Ihre Stimme war sehr hart und endgültig.
Er antwortete nicht, sondern starrte nur auf das Bettlaken, gefangen in seinem schlechten Traum. Er schüttelte sich, er fror jetzt auch.
Nach einer Unendlichkeit sagte er: »Ich muss gehen.«
»Aber was willst du mitten in der Nacht?«
»Überlegen«, erwiderte er. »Mir den Kopf freischaufeln. Mich darauf vorbereiten, dass mein Vater gleich beerdigt wird. Meiner Mutter beistehen. Leuten die Hand geben, die ich nicht mal kenne. Meine Tochter wieder sehen, Phrasen dreschen.« Er schluchzte trocken. »Und natürlich an dich denken.« Dann sah er sie an. »Ich muss hier raus, ich kriege keine Luft.«
»In Ordnung. Und melde dich mal, wenn es geht.« Sie war betroffen und verstört, sie bemühte sich, ihn zu verstehen, und sie spürte, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Es gab zu vieles, nach dem sie fragen wollte, und er hatte keine Zeit für die Antworten.
Sie sah ihm zu, wie er sich anzog.
»Musst du auch in diese Wohnung, die du nicht magst?«
»Ja, muss ich auch.«
Er küsste sie lange und hielt sie umfangen, dann ging er.
 
Im Osten war ein sanfter Schimmer des Tages, in einer flachen Pfütze badeten Spatzen, er atmete tief durch. Er fuhr vorsichtig, weil er noch immer zitterte.
Er stellte das Auto auf dem Innenhof ab, stand dann in seiner Behausung und fragte sich, warum er Karen so schnell hatte verlassen müssen. Er antwortete: weil ich nicht will, dass ein Mensch so nah an mich herankommt.
Er hockte sich in den scheußlichen Sessel und sah über die Straße hinweg einem Mann zu, der sich gemächlich anzog und dazu aus einem Becher trank. Dann ging in der Etage unter dem Mann das Licht an, und eine junge Frau zog Vorhänge vor, um ungestört zu sein.
Müller dachte an seine Zeit beim SEK der Polizei und daran, dass sich schon damals gezeigt hatte, dass es wenig Sinn hatte, eine Familie zu gründen, wenn man ihr nichts von dem mitteilen konnte, was einen umtrieb.
Wahrscheinlich war es nur logisch, dass er Karen ausradierte, dass er irgendeine Entschuldigung vorbrachte, ihr versprach, sich zu melden, um sie dann einfach zu vergessen.
Er zog die Vorhänge vor und kleidete sich dann aus, um zu duschen. Unter dem heißen Wasser ließ er sich Zeit, bis sich die Verkrampfung etwas löste. Er dachte an Nour und an Achmed und daran, dass die Zeit ihrer Unschuld ein für alle Mal vorbei war. Als er sich auf Achmed konzentrierte, ertappte er sich dabei, dass er mit ihm redete, als sei er tot. Dann wanderten seine Gedanken zu seiner Tochter Anna-Maria, und er bekam eine unerklärliche Angst, die so intensiv war, dass er schnell aus der Dusche trat, weil er glaubte, er kriege keine Luft mehr.
Er kochte sich drei Eier hart, strich sich Butter auf ein Brot, machte sich einen Kaffee und setzte sich dann in der Unterhose an den niedrigen Tisch.
Er hörte im Radio den wütenden Kommentar eines Redakteurs, der der Regierung vorwarf, keine Rezepte zu haben und zum Raub des Kobalt 60 keine eindeutige Stellung zu beziehen.
Als das Telefon schrillte, war es 4.15 Uhr.
»Also, wir haben eine Marschroute bezüglich Pasewalk«, sagte Krause. »Entschuldigung, dass ich Sie zu nachtschlafender Zeit anrufe, aber ich fürchte, später wird es mir nicht mehr gelingen.«
»Das geht in Ordnung«, sagte Müller. »Ich habe schon etwas länger ausgeschlafen.«
»Gut. Wir arbeiten in drei Wellen. In der Gegend fallen Fremde auf, dort fällt jeder auf, der mit mehr als zwei Begleitern unterwegs ist. Und: Wir haben tatsächlich eine Spur in Richtung Pasewalk. Ein vollkommen Irrer hat angerufen und behauptet, die Russen, die wir suchen, seien ihm im Traum erschienen und hielten sich in einer abgelegenen Scheune verborgen. Wie auch immer. Die dort liegende Bundeswehr geht bereits ab fünf Uhr morgens mit vielen Patrouillen ins Gelände. Was immer sie sehen mögen, sie werden nicht reagieren und so tun, als hätten sie nichts gesehen. Dann kommen in der zweiten Welle wir mit etwa zwanzig zivilen Fahndern, die natürlich nicht rudelweise auftreten, sondern vereinzelt. Was immer sich daraus ergeben mag, wir werden ständig unterrichtet sein. Die dritte Welle besteht in einem SEK, dem Sie angegliedert sind – embedded, wie es in der neudeutschen Sprache so schön heißt. Diese Leute werden sich auf Ziele konzentrieren, hinter denen sich möglicherweise etwas verbirgt. Das heißt, Sie werden die alten Klamotten tragen, die Ihnen vertraut sein dürften. Und ich verbinde damit die inständige Bitte, dass Sie nicht den Helden spielen. Sie sind nur Gast. Dieses SEK hat auch Detektoren bei sich, die Strahlung messen können. Ich habe mich mit dem SEK darauf einigen können, dass Sie um fünfzehn Uhr hier bereitstehen und aufgenommen werden. Ist das okay?«
»Ja, das ist in Ordnung«, sagte Müller. »Wer leitet das SEK?«
»Ein Mann namens Schneider. Der behauptet, Sie von früher zu kennen.«
»Ja, ich erinnere mich. Noch eine Bitte. Das bisher vorliegende Material über Helmut Breidscheid ist zu vage. Ich würde anregen, eine große Personenanfrage zu starten. Was ich gelesen habe, ist nichts sagend. Er ist ein stinkreicher Typ, der stets und ständig auf der ganzen Welt Geschäfte macht, Waisenhäuser finanziert, von der katholischen Kirche in den Himmel gehoben wird, blablabla. Da hätte ich gern mehr.«
»Goldhändchen ist bereits auf der Spur«, sagte Krause. »Die große Personenanfrage unterschreibe ich. Ich habe den Treffbericht Damaskus gelesen. Gute Arbeit.« Dann unterbrach er.
Müller aß geruhsam zu Ende und stellte fest, dass seine Gelassenheit langsam zurückkehrte. Er hielt sich die linke, dann die rechte Hand vor Augen und konnte kein Zittern mehr feststellen.
Als er das Haus verließ, war es 5.15 Uhr.
Er erinnerte sich an die alte kleine Kirche dicht bei seinem Elternhaus, in die er gegangen war, wenn eine schwierige Mathematikarbeit in der Schule anstand. Tatsächlich war sie alt, schäbig und völlig schmucklos. Niemand feierte dort mehr einen Gottesdienst, und nur einem alten Bürgerverein war es zu verdanken, dass sie nicht längst abgerissen war. Müller verband mit dieser kleinen Backsteinkirche eine sehr lange, persönliche Geschichte. Niemals hatte er das, was er in dieser Kirche tat, als Gebet bezeichnet, er hatte es immer nur als eine Möglichkeit gesehen, sich selbst infrage zu stellen und herauszufinden, was ihn trieb. Mit einem Lächeln erinnerte er sich an seinen Vater, der einmal aufgebracht geäußert hatte: »Wenn du in dieser Kirche bist, weil du klar sehen willst in deinem Leben, dann ist das, was du dort verrichtest, ein Gebet.« »Nein«, hatte er erwidert. »Ich bete nicht, ich flehe niemanden um Hilfe an, niemand soll mich stark machen, ich bin nicht hilflos. Ich kann nur die Stille ausnutzen, um intensiver an mich selbst heranzukommen.«
Jetzt hockte er wieder in diesem Rest von Kirche, in dem nur zwei Bankreihen geblieben waren und ein großer, blank liegender Klotz aus rotem Sandstein, der einmal der Altar gewesen war. In dem kleinen Altarraum hatte jemand mit schwarzer Farbe an die weiße Wand geschrieben: »Jesus war auch nur ein kleiner Pisser!« Und gleich daneben stand: »Ute, ich liebe dich.«
Ja, Papa, du hast die Reise hinter dich gebracht, und gleich legen sie dich in dein Grab, dachte Müller. Damit hast du mir eine grundsätzliche Erfahrung voraus. Ich war heute Nacht wieder mit dieser Frau zusammen. Und ich hatte einen Albtraum neben ihr. In meinem Hirn lauern Träume, Papa, und eigentlich hätte ich mit dir darüber sprechen müssen. Ich habe dir nie gesagt, dass ich einen Menschen erschossen habe. Ich habe dir auch nie gesagt, dass ich meinen Dienst bei der Polizei deswegen aufgeben musste, weil ich mich bei einem Einsatz knochentief und dreißig Zentimeter lang über dem rechten Handgelenk verletzt habe, was dazu führte, dass ich mit rechts nicht mehr so gut schießen konnte wie mit links. Ja, Papa, wir beim SEK mussten mit rechts wie mit links schießen können. Und ich war mit Abstand der beste Schütze mit der Faustfeuerwaffe und dem Präzisionsgewehr, mit links und mit rechts. Meine Ausbilder haben gesagt: Er verschmilzt mit der Waffe. Ja, ich weiß, Papa, ich weiß genau, was du gesagt hättest. Wie kann man einen Beruf ergreifen, in dem man danach beurteilt wird, wie gut man schießt? Mit anderen Worten: Wie gut man einen Menschen erschießt. Du hättest getobt, Papa, du hättest mich einen potenziellen Mörder genannt, und du hättest mich gefragt, was ich denn, um Himmels willen, in so einem Männerklub zu suchen habe. Und du wärst mir todsicher mit falsch verstandenem Vaterland und Dienst für einen nichtsnutzigen Staat gekommen, dabei war ich dort zu Hause, Papa. Es war mein Orden, und an den Staat haben wir nie gedacht.
Ich erinnere mich an die Szene, als ich dir nach dem Polizeidienst sagte, ich würde jetzt erst einmal studieren, ehe ich einen anderen Job antrete. Ich erinnere mich, weil es in deinem Arbeitszimmer war, mit dem riesigen Schreibtisch und den hohen Türen zum Garten. Der Raum hat mir immer Angst gemacht. Ich sah dein Gesicht, ich sah, wie die Hoffnung darin aufkeimte, und ich hörte dich sagen: »Prima! Endlich findest du deine wahre Linie!« Und als ich sagte, ich würde Politik studieren mit dem Schwerpunkt Naher Osten und außerdem Arabisch lernen, da sackte dein Gesicht nach unten wie diese verlaufenden Uhren von Dalí. Und du hast arrogant gefragt, wozu denn das nützlich sein könnte. Du hattest keine Ahnung, dass ich schon im nächsten Orden steckte, diesmal beim Bundesnachrichtendienst, diesmal bei den Jägern der Nachrichten. Und tatsächlich wolltest du auch Einzelheiten gar nicht wissen, weil du in deinen geliebten, so genannten seriösen Tageszeitungen gelesen hattest, dass meine Institution häufig versage und von Krisen geschüttelt werde. Aber das war immer nur ein Tausendstel der Wahrheit, denn wir sind verdammt gut. Natürlich abgesehen von den periodisch auftretenden Riesenschwätzern, die wir eine Zeit lang ertragen müssen. Und ich wollte nicht mit dir reden, dich auch nicht überzeugen, denn für mich warst du in diesen Jahren nichts anderes als ein Besserwisser, ein sturer Kopf, ja, ein leeres Hirn, das sich weigerte zu denken. Warum hast du mich nicht nehmen können, wie ich war? Du hast niemanden nehmen können, wie er war. Wahrscheinlich ist das ein Manko von Pädagogen. Und warum konnten wir nicht miteinander sprechen? Du hast mich zuweilen so eiskalt abfahren lassen, dass mir jede Frage verging.
Er fuhr mit beiden Händen über den abgesplitterten Lack der Bank vor ihm.
Er empfand es als einen schmerzlichen Zustand, dass niemand ihm widersprach, niemand Partei ergriff.
Anna-Maria, fuhr er in seinen Gedanken fort, ich weiß nicht, wie ich dir das Durcheinander in mir erklären kann. Ich habe keine Ahnung, was du schon verstehst und was du nicht verstehen kannst. Und ich bin wahrscheinlich der schweigsame Sohn eines schweigsamen Vaters. Du wirst mich als Besucher erleben, als jemanden, der dich von Zeit zu Zeit besucht und fragt, ob wir zusammen ein Eis essen gehen oder einen Kinderfilm anschauen sollen. Als jemanden, der ein Leben lebt, von dem du kaum etwas weißt. Die Vorstellung macht mich verrückt, denn es wird so sein, dass ich dich verliere und dich niemals mehr so erleben werde, wie ich dich erlebt habe.
Du siehst so süß aus, wenn du schläfst …