DRITTER TAG
Müller schrieb ein PS
zu seinem Treffbericht Damaskus. Er führte aus: »Ich will noch
einmal zurückkommen auf die Unwägbarkeiten bei der Einschätzung
Achmeds. Er zählte, wie bereits erwähnt, die ihm übergebenen
fünftausend US-Dollar nicht, was noch niemals vorgekommen ist. Ich
hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich störe. Er machte während
unseres Gesprächs immer wieder einen unkonzentrierten Eindruck,
seine Gedanken glitten ab. Einmal erwähnte er sogar hastig, er habe
vergessen, mir mitzuteilen, dass bereits drei Gruppen der
US-Amerikaner in den Nordiran eingesickert seien. Auch so etwas ist
noch nie passiert. Was mir jedoch besonders auffiel, war, dass er
kein einziges Mal seinen Laptop erwähnte, kein neues Programm haben
wollte, nicht von seinen neuesten Entdeckungen berichtete, die er
im Internet gemacht hat. Das ist noch nie vorgekommen, seit dieses
Amt ihm den Laptop übergab. Meiner Einschätzung nach war er
hellwach, aber dauernd abgelenkt durch irgendetwas, an dem ich
nicht teilhaben sollte oder teilhaben durfte. Es spielte sich in
seinem Kopf ab. Gez. Müller.«
Es war 8.16 Uhr,
Müller hatte schlecht geschlafen und saß seit sieben Uhr hinter
seinem Schreibtisch. Er hatte die Hamburger Leitung überprüft, ob
sich Achmed möglicherweise gemeldet hatte. Aber da war
nichts.
Er rief die
Intensivstation an und bat, seine Mutter an den Apparat zu
holen.
Er sagte: »Ich war
gestern Abend noch bei ihm, aber er war nicht ansprechbar. Wie geht
es ihm jetzt?«
»Sie sagen, er hatte
eine gute Nacht. Sonst ist alles unverändert. Wo bist du denn
jetzt?« Ihre Stimme klang erstaunlich sachlich.
»Ich bin hier im Amt,
ich sitze am Schreibtisch. Gehen wir heute zusammen zur Bank, dass
du an das Geld kommst?«
»Ja, das wäre
gut.«
»Dann bin ich gegen
elf Uhr bei dir.«
Er stand auf und ging
hinüber zu Krause, aber der hatte offensichtlich eine Konferenz
oder wichtige Telefonate. An der Türklinke hing der rote Punkt.
Müller erinnerte sich, dass er dieses Warnzeichen einmal übersehen
hatte und trotzdem hineingestürmt war. Krause in wütendem Zustand
zu erleben, war etwas, auf das er seither gut verzichten
konnte.
Er nahm seine zweite
Tagesaufgabe in Angriff. Er hatte zu jedem einzelnen Punkt, über
den ihm Achmed berichtet hatte, eine eigene Meldung zu machen.
Diese Meldungen liefen in dem Fall über Krauses Tisch und von dort
zur AuMe, zur Auftragssteuerung und Meldungsbearbeitung, die dafür
zu sorgen hatte, dass in den Texten mögliche operative Details
nicht erkennbar waren. Gleichzeitig gingen die Meldungen an die
Auswertung III. Die Auswertung wiederum erarbeitete aus diesen
Meldungen und allen parallel gewonnenen Erkenntnissen zur gleichen
Sache die Berichte, die an das Kanzleramt und an das jeweils
betroffene Ressort gingen. Und Krause schließlich würde als
Führungsstelle irgendwann die Echos dieser Berichte erleben. Es
würde nicht erkennbar sein, wer die Meldung geschrieben hatte und
aus welcher Quelle sie kam.
Vornehmlich den
jungen Mitarbeitern erschien dieses sich selbst am Leben erhaltende
System ein Unikum zu sein, auch etwas, das enorm störte. Aber einen
besseren Vorschlag schien niemand zu haben. Müller nannte es für
sich das Seufzer-System. Müller schrieb die Meldungen konzentriert
und schnell und versuchte dann herauszufinden, inwieweit Achmeds
Mitteilungen andere Quellen in Nahost betreffen könnten. Er fand
fünf Fragen und entwickelte Vorschläge für Krause, der dann die
Verbindung zu Partnerdiensten und eigenen menschlichen Quellen
suchen musste.
Frage: Ist die neue
israelische Firma Compudicta in Latakia bekannt? Firma anschauen.
Kontakt in Latakia möglich über G. G. wie gehabt. Konzentration auf
Mustafa aus Zypern, angeblich der Chef. Frage: Ist ein Israeli
namens Zvi bekannt, der angeblich ein neues Netz in Damaskus baut?
Wichtige Frage: Sind Ölfunde der Amerikaner an der südlichen Grenze
Syriens bekannt? Frage: Ist bekannt, dass Agenten der US-Amerikaner
durch Syrien entlang der Südgrenze der Türkei über den Irak in den
Iran geleitet werden? Frage: Ist bekannt, dass die syrische
Grenzschutzbrigade auf viertausend Mann hochgerüstet wurde?
Einstufung: Dringend.
Er überdachte die
Fragen auf ihre Logik, fand keinen Fehler und konnte sich
vorstellen, dass ab sofort Mustafa aus Zypern im syrischen Latakia
ebenso eingekreist sein würde wie die amerikanischen Ölsucher und
die amerikanischen Gruppen auf dem Weg in den Iran. Er nannte das
für sich eine Treibjagd, und er hatte noch niemals eine Treibjagd
ohne Ergebnisse erlebt.
Er ging erneut zu
Krauses Büro, es war nicht mehr blockiert.
Er legte die
Unterlagen vor ihn hin und sagte: »Ich habe ein PS an den
Treffbericht gehängt und die nächsten möglichen Fragen
entworfen.«
Krause nickte nur und
fragte: »Wie geht es Ihrem Vater?«
»Nicht gut. Ich
möchte um elf Uhr meine Mutter treffen. Sie hat keine Ahnung von
der finanziellen Seite, und sie braucht meine Hilfe. Es wird nicht
lange dauern.«
»Selbstverständlich.
Und können wir dann einen Spaziergang machen?«
»Ja.« Müller dachte
mit Unbehagen: Ausweichen geht ohnehin nicht, ich brauche eine
schnelle Klärung, und vielleicht hat er eine Idee.
»Dann noch etwas. Ich
habe eben Ihr PS im Computer gesehen. Kann es nicht sein, dass
Achmed eine neue Geliebte hat, die ihn mächtig aufregt, die
gewissermaßen sein ganzes Denken erfüllt?«
»Ja, das kann sein.
Aber ich würde sagen: Nein. Es muss irgendetwas anderes sein. Es
ist eben etwas nicht Beweisbares, es ist ein Gefühl. Er wollte mich
aus irgendetwas heraushalten.«
»Kann es sein, dass
er in eine seiner Nachrichten stark verwickelt ist? Beispielsweise
in die Nachricht von der Tarnfirma der Israelis in
Latakia?«
»Natürlich.«
»Und dann die
Geschichte mit dem Laptop, den er gar nicht erwähnte. Ist das so
gravierend?«
»Ja, das ist
es.«
»Ein
Beispiel?«
»Das habe ich. Wie
Sie wissen, gehen wir freundschaftlich miteinander um. Eines Tages,
es war beim vorletzten Treff, kamen wir am Rande von Damaskus in
einem Industriegebiet an einer Tankstelle vorbei. Wir waren im
Wagen von Achmed unterwegs. Achmed tankte, dann gingen wir in eine
Bude, in der es Kaffee gab. Da war ein französischer Truckfahrer,
der angab wie ein Sack Seife. Sein Truck wäre absolut
einbruchsicher, GPS-gesteuert. Und falls jemand versuchen würde,
ihn aufzubrechen, würde die Karre ein solches Geheul machen, dass
es noch in Bagdad zu hören sei. Na ja, Achmed hörte sich das an,
nahm seine Leinentasche mit dem Laptop und verschwand. Ich habe
nicht weiter auf ihn geachtet. Nach vier oder fünf Minuten kommt er
zurück und sagt zu dem Franzosen: ›Mein Freund, ich bin an deinem
Truck vorbeigekommen. Und der steht sperrangelweit auf!‹ Dem Kerl
quollen die Augen aus dem Kopf. Er rannte zu seinem Lkw, und der
stand tatsächlich offen. Ich habe das auch im Treffbericht damals
erwähnt. Ein zweites Beispiel: Ich war abends in Achmeds Haus zu
Gast. Ganz ungezwungen auf einen Schwatz. Und plötzlich erzählt
sein ältester Sohn, Papa habe bei einem vorbeifahrenden Linienbus
während der Fahrt die Türen aufgehen lassen. Das stimmte wirklich.
Achmeds Leben ist voll von derartigen Geschichten. Tatsächlich ist
er auch schon in den Daten vom Pentagon spazieren gegangen, und um
mir eine Freude zu machen, hat er die Gliederung der Bundeswehr im
Falle einer Krisensituation an den östlichen deutschen Grenzen
ausgedruckt. Auch das habe ich unter den Anmerkungen in einem
Treffbericht erwähnt. Was Computer anlangt, ist er eines dieser
Genies, einer dieser Alleskönner. Und niemals hat er mich gehen
lassen, ohne irgendetwas für seinen Computer zu bestellen, und sei
es auch nur ein Spiel für seine Söhne. Kein Wort diesmal, nicht ein
einziges. Es war so, als sei er nicht mehr Teil seiner
Welt.«
»Das wäre aber auch
erklärbar aus irgendwelchen privaten Umständen, die wir nicht
kennen?«
»Selbstverständlich«,
nickte Müller.
»Gut, bis später.
Ihre Folgefragen schaue ich mir an.«
Müller trabte in sein
Büro zurück, schlüpfte in seine leichte Jacke und verließ das
Amt.
Er war kurz nach elf
in der Klinik und fand seine Mutter neben dem Bett seines Vaters,
wie sie ihm aus der Tageszeitung Meldungen vorlas. Sie sah ihren
Sohn an, und eine leichte Verlegenheitsröte stieg in ihre
Wangen.
»Eine Schwester
meinte, er könnte das vielleicht hören.«
»Ja«, meinte Müller
und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe ihm auch etwas
erzählt, vielleicht kriegt er es wirklich mit.«
Das Gesicht des
Vaters war bleich bis grau, und das rechte Augenlid flatterte.
Wieder tropfte irgendeine Flüssigkeit in seine Adern.
Müller drückte seine
Hand und sagte: »Ich bin auch wieder hier, Papa. Wir müssen nur
kurz auf die Bank.«
Dann gingen
sie.
»Hat du deinen Pass
bei dir?«
»Ja. Ich bin so
hilflos, weißt du.«
»Ja, natürlich. Das
bin ich auch.«
Die Erledigung der
Bankgeschichte dauerte nur zwanzig Minuten, weil der Filialleiter
Müllers Mutter kannte und erklärte, er habe seine Tochter in einer
Klasse bei dem »Herrn Schuldirektor« gehabt, und der sei einer der
besten Lehrer gewesen, wie seine Tochter ihm immer wieder über die
Jahre versichert habe.
Dann standen sie
draußen in der Sonne und kamen sich verloren vor. Sie wandten sich
einander zu und waren verlegen.
Müller sagte: »Er
wird es schaffen, weißt du.«
»Dann bist du
optimistischer als ich. Wie wäre es mit einem Kaffee bei
Grüns?«
»Gut«, sagte er. »Die
Zeit habe ich noch.«
Ein Kaffee bei Grüns,
das war ein Schlüsselwort seiner Jugend. Alle Welt nahm dort einen
Kaffee und fühlte sich offensichtlich in der angestaubten
Konditorei wohl. Er erinnerte sich, dass er sogar seine erste große
Liebe dorthin zu einem Eis eingeladen hatte und dass er mit ihr
eine geschlagene Stunde lang an einem kleinen, runden Tisch auf
hohen, unbequemen Stühlen gesessen hatte – vollkommen wortlos,
vollkommen hilflos. Dann hatte die erste große Liebe verächtlich
gemeint, es gebe bessere Orte, und war verschwunden.
Grüns war für ihn
immer noch eine seltsam anmutende Gastronomie im Stil der späten
Sechziger, und vor allem ein Wald aus grünen Topfpflanzen, die aus
irgendeinem Grund niemals einzugehen schienen, obwohl der Gastraum
reichlich düster war. Er hatte es verächtlich Grüns Regenwald
genannt, als er unbedingt sein Elternhaus verlassen wollte, um
endlich auf eigenen Füßen zu stehen.
Maja, die erste
Liebe, hatte unendlich langes, dunkelbraunes Haar und war der
felsenfesten Überzeugung, auf sie warte ein Märchenprinz. Einmal
hatte sie ihm erlaubt, eine Hand auf ihren Busen zu legen, nur um
dann zusammenzuzucken und die Augen tellergroß aufzureißen wegen
der Ungeheuerlichkeit dieses Vorfalls.
»Ich dachte eben an
Maja«, erklärte er seiner Mutter auf dem Weg zu Grüns.
»Das arme Ding«,
sagte sie schnell. »Sie hatte mit achtzehn ihr erstes Baby, aber
keinen Mann. Und mit zweiundzwanzig hatte sie drei Kinder und noch
immer keinen Mann. So kann es gehen. Ihre arme Mutter ist ganz
neurotisch gestorben.« Dann kam die Frage, die er eigentlich seit
einer Stunde erwartete. »Sag mal, mein Lieber, wie geht es
eigentlich deiner Ehe?«
Weil er über die
Antwort schon lange nachgedacht hatte, sagte er knapp: »Es steht
nicht gut. Mein Beruf ist im Grunde nicht ehetauglich. Wir haben
keinen Zoff, falls du das meinst. Aber wir leben irgendwie
nebeneinander her. Sie in der Bank und ich im BND. Und es gibt kaum
Verbindungswege.«
»Kannst du dich denn
nicht versetzen lassen?«
»Kann ich nicht«,
antwortete er. »Will ich auch nicht. Als Sesselfurzer würde ich
depressiv.«
Sie schwieg eine
Weile, um schließlich zu fragen: »Und? Was soll jetzt
werden?«
»Ich weiß es nicht,
Mama, ich weiß es wirklich nicht.«
»Kannst du denn nicht
zurück auf irgendeinen angenehmen Posten bei der
Polizei?«
»Das geht nicht,
Mama. Die Polizei ist dicht, es gibt keine offenen Stellen, ich
würde also nur als Arbeitsloser enden oder bestenfalls Taxi fahren
oder Pizzas an die Haustür bringen.«
»Aber du hast
studiert, dich wird doch jeder nehmen.«
»Das war einmal,
Mama. Und das ist verdammt lange her.« Er dachte flüchtig, dass sie
jetzt vierundsiebzig Jahre alt war und in ihrem Häuschen wie in
einem Wolkenkuckucksheim gelebt hatte – abseits jeder neuen
Realität. Und er dachte auch, dass er sie liebte und eigentlich
immer geliebt hatte.
Er sagte behutsam:
»Weißt du, mir fällt auf, dass ich über viele Dinge mit Papa nicht
geredet habe. Und weil ich dringend mit ihm reden muss, sollten wir
dafür sorgen, dass er am Leben bleibt.«
»Ja, das wollen wir
tun«, sagte sie nach einer langen Pause. »Er ist wirklich ein guter
Mann gewesen, immer sehr sachte und beschützend.« Ein kleines
Lachen kam. »Und wir zwei haben auch über viele Dinge nicht
geredet. Er war nie redselig, weißt du.«
»Ja. Er war immer ein
sturer, alter, schweigsamer Bock. Und er hat immer gewonnen. Wenn
ich eine Klassenarbeit versaute, war er still wie eine Auster. Nur
einmal, als er nicht wissen konnte, dass ich ihn ansah, lächelte
er. Der Kerl lächelte über eine versaute Mathematikarbeit, das muss
man sich mal vorstellen! Du lieber Gott, er darf nicht
sterben.«
»Wir müssen viel
beten«, fügte sie sachlich hinzu.
»Aber noch lebt er«,
sagte Müller in reinem Trotz, und es kam ihm selbst wie ein Gebet
vor.
Sie tranken ihren
Kaffee schnell, weil das Café plötzlich von einer großen
Trauergemeinde besetzt wurde, die vom nahen Friedhof
kam.
Seine Mutter wollte,
dass er sie wieder in die Klinik fuhr, nicht in ihr Häuschen. »Da
bin ich so schrecklich einsam«, sagte sie, und er widersprach ihr
nicht.
Bevor sie ausstieg,
nahm sie seinen Kopf in beide Hände, drehte ihn zu sich und küsste
ihn leicht auf die Stirn. Sie sagte: »Ich werde dich dringend
brauchen.«
»Ja«, antwortete er
verwirrt. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihn jemals
so geküsst hätte. Er sah ihr nach, wie sie die breite Treppe
hinaufstieg und dann hinter den gläsernen Türen der Klinik
verschwand.
Dann fuhr er zu einem
kleinen türkischen Dönerrestaurant und ließ sich einen Teller voll
Geflügelfleisch mit einer Scheibe Brot geben, dazu ein Wasser. Von
seinem Platz aus sah er hinaus auf die Straße und dachte daran,
dass er hier schon als Oberschüler seinen Döner gekauft hatte und
dass es gut war, in dieser Stadt zu leben.
Der Anruf kam um
dreizehn Minuten nach eins.
Krause sagte ohne
Umschweife: »Sofort kommen, wir haben ein Dringend.«
Müller konnte sich
nicht daran erinnern, dass so etwas jemals vorher geschehen wäre.
Er ließ das Essen stehen, winkte dem verdutzten Türken hinterm
Tresen zu und rannte zu seinem Auto.
Es dauerte unendlich
lange achtzehn Minuten, weil irgendein kleiner Unfall die Straße
blockierte.
Er rannte aus der
Tiefgarage das Treppenhaus hoch und in Krauses Büro. Krause saß
rechts an seinem Schreibtisch, ihm gegenüber der Leiter Operative
Sicherheit Willi Sowinski. Sie sahen ihn beide an, bewegten sich
nicht, nickten nicht, wirkten wie Wachspuppen, und ihr Blick war
sehr intensiv.
»Nehmen Sie den Stuhl
da«, murmelte Krause. »Ich erzähle Ihnen jetzt mal, was vor rund
fünfundzwanzig Minuten hier passiert ist, damit Sie verstehen,
weshalb ich Sie gerufen habe. Irgendetwas Besonderes mit Ihrem
Vater?«
»Nein, leider alles
wie gehabt.«
»Gut. Dann ist da
noch ein wenig Hoffnung. Also, ich lese mir Ihre Fragen an die
Kollegen rund um Syrien durch und will mich noch einmal
vergewissern, dass ich nichts übersehe. Washington sollten wir
übrigens dazunehmen. Und ich studiere unser Fotoalbum Achmed. Da
kommt plötzlich mein Freund Sowinski rein, deutet auf ein schönes,
klares Farbfoto von Achmed und sagt: ›Den Knaben habe ich eben am
Flughafen Tegel gesehen.‹« Er machte eine Pause. »Was können Sie
mir dazu sagen?«
»Wie bitte?«, fragte
Müller verblüfft. »Das muss ein Irrtum sein.«
»Ist aber kein
Irrtum«, sagte Sowinski ohne jede besondere Betonung. »Ich kenne
die Akte Achmed genau, habe sie nach Ihrem Bericht extra noch mal
studiert, inklusive Fotoalbum. Ich habe jeden Treffbericht gelesen,
und ich habe Achmed definitiv wiedererkannt. Ich dachte, mich laust
der Affe. Es war exakt zwölf Uhr siebzehn. Wir haben jetzt ein
Problem, und zwar ein ziemlich großes.«
»Die Kameras«, sagte
Müller sofort. »Die Kameras auf dem Flughafen zeichnen doch auf
…«
»Die Filme sind
angefordert«, unterbrach ihn Sowinski und setzte nach: »Was fällt
Ihnen dazu ein?«
»Ich nehme zunächst
an, dass es stimmt. Aber dann tauchen Fragen auf. Zum Beispiel die,
welche Flugverbindungen er benutzte. Er musste unter diesen
Umständen damit rechnen, dass er mit mir in einem Flieger sitzt.
Das kann er unmöglich riskiert haben. Er hat mich noch gefragt, ob
ich eine weitere Nacht bleibe, und ich habe geantwortet, dass ich
es noch nicht weiß. Wo sind die Passagierlisten?«
»Kommen gleich«,
antwortete Sowinski.
»Ich muss mit seiner
Frau reden«, stellte Müller fest. »Unbedingt.«
»Noch zu früh«,
entschied Krause. Er sah Sowinski an: »Erinnerst du dich an sein
Gepäck? Hatte er irgendwelche Taschen oder so was?«
»Ich erinnere mich
nur an die klassische Laptop-Tasche. Flach, schwarz, Leder oder
lederartig, mit einem breiten Trageband. Muss aber kein Laptop
gewesen sein.« Dann sah er Müller an, und die Finger seiner rechten
Hand spielten auf der Schreibtischplatte ein Stakkato. »War Achmed
Ihres Wissens jemals im Ausland?«
»Nein, nie.« Müller
schüttelte den Kopf. »Er träumte von einer Öffnung Syriens, die es
ihm gestatten würde zu reisen. Aber unter der jetzigen präsidialen
Diktatur ist das nicht möglich. Also frage ich mich: Woher, zum
Henker, hat er das Visum?«
»Jedenfalls nicht von
der Botschaft in Damaskus«, antwortete Krause. »Anfrage gelaufen,
Auskunft eindeutig negativ. Kein Visum für Achmed. Aber vielleicht
hat er ja einen Aliasnamen verwendet, wie es viele in Nahost
machen. Wir hatten es schon mit Sympathisanten der Mullah-Szene zu
tun, die unter zwanzig verschiedenen Namen auftraten und für zehn
davon einen gültigen Pass hatten. Was läuft da?«
»Wir wissen es
nicht«, seufzte Sowinski nach einer Weile, »wir können nur daran
arbeiten.«
Krause sagte nicht
ohne Stolz: »Sie hatten jedenfalls mal wieder Recht. Achmed ist aus
dem Ruder gelaufen. Hat er jemals gesagt, er wolle mal gern nach
Berlin fliegen?«
»Ja, natürlich. Aber
das sagen sie alle, das ist nichts Besonderes.«
»Richtig. Hat er sich
Berlin jemals von Ihnen beschreiben lassen?«
»Er hat gefragt, was
wir so am Abend machen, wo wir hingehen, um ein Bier zu trinken.
Solche Sachen. Und die frühere Berliner Mauer musste ich ihm
schildern, die interessierte ihn brennend.«
»Und Sie mussten ihm
auch beschreiben, wie Sie wohnen, wie das Häuschen aussieht.«
Krause wurde immer schneller.
»Ja,
selbstverständlich.«
»Und dass Ihre Frau
in der Bank arbeitet und die Tochter Anna-Maria fünf Jahre alt
ist.«
»Aber natürlich. Wir
waren … wir sind gute Kumpel, Freunde fast.«
»Dann hat er also
auch Ihre Adresse, Ihren Klarnamen?«
»Hat er. Für den
äußersten Notfall.«
»Was ist denn der
äußerste Notfall?«
Es herrschte jetzt
eine dröhnende Stille.
»Der äußerste Notfall
ist seine schnelle Flucht aus Damaskus im Falle einer
Identifizierung.« Müller spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirne
trat.
»Seine schnelle
Flucht aus Damaskus sieht im Normalfall doch so aus, dass er
versucht, auf felsigen Trampelpfaden in den Libanon überzuwechseln
oder von mir aus nach Jordanien oder in die Türkei. Aber doch nicht
so, dass er einen Flieger besteigt und hier fröhlich pfeifend
ankommt – und das alles, ohne Ihnen ein Wort zu sagen.« Sowinski
war eindeutig ärgerlich, seine Wangenknochen mahlten.
»Er hat Ihnen gestern
kein Wort gesagt, dass er heute in Berlin auftauchen würde. Aber er
ist hier, und es sieht nicht so aus, als sei er auf der Flucht.
Dann säße er nämlich wahrscheinlich längst auf Ihrer
Wohnzimmercouch.« Krause sprach ganz ruhig und gelassen. Es war wie
immer: Je größer das Problem, umso ruhiger wurde er.
Müller wedelte mit
beiden Händen. »Ich kann mir nicht vorstellen, was er hier sucht
oder will.«
»Dass er Ihre Adresse
hat, ist gegen die Regel«, stellte Sowinski wütend
fest.
»Und sollte er hier
in eine Ladung geballter Kacke geraten, wird er vor Ihrer Tür
stehen.«
»Er ist schließlich
so etwas wie ein Freund, seine Arbeit vor Ort war bisher sehr gut«,
verteidigte sich Müller schwach.
Es herrschte
Schweigen.
»Wir müssen uns was
überlegen«, sagte Krause.
Wenig später kamen
die Aufzeichnungen der Überwachungskameras vom Flughafen Tegel.
Eine lange Aufzeichnung von etwa fünfzehn Sekunden zeigte Achmed,
wie er aus dem Gate kam und zum Gepäckband hinüberging. Er trug
seine schwarze Laptop-Tasche über der Schulter. Dann zeigte eine
andere Kamera, wie er eine große, schwarz-weiße Sporttasche aufnahm
und sich abwandte, um irgendwohin zu gehen.
Sein Gesicht verriet
keine Spur von Aufregung, eher die Neugier, die ihm eigen war, das
ständige Drehen des Kopfes, um keine Nuance dieser neuen Welt zu
verpassen.
»Eindeutig?«, fragte
Krause.
»Eindeutig«, nickte
Müller. »Haben wir jetzt die Passagierlisten?«
»Haben wir. Er kam
mit einer Direktmaschine aus Kairo. Er hatte ein Visum auf den
dämlichen Namen Ali Akbar, ausgestellt heute von der Botschaft in
Kairo. Die Botschaft sagt, sie haben noch keine Ahnung, wie er an
das Visum gekommen ist. Sie haben keine Unterlagen über ihn. Sie
prüfen das, bla, bla, bla.«
»Wie ist er denn nach
Kairo gekommen?«, fragte Müller.
»Wissen wir nicht«,
sagte Sowinski abwehrend.
»Ich muss mit seiner
Frau reden«, sagte Müller.
»Tun Sie das«, sagte
Krause. »Aber keine Einzelheiten, auf keinen Fall! Scheuchen Sie
nichts auf.«
»Ja«, sagte Müller
und ging in sein Büro.
Er rief Nour zu Hause
an und schnitt das Gespräch auf Tonband mit. Fröhlich sagte er:
»Hi, alte Ehefrau, wie geht es dir?«
»Hallo, Karl! Sehr
gut«, antwortete sie. »Und was treibst du?«
»Ich hatte deinem
Mann eine kleine Spezialmaschine versprochen. Im Geschäft erreiche
ich ihn nicht. Ist er bei dir?«
»Nein«, sagte sie,
scheinbar ohne Argwohn. »Hier ist er nicht. Er musste für ein paar
Tage verreisen.«
»Ach, das ist ja mal
was anderes. Wohin denn?«
»Er sagte Kairo, aber
er wusste nicht genau, wann er wieder zurückkommt.« Sie lachte. »Er
hat mir jedenfalls versprochen, ein paar Seidenkleider
mitzubringen. Stell dir vor, ich in Seide.«
»Das wird wunderbar
aussehen. Hat er sich noch nicht gemeldet?«
»Noch nicht. Aber das
wird bald kommen. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Ja, sag ihm bitte,
er kann die Maschine haben. Dein Achmed macht doch nicht etwa in
Kairo eine Filiale auf?«, fragte er.
»Nein, nein. Die
Reise ist für einen Freund.« Da wurde ihre Stimme zum ersten Mal
zögerlich.
»Wie ist der Halunke
denn an ein Visum gekommen? Und warum hat er mir gestern nichts
davon gesagt?«
»Es … es kam sehr
plötzlich, weißt du?«
»Na ja, bis
demnächst. Und grüß die Kinder.«
Er ging in Krauses
Zimmer. Sie saßen noch zusammen und starrten ihn wortlos an, als
sei er ein Aussätziger.
»Die Ehefrau weiß
nur, dass er ein paar Tage nach Kairo wollte. Für einen Freund. Sie
sagt, die Reise ist plötzlich gekommen. Und sie lügt.«
»Gehen Sie sämtliche
Treffberichte durch, suchen Sie nach einem Hinweis. Und in einer
Stunde gehen wir beide ein Stück spazieren.«
Müller dachte wütend:
Auch das noch!, und machte sich an die ermüdende Lektüre seiner
eigenen Berichte, von denen er ganz sicher war, dass sie keinen
verdeckten Hinweis enthielten.
Er erinnerte sich,
wie die Verbindung mit Achmed zustande gekommen war. Im Grunde eine
kleine Geschichte ohne jeden Schönheitsfehler. Sie hatten
herausgefunden, dass Syrien still und leise amerikanische
Ölsuchfirmen eingeladen hatte, und sie suchten nach einer direkten
Verbindung zu diesen Firmen. Dann war am Horizont Hussein
aufgetaucht, von dem nur bekannt war, dass er im Hintergrund, aber
immer mit Wissen seiner Regierung an vielen Strippen zog. Und
Müller hatte Achmed entdeckt, den Neffen dieses einflussreichen
Strippenziehers. Nach seiner Klaransprache an Achmed war der auch
sofort bereit gewesen, ein bisschen zu spionieren. Er fand es
spannend und natürlich auch vom Finanziellen her
interessant.
Ach, Achmed, dachte
Müller, mach jetzt bloß nicht unsere schöne kleine Spionagefirma
kaputt. Aber gleichzeitig wusste er, dass die kleine Firma schon
vor ein paar Stunden in Konkurs gegangen war.
Kurz darauf stand
Krause in der Tür und fragte: »Können wir?«
Über den Himmel zogen
Schäfchenwolken, junge Mütter schoben ihre Kinderwagen, auf einer
Bank saßen Penner und handelten lauthals die Probleme dieser Welt
ab.
Sie trabten eine
Weile schweigend nebeneinander her, bis Krause sagte: »Ich nehme
einmal an, dass Sie den Kopf mit allen möglichen Dingen voll haben.
Der Vater, die häuslichen Verhältnisse, jetzt Achmed, der Beruf
allgemein. Das sind alles Gründe, möglichst schnell Klarheit zu
bekommen. Und das umso mehr, als Sie durch Achmed heute in eine
Schräglage geraten sind. Das wissen Sie, nicht wahr?«
»Ja.« Müller
nickte.
»Gibt es zwischen
Ihnen und Achmed noch irgendetwas, was ich nicht weiß? Irgendwelche
Absprachen? Irgendwelche zusätzlichen Abmachungen für den Fall,
dass er unter die Räder kommt?«
»Nein. Das ist
alles«, sagte Müller.
»Gut. Dann kommen wir
zu Ihren persönlichen Verhältnissen. Sie wissen, dass ich mich
nicht gerade darum reiße, im Privatleben meiner Leute
herumzufuhrwerken. Aber ich muss wissen, wie Sie Ihre private
Situation zu bereinigen gedenken. Ihnen ist bekannt, dass
häuslicher Dauerstress in unserem Beruf tödlich sein
kann.«
»Ja.« Müller dachte:
Nun mach schon!
»Wollen Sie erzählen?
Oder soll ich fragen?«
»Ich
erzähle.«
Vor ihren Füßen
landeten zwei Tauben und flogen wieder davon.
»Meine Frau trifft
keine Schuld. Sie hat keine heimliche Liebschaft, ich auch nicht.
Aber die Ehe ist in die Jahre gekommen. Wir haben uns nichts zu
sagen, wir haben nichts mehr miteinander, seit langem schon. Ich
gehe davon aus, dass mein Beruf an der Misere schuld ist. Ich lebe
ständig im Nebel, kann ihr nichts sagen. Ich lebe in einer Welt,
die für meine Frau nicht existiert. Und ich habe den entmutigenden
Eindruck, sie weiß nichts von mir.«
»Weil sie nichts
wissen will?«, fragte Krause aggressiv.
»Weil ich den Mund
halten muss. Sie fragt nicht.«
»Und war dadurch
immer eine bequeme Gefährtin!«, sagte Krause. »Sie kannten sie
schon, als Sie noch bei der Polizei, beim Sondereinsatzkommando
waren, nicht wahr?«
»Ja. Wir haben uns so
gegen Ende meiner Zeit im Polizeidienst kennen
gelernt.«
»Weiß sie, dass Sie
einen Menschen im Einsatz erschossen haben?«
»Nein.«
»Warum
nicht?«
»Weil sie damit nicht
umgehen könnte.«
»Das denken Sie.
Haben Sie es zu erklären versucht?«
»Nein.«
»Da stellt sich doch
die Frage, wer der große Schweiger ist, Ihre Frau oder Sie
selbst.«
Müller spürte
plötzlich einen heftigen Zorn. »Darüber zu reden bringt doch
nichts!«
»Sie brauchen Ruhe
daheim«, beharrte Krause. »Wie ist das eigentlich mit Ihrer kleinen
Tochter?«
»Sie wird bei meiner
Frau bleiben«, äußerte Müller. »In gewisser Weise werde ich sie
verlieren. Mein Leben ist viel zu unruhig, das Leben meiner Frau
verläuft dagegen vorhersehbar, in beschissen ruhigem
Takt.«
»Ja, ja.« Krause
nickte. »Das komplett berechenbare Leben …«
Müller spürte die
leise Verachtung in den Worten. Er blies zum Gegenangriff. »Ich
wollte schon immer wissen, wieso Sie das Theologiestudium
abgebrochen haben.«
»Ich konnte nicht
unredlich leben, ich konnte mich nicht in eine Hierarchie einfügen,
in der bestimmte grobe Lügen zum Alltag gehören. Wieso interessiert
Sie das jetzt?«
»Ich will erfahren,
wie andere mit den Brüchen ihres Lebens umgehen. Wie leben Sie mit
den groben Lügen unseres Berufes?«
Eine Weile schwieg
Krause, dann lachte er leise. »Das mag ich so an Ihnen. Man muss
sich warm anziehen. Tatsächlich habe ich meiner Frau sehr viel
gesagt, aber niemals Einzelheiten. Ich glaube, sie weiß sehr gut,
was ich tue. Manchmal spüre ich das, wenn sie nach meiner Hand
greift.«
»Ich weiß nicht, wie
ich mich verhalten soll.«
»Es gibt keine
Rezepte«, sagte Krause behutsam. »Sehen Sie mal, da gibt es Eis in
Tüten. Was wollen Sie?«
»Zwei Kugeln
Zitrone«, antwortete Müller und musste lächeln.
Eis schleckend
wanderten sie dahin, bis ein kleines Mädchen direkt vor Krause
hinfiel und heftig zu schreien begann. Krause hob sie hoch und
murmelte: »Ist ja schon gut, ist ja schon gut.« Dann kam die Mutter
und giftete heftig: »Wie oft habe ich dir verboten zu
rennen?«
Nach einer Weile
fragte Krause: »Wie kann man einem Kind das Rennen verbieten?
Wollen Sie jetzt hören, was ich zu sagen habe?«
»Ja.«
»Dann muss ich zuerst
fragen, ob Sie überlegt haben, in einen anderen Beruf zu gehen oder
auf einen ruhigen Schreibtischposten bei uns im Amt zu
wechseln.«
»Das habe ich oft
überlegt. Kommt aber nicht infrage.« »Ich würde sagen: Gehen Sie zu
Ihrer Frau, und reden Sie mit ihr. Vorsichtig. Sagen Sie ihr, dass
Sie eine Weile allein sein wollen. Sie können ein kleines Apartment
des Amtes haben, wenn Sie mögen. Es ist möbliert und angenehm
billig. Es war in grauen Vorzeiten mal eine konspirative Wohnung.
Dann sehen wir weiter. Und ich würde darum bitten, dass Sie so viel
Zeit wie möglich im Amt verbringen. Nicht zur Ablenkung, sondern um
Achmed zu suchen.«
»Wie kann ich ihn
unter vier Millionen Menschen suchen?«
»Das weiß ich noch
nicht. Es muss einen triftigen Grund geben, warum er in Berlin ist
und Ihnen die Reise verschwiegen hat. Hat ihn jemand hergeholt? Und
wenn ja, warum?«
»Hat es jemals einen
derartigen Vorfall mit einer menschlichen Quelle gegeben?«, fragte
Müller.
»Wir haben jeden Tag
eine Premiere mit irgendetwas. Aber es ist trotzdem
beunruhigend.«
»Dann möchte ich noch
etwas zu Achmed sagen. Es war gegen die Regel, ihm meine private
Adresse zu geben. Aber ich denke, wir hätten keine Neuigkeiten aus
Syrien bekommen, wenn ich ihm dieses Vertrauen nicht geschenkt
hätte.«
»Sie bereuen es also
nicht?«
»Nein«, sagte Müller.
»Und es ist mir scheißegal, wenn es als Tadel in meiner
Führungsakte auftaucht.«
»Aufmüpfig ist er
auch noch«, murmelte Krause erheitert. Dann kam eine Melodie hoch,
er griff nach seinem Handy und hörte nur zu. »Ich muss an den
Schreibtisch«, sagte er dann knapp. »Sie sollten diese Sache mit
Ihrer Frau erledigen. Jetzt, bitte.«
»Ja.« Müller
nickte.
Es war 15 Uhr, als er
vor sein Reihenhäuschen rollte. Er hatte schon oft von einer
Trennungsszene geträumt, in unendlichen Varianten. Aber
merkwürdigerweise war es niemals früher Nachmittag gewesen, niemals
hatte die Sonne geschienen, immer nur Nacht
geherrscht.
Er schloss die
Haustür auf und rief: »Ich bin es. Seid ihr da?«
»Hallo, Schatz«,
sagte Melanie aus der Küche. »Anna-Maria ist bei einem Freund.
Wieso kommst du so früh?«
»Nichts los«,
antwortete er. »Ich muss mit dir sprechen.«
»Das geht jetzt
nicht. Ich muss kochen. Später.«
»Das musst du nicht«,
widersprach er. »Wir müssen reden.«
»Aber das kann doch
bis heute Abend warten.«
»Jetzt«, beharrte er
und hatte Mühe, nicht heftig zu werden. »Jetzt
sofort.«
Er ging in das
Wohnzimmer und setzte sich in einen Sessel.
Sie kam hinter ihm
her und sagte aufgebracht: »Also, ich weiß nicht, was so wichtig
ist, dass …«
»Hör mir, bitte, zu«,
sagte er und faltete die Hände. »Und setz dich, bitte,
hin.«
Sie setzte
sich.
»Das, was ich zu
sagen habe, schleppe ich schon lange mit mir herum. Unsere Ehe ist
keine Ehe mehr. Also werde ich eine Weile fortgehen und versuchen
herauszufinden, ob wir weiter zusammenleben können oder nicht. Und
vielleicht solltest du das Gleiche überlegen.«
Ihr Gesicht erstarrte
augenblicklich zur Maske.
»Das ist nicht dein
Ernst.«
»Doch, es ist mir
ernst.«
»Du hast eine andere
kennen gelernt.« Das kam sehr schnell.
»Nein, da ist keine
andere. Unsere Ehe ist tot.«
»Aber Anna-Maria
bleibt hier bei mir.«
»Selbstverständlich.«
Sie hob den Kopf, und
sie war eine schöne, wütende Frau, die nach einem Ausweg
suchte.
»Du wirst in eine
andere Stadt versetzt.«
»Nein, ich bleibe
hier in Berlin.«
»Aber manchmal läuft
das eben so in einer Ehe. Ich meine, so irgendwie langweilig. Das
kann man reparieren, das braucht Zeit.«
»Das kann man nicht
reparieren. Das fängt entweder neu an, oder es ist
aus.«
»Du bist ja auch
selten hier.« Dann sah sie plötzlich auf ihre Uhr. »Oh, ich muss
Anna-Maria abholen.«
»Bitte, unterbrich
das jetzt nicht. Dann kommst du eben etwas später.«
»Ich bin immer
pünktlich«, sagte sie verbissen.
»Ja, das bist du. Ruf
dort an und sag, es dauert noch etwas.«
Sie bewegte sich
nicht. Sie sah ihn an, und sie sah ihn doch nicht.
»Es ist ziemlich
schlecht in der Bank, wenn die Ehe kaputt geht.«
»Möglich«, sagte er.
»Ich packe ein paar Sachen ein, ich bin ständig erreichbar, und ich
sage dir morgen, wo ich wohne.«
»So schnell findest
du doch keine Wohnung.«
»Ich habe schon eine,
ich weiß nur noch nicht, wo sie ist. Und lass uns nicht streiten.
Du kannst Anna-Maria sagen, dass ich ein paar Tage verreisen muss.
Du kannst aber auch sagen, dass wir uns trennen.«
»Und wie lange soll
das … dieser Zustand dauern?«
»Das weiß ich
nicht.«
»Und was sagst du
deinem Vater?«
»Die Wahrheit. Dass
ich gehe, weil die Ehe keine mehr ist. Aber er kann mich eh nicht
hören.«
»Und deiner Mutter
sagst du, dass ich schuld bin.« Plötzlich weinte sie lautlos und
schlug beide Hände vor das Gesicht.
»Aber du bist nicht
schuld«, versicherte er. »Niemand ist schuld.«
»Und was sage ich
allen anderen? Und meinen Eltern?«
»Die Wahrheit«, gab
er zurück. »Wir trennen uns auf Probe, wir werden sehen, was aus
uns wird.«
»Gerade heute hieß
es, dass ich einen besseren Job kriegen soll.«
»Das ist doch gut.
Wir leben nicht in Scheidung. Und jetzt packe ich ein paar
Sachen.«
Er ging an ihr
vorbei, sie blieb in dem Sessel hocken, und wahrscheinlich dachte
sie, dass ihre Taktik falsch gewesen war, überlegte Müller
verbittert.
Er packte zwei Koffer
voll mit seiner Kleidung, dann die Toilettentasche im Bad. Er ging
noch einmal durch das Haus und hörte sie im Wohnzimmer
weinen.
Als er im Auto saß
und startete, meldete sich sein Handy, und Krause bellte
übergangslos: »Wir haben ein Dringend.«
Im Amt rannte er die
Treppen hoch und direkt zu Krauses Zimmer. »Es ging nicht
schneller«, sagte er hastig atmend.
Krause saß in aller
Bierruhe in seinem Sessel, hatte die Hände über dem Bauch gefaltet
und starrte in den Fernseher.
Neben ihm stand
Goldhändchen.
»Schauen Sie sich das
an«, murmelte Krause. »Noch mal zurück, und dann mit Genuss von
vorn.«
Goldhändchen drückte
Knöpfe an der Fernbedienung und strahlte dann Müller
an.
Es war eine
Videoaufzeichnung, und sie zeigte Fußgänger an einer Kreuzung, die
über den Zebrastreifen gingen. Dann war plötzlich Achmed im
Vordergrund. Achmed ohne Laptopkoffer und ohne große Sporttasche,
ganz lässig, ohne jede Hast, die Hände in den Jeanstaschen. Achmed
der Tourist.
Goldhändchen drückte
den Fernseher aus.
»Wo stammt das her?«,
fragte Müller.
»Wedding«, sagte
Goldhändchen. »Verkehrsüberwachungskamera. Müllerstraße. Vor zwei
Stunden.«
»Wie bist du darauf
gekommen?«, fragte Müller. »Gratulation.«
»Mir fällt eben immer
was ein«, sagte Goldhändchen geziert. Seine Karriere hatte
Goldhändchen, dessen bürgerlichen Namen Müller gar nicht kannte,
mit sechzehn Jahren begonnen. Da war er aus reiner Hackerlust in
die Dateien des Pentagon eingebrochen, um sich an den streng
geheimen Daten des Irakkrieges zu ergötzen. Jetzt ging er auf die
Dreißig zu und hatte seine Neugier mit Genehmigung des Ordens von
allen Zwängen befreit, was auf gut Deutsch hieß, dass er
unermüdlich alles beobachtete und recherchierte, was ihn im Grunde
nichts anging.
»Achmed ist also im
Wedding«, sagte Krause. »Haben Sie jemals mit ihm über den Wedding
geredet?«
»Nie«, sagte Müller
mit Nachdruck. »Ist auf dem Film zu sehen, ob er mit irgendwem
neben sich redet, ob irgendetwas auf Begleiter
hindeutet?«
»Negativ«, sagte
Goldhändchen. »Er geht vor zwei dicken, verschleierten Frauen her,
links neben ihm mehrere Jugendliche, rechts neben ihm eine Frau mit
Kinderwagen. Kein Kontakt, kein Gespräch. Auch nach hinten kein
Kontakt. Achmed geht solo.«
»Vielleicht will er
nur ein paar Kleinigkeiten einkaufen«, murmelte Krause. »Vielleicht
steckt hinter dem allem etwas ganz Banales. Vielleicht ruft er
wirklich bei Ihnen an und sagt: Ich komme gleich
vorbei!«
»Dann sollte ich
meine Frau für den Fall vorwarnen«, sagte Müller.
Krause lächelte ihn
an. »Nicht nötig, mein Junge. Wir haben Ihren privaten Anschluss
auf einer Alarmleitung, uns entgeht nichts.«
»Aha.« Müller fühlte
sich unbehaglich. »Und wie ist Achmed nach Kairo
gekommen?«
»Rätselhaft. Die
Botschaft in Kairo sagt, sie habe das Visum nicht erteilt. Das ist
verbindlich. Das bedeutet, sein Visum ist gefälscht. Aber da wir
rund um das Mittelmeer etwa fünfhundert fantastische Fälscher
haben, hilft uns das auch nicht weiter.« Krause wirkte erstaunlich
gelassen.
»Kannst du ständig in
diese Verkehrsüberwachung hinein?«, fragte Müller.
»Kein Problem«, sagte
Goldhändchen. »Die Kollegen mögen so etwas zwar nicht, aber sie
merken es ja gar nicht. Hast du irgendeine Vorstellung, wo Achmed
sich verkriechen könnte?«
»Nicht die geringste.
Der Wedding hat einen sehr hohen Ausländeranteil. Achmed fällt dort
absolut nicht auf, auch sprachlich nicht. Mit Arabisch, bisschen
Englisch und Französisch kommt er überall durch. Wenn er sich vier
Tage seinen Bart stehen lässt und dazu eine Glatze rasiert, kriegen
wir keine Identifikation mehr. Was ist mit seinem
Handy?«
Krause nickte. »Das
haben wir geortet – leider in seinem Geschäft zu Hause in Damaskus.
Und auch das ist für diesen Knaben doch mehr als merkwürdig. Was
sagen Sie dazu?«
»Jemand muss ihm
befohlen haben: Lass dein Handy zu Hause! Achmed steckt das Ding
sogar ein, wenn er auf den Lokus geht. Und daraus muss man folgern,
dass er mit einem Auftrag nach Berlin gekommen ist, bei dem er auf
keinen Fall über sein Handy geortet werden darf.«
»So ist es«, sagte
Krause. »Und dieser Auftrag läuft verdeckt.«
»Aufbau einer
Mullah-Zelle?«, fragte Müller.
»Könnte sein, passt
aber nicht zu Achmed. Passt überhaupt nicht. Frage an Sie: Wie
verliebt ist er in Bares?«
»Schon ziemlich. Er
will seine Kinder studieren lassen. Und insgeheim hat er die
Sehnsucht, irgendwann in der wunderschönen westlichen Freiheit zu
leben. Gerade auch wegen der Söhne. Wissen wir jetzt, wie er von
Damaskus nach Kairo gekommen ist?«
»Wissen wir nicht.
Jedenfalls nicht unter seinem falschen Namen Ali Akbar mit einem
der Linienflüge. Aber es sitzen drei Leute dran, um mehr
herauszufinden.«
»Ich gehe mal und
mache meine Jungs scharf auf Achmed«, murmelte
Goldhändchen.
»Ich habe mit meiner
Frau geredet«, sagte Müller, sobald die Tür hinter Goldhändchen
zugefallen war. »Ich brauche die Adresse von dem
Apartment.«
»Heulen und
Zähneknirschen?«, fragte Krause.
»Nein. Nur große
Traurigkeit.«
»So ist das Leben.«
Er reichte Müller einen Zettel. »Das ist Ihr Palast. Hier sind die
Schlüssel. Und seien Sie, bitte, ständig erreichbar. Ihre Fragen an
unsere Quellen sind raus. Und jetzt muss ich mich um QABR kümmern.«
Was immer die Buchstaben bedeuten mochten, Krause wollte damit
sagen, dass er noch mehr zu tun hatte und dass Achmed eine
verschwindend kleine Nummer für ihn war.
Das Apartment lag
zwölf Fahrminuten vom Amt entfernt in einer ruhigen Wohnstraße. Es
gab einen Innenhof mit Stellplätzen. Das Haus selbst war
siebenstöckig, Beton, grau in grau, mit zweckmäßig geschnittenen
Zellen: ein kleines Bad, ein winziger Flur, eine Kochnische, ein
Wohn/Schlafraum. Vor diesem Raum ein sehr schmaler Außengang, der
im Mietvertrag todsicher Balkon genannt wurde und auf den kein
Liegestuhl passte. Es gab in Viererreihen zweiundsiebzig Klingeln,
und Müller würde die Nummer vierundzwanzig sein. Die meisten Namen
waren türkisch, arabisch und russisch.
Die Möbel, die
irgendwelche Vormieter ihm dagelassen hatten, waren alt und
zweckdienlich, vorher schon erprobt in zehn bis fünfzehn Wohnungen,
alle in einem diffusen Dunkelbraun. Sie bestanden aus
Pressholzplatten mit einem Furnier, das die Natur niemals
vorgesehen hatte. Müller erinnerte sich, in diesem Haus schon
einmal Männer getroffen zu haben, die man auf der Straße nicht
sehen sollte. Er öffnete den Kleiderschrank und befreite damit
einen ungeheuer muffigen Luftschwall.
Er warf die Koffer
auf das Doppelbett und setzte sich seufzend in einen alten,
rosafarbenen Sessel, der aufdringlich nach scharfen
Desinfektionsmitteln roch. Der Teppichboden war irgendetwas in
Lichtblau, fleckenübersät, abgestumpft und steinhart. Konspirative
Wohnungen, hatte er erfahren, waren etwas, wo man sich aufhalten,
aber nicht wohnen konnte.
»Heilige Scheiße!«,
sagte er laut.
Dann entdeckte er das
Telefon. Es war ein ganz normaler kleiner, handlicher Apparat in
Grün, dessen Schnur in eine Buchse an der Wand führte. Ich wette,
es ist angeschlossen, dachte Müller. Es war
angeschlossen.
Schließlich murmelte
er: »Der Superspion dieses aufstrebenden Landes geht erst mal
einkaufen.«
Nach einer Stunde
leerte er in drei Durchgängen seinen Golf. Er hatte alles gekauft,
was ihm nötig schien, von Bettwäsche bis Toilettenreiniger, von
einem brauchbaren Rotwein bis zu einem billigen Radio und einfachen
Haushaltskerzen. Er benötigte zwei Stunden, um alles zu verstauen
und das Bett zu machen. Anschließend ging er mit einem billigen
Rasierwasser heftig sprühend durch seine neue Pracht und hoffte,
dass es nach seiner Rückkehr ein wenig anders riechen würde. Dann
duschte er und verließ das Haus. Er setzte sich in den Golf und
fuhr in den Wedding.
Im Grunde hatte er
keine Hoffnung, Achmed irgendwo zu sehen. Aber er wollte wissen,
wie die Gegend aussah, in der Achmed gesehen worden
war.
Er aß einen kleinen
Döner und rief das Krankenhaus an. Man sagte, seine Mutter sei noch
da.
»Ja, mein
Junge?«
»Wie geht es dir? Wie
geht es Papa?«
»Stell dir vor: etwas
besser. Also, ich war gerade rausgegangen, um einen Kaffee zu
trinken, da kam eine Schwester angelaufen und sagte ganz aufgeregt:
Er hat die Augen geöffnet! Das stimmte wirklich. Aber ich weiß
nicht, ob er irgendetwas sieht.« Sie weinte. »Manchmal meine ich,
er hat mich erkannt, und sie sagen, mit so etwas fängt es meistens
an, wenn es ihnen besser geht. Kannst du kommen,
Junge?«
»Nein, Mama, das geht
jetzt nicht. Ich bin auf Bereitschaft. Wenn du übrigens bei mir zu
Hause anrufst, musst du dich nicht wundern, ich bin vorübergehend
in ein Apartment ausgewichen. Ich habe Melanie gesagt, dass wir
eine Weile getrennt leben sollen.«
»Und das Kind? Das
Kind?« Das kam ganz hoch und sehr heftig.
»Anna-Maria bleibt
mein Kind. Das ist nicht der Punkt. Wir wollen herausfinden, ob wir
noch eine Ehe haben können oder nicht.«
Eine Weile herrschte
Schweigen.
»Nur gut, dass Papa
das nicht mitkriegt.«
»Ja. Aber das gehört
auch zu den Dingen, die ich mit ihm besprechen will, wenn es ihm
wieder besser geht.«
»Kannst du denn
morgen mal kommen?«
»O ja«, versicherte
er. »Morgen sehen wir uns und …«
»Wie ist denn deine
Adresse jetzt?«
»Ach so. Hast du was
zu schreiben?«
Er diktierte ihr die
Adresse. »Es ist eine kleine Einraumwohnung«, sagte
er.
»Eine Einraumwohnung?
Ach, Gottchen, Junge.« Aber dann lachte sie plötzlich, und das
erschien ihm wie ein kleines Wunder.
Papa macht die Augen
auf, dachte er.
Er setzte sich wieder
in den Golf und fuhr gemächlich durch die Straßen, stieg ab und zu
aus, lief durch Toreinfahrten in Hinterhöfe, sah nach den Namen auf
den Klingelschildern, als habe er eine Chance, dort Achmed zu
entdecken.
Einer seiner
Ausbilder beim SEK der Polizei, ein Mann, den sie Herbie nannten,
hatte das als Witterung aufnehmen bezeichnet. Er hatte gesagt: Wenn
du einen Mann in einer Stadt suchst, dann musst du wissen, wie die
Stadt aussieht. Es gibt Strukturen. Da sind Gärten, Höfe, Garagen,
kleine Werkstätten, Hintereingänge. Du musst kapieren, wie das
alles gebaut ist, wie es zusammenpasst, wie die Kneipen aussehen
und wo die Einheimischen sich treffen, wie die Schleichwege
verlaufen. Du bist fremd, aber wenn du das alles gesehen hast,
bekommst du eine Ahnung davon, wo sich jemand verstecken
könnte.
Du lieber Gott,
Herbie. Wie lange war das her? Zehn Jahre? Zwölf?
Er suchte nach dem
Namen, und er ärgerte sich, als er ihm nicht sofort einfiel. Dann
hatte er ihn: Brettschneider, Herbert Brettschneider.
Er fuhr zu einer
Telefonzelle und blätterte im Telefonbuch. Dann hatte er die
Nummer, notierte sie, saß in seinem Golf und rief an.
»Brettschneider
hier.«
»Der Polizist
Brettschneider?«
»Der Polizist. Ja,
bitte?«
»Ich bin der Müller,
der einmal in deinem Verein war.«
»Mich laust der
Affe.« Dann lachte er. »Du sollst eine große Nummer beim BND
sein.«
»Bin ich nicht«,
sagte Müller schnell. »Ich habe ein Problem, und das Problem heißt
Wedding. Mir ist im Ausland eine menschliche Quelle durch die
Lappen gegangen. Jetzt ist sie hier im Wedding. Und ich stehe dumm
rum.«
»Kannst du mir sagen,
welche Nationalität die Quelle hat?«
»Syrer.«
»Und hat er im
Wedding Freunde?«
»Weiß ich nicht.
Könnte aber sein.«
»Ist er auf der
Flucht?«
»Eigentlich nicht.
Streng genommen kann ich ihm nichts Illegales vorwerfen. Er ist
hier und untergetaucht.«
Eine Weile schwieg
Herbie, dann murmelte er: »Wenn ich dich recht verstehe, ist er
kein Krimineller.«
»Exakt.«
»Und du willst ihn
nur finden, um ihn zu fragen, was er hier so treibt?«
»Genau
das.«
Langes
Schweigen.
»Du musst wissen,
dass Russen die Russen unterstützen, Türken die Türken,
Tschetschenen die Tschetschenen und so weiter und so fort. Ich
würde sagen, Syrer sind seltener. Du müsstest also syrische Gruppen
suchen. Und da gibt es Spezialisten, die so etwas
wissen.«
»Wo?«
Herbie lachte laut.
»Bei den Bullen, Junge, bei den Bullen. Gibt es ein Foto von dem
Mann?«
»Ja.«
»Ihr habt doch
genügend Einfluss und Verbindung. Ihr braucht Zielfahnder. Gar
nicht viele, drei, vier vielleicht. Sie müssen ja auch nicht sagen,
dass sie euch helfen. Sie suchen eben, das ist ihr
Job.«
»Das könnte eine Idee
sein«, nickte Müller. »Und, wie geht es so? Wie geht es der Frau
und den Kindern?«
»Hör auf mit dem
Scheiß. Die Frau gibt es nicht mehr, und die Kinder sehe ich alle
zwei Monate, wenn ich Schwein habe.«
»Das tut mir
Leid.«
»Schon gut, Kleiner,
das konntest du nicht wissen. Man hört voneinander.«
»Mach es gut, bis
demnächst.«
Müller erinnerte sich
daran, dass Herbie ihn immer schon Kleiner genannt hatte, was
einfach daran lag, dass er in seiner Gruppe des SEK von dreißig
Männern mit Abstand der kleinste gewesen war. Konnte es sein, dass
dieser Herbie, den er als einen ewig gut gelaunten Schinder in
Erinnerung gehabt hatte, jetzt auch in einer Einraumwohnung hockte
und in Melancholie schwelgte? Müller fand die Vorstellung
grotesk.
Er rief Krause auf
einer besonderen Nummer an und sagte: »Es könnte eine Lösung sein,
sofort Zielfahnder des Bundeskriminalamtes oder Landeskriminalamtes
auf den Wedding anzusetzen. Ein Bekannter sagt, die wissen, wo
mögliche Syrerkreise zu finden sind. Müller hier, um dreiundzwanzig
Uhr fünfzehn.«
Er verließ den
Wedding und fuhr über Berlin-Mitte in Richtung Regierungsviertel.
Er kannte dort eine gemütliche Hotelbar mit einem guten Pianisten.
Er wollte ein wenig Ruhe und einen teuren Whisky, und er wusste,
dass er ihn dort bekam. Die neue, sterile Behausung jagte ihm ein
wenig Angst ein.
Die Bar war mäßig
besetzt, drei Männergruppen an Tischen, drei Männer auf Barhockern
am rechten Rand des Thekenovals, links außen eine Frau mit einem
dunkelroten Oberteil, allein.
Der Pianist am Flügel
schwelgte gerade in alten Sinatra-Titeln. Er machte es so gut, dass
er kaum auffiel. Nur gelegentlich setzte er einen schnellen Lauf,
betonte die Übergänge in den Septimen und rutschte wieder in seine
Vorstellung einer gepflegten, heimeligen Nachtmusik, sang und
summte eine Strophe, grinste jedermann zu.
Für Sekunden
verharrte Müller neben dem Musiker und erinnerte sich liebevoll an
seine Mutter, die einmal verlegen gewispert hatte: »Weißt du, Papa
liebt diesen gewissen Trompetenspieler ja sehr, aber ich glaube, in
der Schule darf das keiner wissen.« Die Rede war von Louis
Armstrong gewesen, und tatsächlich hatte sein Vater diese stille
Liebe immer strikt verborgen, als handele es sich um ein
Sakrileg.
»Hallo«, sagte er und
setzte sich auf einen Hocker. »Ich hätte gern einen blauen Johnnie
Walker, doppelt, mit stillem Wasser und ohne Eis.«
Der Barmann
nickte.
Müller versuchte sich
zu entspannen. Seine Gedanken rasten durcheinander. Hoffentlich
stirbt mein Vater nicht. Wie bringe ich Anna-Maria diese schäbige
neue Wohnung bei? Wie soll meine Mutter das alles schaffen, ohne
durchzudrehen? Wo steckt Achmed? Kommt Melanie klar? Hat sie
überhaupt verstanden, was ich meine? Sollte ich nicht wenigstens
einen neuen Teppichboden haben? Und was kostet das? Was passiert,
wenn Achmed sich auf etwas eingelassen hat, was er nicht steuern
kann? Wie bewertet Krause eigentlich das Verschwinden Achmeds? In
den Ecken im Bad habe ich leichten Pilzbefall, das sieht ekelhaft
aus. Obst habe ich vergessen, Kerzenhalter auch. Ich werde dort
nicht schlafen können. Warum hat Achmed mir sein Vertrauen
verweigert?
Der Barmann stellte
den Whisky vor ihn hin, zusammen mit einem kleinen Schälchen
Nüsse.
Rechts von ihm
bemühte sich ein betrunkener Krawattenträger, seinem Begleiter
einen Witz zu erzählen. Es war ein Witz der Gattung: Kommt eine
Frau zum Frauenarzt …, und der Mann lallte.
Der Pianist erging
sich elegisch in »Somewhere over the Rainbow …«.
Die rot gekleidete
Frau links fragte ihn plötzlich ganz direkt: »Spielen Sie mit mir
Siebzehnundvier? Um einen Drink?«
»Gern!«, sagte Müller
überrascht. Das wird mich ablenken, dachte er.
Die Frau mochte Mitte
dreißig sein und hatte ihr langes, volles Haar in der Farbe reifer
Kastanien gefärbt, mit zwei hellen Strähnen auf der linken
Kopfseite. Sie trug eine einfache Bluse mit einem gleichfarbigen
Seidenschal, keinen Schmuck, keinen Lack, kein
Make-up.
»Wie sieht der
Einsatz aus?«, fragte Müller. Er dachte: Es wird ihre Art sein, die
Nacht zu verkürzen.
Sie sah ihn mit
großen, klaren grauen Augen an. Sie wirkte gut gelaunt. »Sagen wir,
einen Fünfer die Runde?«
Müller
nickte.
»Gut«, sagte sie.
»Ich gebe, wenn Sie nichts dagegen haben. Dann kann ich besser
mogeln.« Sie hatte ein Kartenspiel auf der Theke liegen und mischte
sehr gekonnt.
Der Pianist spielte
»Misty«.
Sie gab eine Karte an
Müller, deckte sich selbst eine auf. Müller hatte eine Vier, sie
eine Dame.
»Noch eine«, sagte
Müller. Die Karte kam angesegelt, er nahm sie auf. Es war eine
zweite Vier. Da er kein Spieler war, ihn Spiele gleich welcher Art
im Grunde nicht interessierten, meinte er: »Es reicht
mir.«
Zu ihrer Dame kam
eine Sieben, dann eine Fünf, dann überlegte sie kurz und zog eine
Zehn.
»Pech«, sagte sie und
verzog den Mund.
Müller deckte seine
mickrigen zwei Vieren auf.
»Ein Profi«, rief sie
heiter.
»So spielt das
Leben«, sagte Müller.
Sie war eine schöne
Frau mit einem schmalen, fast asketischen Gesicht und einem vollen
Mund. Um die Augen herum strahlten eine Menge kleiner Lachfältchen.
Sie hatte lange, elegante Hände mit sehr gepflegten
Nägeln.
Sie war
offensichtlich die Sorte Frau, vor der er sich sein Leben lang in
Acht genommen hatte: selbstsicher, anscheinend schrecklich
selbstständig und wahrscheinlich auch ziemlich klug.
Er verirrte sich
wieder in seinen Gedanken. Melanie hat mich sicher nicht
verstanden. Sie denkt, ich allein sei das Problem, sie wird nicht
verstanden haben, dass wir das Problem
sind. Sie wird es bald abhaken und später seufzen: »Mein Mann hat
uns verlassen, und ich weiß bis heute nicht, warum.«
»Es geht weiter«,
sagte die Frau neben ihm, offensichtlich machte es ihr Spaß. Ihre
Stimme war ein angenehmer Alt.
»Ich werde Sie in die
Pleite treiben«, versprach sie und lächelte Müller an. »Wie heißen
Sie eigentlich?«
»Karl«, antwortete
er, und er hatte jetzt ein hohles Gefühl im Bauch. Ihre Augen waren
sehr eindringlich.
»Und wahrscheinlich
nennen alle Sie Kalle, oder?«, sagte sie lächelnd.
»Nein.« Er schüttelte
den Kopf. »Sie nennen mich, wenn überhaupt, bestenfalls Karl.
Wahrscheinlich fällt ihnen zu mir nichts ein.«
In ihren Augen
schimmerte Heiterkeit. »Darüber würde ich mir Sorgen machen. Ich
heiße Karen, wie das amerikanische Karen. Mit Ä und doppeltem R.«
Sie ließ eine Karte zu ihm gleiten und dabei berührte sie seine
linke Hand.
»Erfreut, Karen«,
sagte Müller. Er zuckte nicht zurück, aber er war verwirrt. »Ich
muss noch sechsmal gewinnen, um meinen ersten Whisky zu
finanzieren. Also, los. Wieso dieser amerikanische
Frauenname?«
»Weiß der Geier«,
antwortete sie. »Ich habe meinen Vater nie kennen gelernt. Er kam
vorbei, aber nicht mehr wieder.« Sie deckte eine Karte für sich
auf. Es war ein Ass.
»Ein Rabenvater«,
stellte Müller fest.
Er sah seine Karte
an, es war eine Vier. Er hatte jetzt sieben, verlangte noch eine
Karte und bekam eine Zwei. Karen hatte einen König, eine Sieben,
eine Sechs. Sie riskierte es wieder und landete eine
Fünf.
»Es ist nicht mein
Tag«, murmelte sie.
Dann lächelte sie ihn
unvermittelt strahlend an. »Ich nehme also an, lieber Karl, dass du
berufsmäßig nächtelang in Bars herumhängst.«
»So kann man das
durchaus formulieren«, sagte Müller grinsend. »So, wie du mit
deinen Spielkarten im Dunkel der Nacht auf Opfer
wartest.«
Sie ist nicht die
Spur betrunken, dachte er verwundert. Er hörte, wie der Pianist in
seinem Rücken mit der alten Cole-Porter-Nummer »Love for Sale«
begann.
Wahrscheinlich kann
sie einfach nicht schlafen und will irgendwie die Nacht
totschlagen. Er atmete ihren sanften Duft, er wirkte
betörend.
»Ich warte eigentlich
niemals«, sagte sie tonlos, und es klang so, als sage sie das nur
zu sich selbst.
Der Whisky schmeckte
ausgezeichnet. Müller dachte: Du passt mir gut in den Kram, meine
Liebe, du und dieses Klavierspiel und dieses gedämpfte
Licht.
Anna-Maria wird mich
natürlich fragen: Wohnst du jetzt immer hier, Papa? Und wenn ich
viel Glück habe, stirbt mein Vater nicht. Um das Glück voll zu
machen, taucht Melanie in meiner Einraumwohnung auf und erklärt,
sie wolle nicht ohne mich leben. Und Achmed ruft mich auf der
sicheren Leitung an und sagt: Hey, ich bin mit ein paar Kumpels auf
einem Kurztrip in deiner Stadt, und ich finde es großartig hier.
Müller riss sich wieder aus seinen Gedanken.
»Ich möchte noch
einen blauen Johnnie Walker«, sagte er zum Barmann gewendet. »Und
was treibst du, um dein Frühstück zu verdienen,
Karen?«
»Ich bin eine
Werbefrau«, sagte sie leichthin. »Ich mache Kataloge und so
was.«
»Und was ist ›und so
was‹?«
»Na ja, schillernde,
witzige Texte, bunte, hübsche, aussagekräftige Fotos. Liebe
Hausfrau, ergänzen Sie: Ohne Flei… kein Prei…«
Müller dachte: Wir
zwei sind im Ozean der Möglichkeiten jetzt auf einer Insel, niemand
kommt an uns heran. Er spürte, dass er zitterte.
Der Betrunkene mit
dem Frauenarzt-Witz rechts neben Müller wurde aus irgendeinem Grund
laut und wütend, rutschte von seinem Hocker und versuchte den Mann
neben sich zu schlagen.
»Hey!«, sagte der
Barmann schnell, seine Hand schoss nach vorn, und er zog den
Betrunkenen am Hemd ganz dicht an sich heran, sodass der wie ein
Bogen über der Theke in der Luft hing.
»Schon gut!«, rief
der Betrunkene und hob beide Arme, als sei der Barmann
bewaffnet.
»Ich habe
einundzwanzig, ich gewinne!«, sagte Karen tonlos.
»So ein Mist«,
lächelte Müller.
Der Pianist begann
mit dem Knef-Titel »Ich zieh mich an und langsam aus«.
»Ich muss mal wohin«,
murmelte Karen.
Sie ist fantastisch,
dachte Müller aufgeregt und sah hinter ihr her. Sie war eine
schmale Person, und sie ging sehr selbstbewusst und zugleich sehr
weiblich mit weichen Bewegungen.
Ich bin ganz locker,
erstaunlich, dachte er. Am erstaunlichsten ist, dass ich sie
berühren will, unbedingt berühren will.
Karen kam nach ein
paar Minuten zurück und wirkte angriffslustig.
»Ich muss jetzt
dringend noch mal gewinnen.«
»Gut«, nickte Müller.
»Ich spiele blind, damit du glücklich wirst.«
Sie lächelte schnell,
gab ihm eine Sieben, sich selbst eine Zehn. Dann bekam er eine
nächste Sieben, dann eine dritte.
»Schon passiert.« Er
lachte.
Dann griff sie nach
seiner linken Hand und hielt sie einen Augenblick lang fest. »Wir
können die blöde Spielerei auch lassen.«
»Dann lassen wir es«,
sagte er mit einem Kloß in der Kehle.
Sie ließ seine Hand
los und warf einen Stapel Spielkarten scheinbar angewidert über die
Theke.
»Also gut, du hockst
also berufsmäßig in Bars. Und was machst du tagsüber?«
»Tagsüber bin ich ein
Behördenhengst und räume acht Stunden lang Bleistifte von rechts
nach links und umgekehrt. Mittags esse ich in der Kantine, und
abends hole ich mir Softpornos aus dem Videoverleih, schließe mich
in meiner Einraumwohnung ein und fresse kiloweise
Kartoffelchips.«
»Niemals«, sagte sie
heftig. »Das ist gelogen.«
»Die Nacht ist die
Stunde der Lügner«, sagte er theatralisch.
»Kannst du nicht
sagen, was für einen Beruf du hast?«
»Klar kann ich das.
Ich arbeite im Innenministerium.«
»Und was,
bitte?«
»Ich räume die
Bleistifte von rechts nach links. Ich bin ein
Schreibtischhengst.«
»Das ist unfair«,
sagte sie seufzend. »Niemand mit diesen Augen räumt Bleistifte von
links nach rechts.« Dann lächelte sie schnell und
flüchtig.
»Du bist ein
Oberstudienrat, der in ein paar Stunden vor seiner Klasse steht und
sich beschimpfen lassen muss.«
Der Pianist spielte
die alte Marika-Rökk-Melodie »In der Nacht ist der Mensch nicht
gern alleine«.
»Ist doch egal«,
sagte Müller.
»Ja, ist egal«, sagte
Karen. Sie sah ihn an, und es war plötzlich eilig und ernst. »Ich
würde gern mit dir reden.«
»Aber das kannst du
doch«, antwortete er mit trockenem Mund.
»Im Ernst«, sagte
Karen eindringlich. »Einfach reden.«
»Ja«, nickte er
nervös.
»Nicht hier«,
flüsterte sie.
»Das ist
verblüffend«, erklärte Müller leicht erregt und deutete Richtung
Klavierspieler. »Hör mal genau zu. Weißt du, was er
spielt?«
»Drück dich nicht«,
sagte sie atemlos und ein wenig wütend. »Was spielt er
denn?«
»Das Thema von
Mahlers Erster Symphonie.«
»Du willst mir
ausweichen.«
»Gut, du willst
reden«, sagte er dann. »Ich will auch reden, glaube ich. Ich will
auf jeden Fall allein mit dir sein.«
»Dann fahr in den
dritten Stock, Zimmer Nummer dreihundertzwanzig. Vergisst du das
auch nicht?«
»Nein. Bis
gleich.«
Karen bezahlte, gab
ein großzügiges Trinkgeld, und Müller sah, dass sie etwas nervös
mit ihrem Geldbeutel hantierte. Dann nickte sie ihm zu und ging
langsam davon.
Müller legte dem
Barmann einen kleinen Schein hin und sagte: »Es war schön hier in
deinem Laden.«
Er schlenderte
langsam in die Lobby, schielte nach den Aufzügen. Und er hörte in
plötzlich aufflammender Verlegenheit, wie der Pianist einen halben
Zentner Schmalz nachlieferte – »Strangers in the Night«. Müller
dachte: Das kann nicht sein, das ist einfach zu
trivial.
Sie hatte die Tür
ihres Zimmers nur angelehnt.
Er sagte Hallo und
ging hinein. Er hörte Geräusche im Bad und schloss die Tür hinter
sich. Er setzte sich in einen gelben Sessel und dachte flüchtig an
den unbeschreiblich rosafarbenen in seiner
Einraumwohnung.
Sie wird
wahrscheinlich nicht nur reden wollen, ihre Augen waren so hungrig,
dachte Müller. Na, sicher, ich bin auch hungrig. Über was wird sie
reden wollen? Über ihr Leben, von dem ich keine Ahnung habe? Über
irgendeinen Mann, den sie mal hatte oder den sie haben möchte oder
der irgendwo auf sie wartet? Oder zerrt sie mich gleich ins Bett?
Ich bin auch schon total meschugge. Dann lächelte er.
Karen kam aus dem Bad
und trug einen beigefarbenen, glänzenden Morgenmantel, der ihr bis
knapp über die Knie reichte.
Sie fragte: »Willst
du etwas essen? Soll ich etwas kommen lassen?«
»Nein, danke«, sagte
er.
Sie baute sich vor
ihm auf, als wolle sie ein für alle Mal etwas klarstellen, und
erklärte: »Ich bin völlig übermüdet. Hast du etwas dagegen, wenn
ich mich auf das Bett lege?« Sie lachte leise. »Hübsch
zurückhaltend, natürlich.«
»Ich habe nichts
dagegen«, erwiderte er. »Hast du etwas dagegen, wenn ich das
Jackett ausziehe?«
»Es steht Sekt im
Eisschrank.«
»Kein Alkohol mehr.
Ich trinke selten.«
Sie legte sich auf
das Bett, kramte die Kopfkissen zusammen und stopfte sie sich
hinter den Rücken.
»Du bist schon ein
seltsamer Heiliger. Du gibst nicht gern etwas preis, nicht
wahr?«
»Nein«, sagte
er.
»Wenn du jetzt hier
rausmarschierst, hätte ich Schwierigkeiten, dich zu
beschreiben.«
Er lachte unterdrückt
und konnte sich nicht enthalten zu sagen: »Das ist durchaus
beabsichtigt.«
»Ja, das denke ich
mir. Ich will mit dir über diese Stadt reden. Ich habe hier dauernd
zu arbeiten, ich rede mit wichtigen Leuten. Und wenn ich abends in
dieses Hotel komme und genau überlege, haben sie alle so gut wie
nichts gesagt. Vor allem niemals klar ja oder nein.«
»Mit wem redest du
denn?«
»Im Moment mit den
Liberalen. Ich soll ihnen ein klareres Profil
verschaffen.«
»Aha. Dahinter steckt
viel Geld, oder?«
»Sehr viel Geld
sogar, wenn es klappt. Aber es ist nicht das Geld, es ist die
ständige Nervosität der Leute, die mich fertig macht. Vor ein paar
Tagen hat mir jemand gesagt: Wissen Sie, wir wissen eben mittags
noch nicht, was wir abends dementieren müssen. Und das macht uns so
anfällig.« Sie lachte.
Wieso hocke ich
hier?, dachte er fiebrig. Ich könnte jetzt bei meinem Vater sein
und seine Hand halten. Oder ich könnte im Haus meiner Eltern in
meinem alten Zimmer sitzen, damit meine Mutter nicht so allein ist
und sich nicht so fürchten muss. Diese Frau hier ist wahrscheinlich
unerreichbar weit entfernt, und sie würde sich wohl totlachen, wenn
sie wüsste, dass ich seit zwei Jahren mit keiner Frau mehr
geschlafen habe.
»Hallo!«, sagte sie
übertrieben laut. »Wo bist du denn?«
»Ich … ich war weit
weg. Mein Vater ist schwer krank.«
»Das tut mir Leid.
Was hat er denn?«
»Schlaganfall. Er
liegt im Koma, was immer das bedeuten mag.«
Jetzt meldete sich
sein Handy, es war wenige Minuten vor zwei. Er sagte:
»Entschuldigung«, und nahm es aus der Hosentasche.
»Ich komme vom Band«,
hörte er Krause sagen. »Danke für Ihre Anregung wegen der Fahnder.
Wir hatten unseren Bruderstamm sofort darum gebeten. Sie haben
Achmed nicht ausfindig gemacht. Ende.«
»Irgendetwas wegen
deines Vaters?«, fragte sie.
»Nein«, sagte er.
»Nur Routine. Nichts Besonderes.«
»Manchmal sage ich
mir, dass es das Beste wäre, hier die Zelte abzubrechen und einfach
abzuhauen, statt solche Nullachtfuffzehn-Aufträge
abzuspulen.«
»Wenn diese Stadt
dich fertig macht, solltest du das wirklich tun. Wo bist du denn zu
Hause?«
»In
Frankfurt.«
»Und du hast eine
richtige, lebendige Firma?«
»Habe ich. Karen
Swoboda GmbH und Co. KG.«
»Wie, um Gottes
willen, kann man Swoboda heißen?«
»Wenn du einen Wiener
geheiratet hast und aus dem Wahn erwachst. Komm her und leg dich
neben mich.«
Er sah sie an und
fragte: »Fördert das nicht den Geschlechtsverkehr?«
»Manchmal tut es
das«, sagte sie leise. »Verdammt, ich bin eben zurzeit einsam, und
bei dir habe ich das Gefühl, ich kann das sagen.«
»Das kannst du auch«,
sagte Müller. Er stand aus seinem Sessel auf, löste den Gürtel
seiner Hose und legte sich neben sie, stocksteif wie ein Stück
Holz. Plötzlich musste er darüber kichern.
»Gib mir deine Hand.
Du bist auch einsam. Und erschöpft.«
»Du hast
Recht.«
Ihre Hand war warm
und trocken.
»Ich habe meine
Schuhe noch an«, sagte er. Er fühlte sich auf einmal nur noch
gut.
»Das macht nichts.
Moderne junge Menschen latschen erst stundenlang durch Hundekacke
und legen sich anschließend in ihre Seidenkissen. Um zu
demonstrieren, dass sie diese junge, aufregende Welt total kapiert
haben.«
Er lachte, beugte
sich nach vorn, zog sich die Schuhe aus und warf sie auf den
Fußboden.
»Hast du
Geschwister?«, fragte er schließlich.
»Nein.« Sie wälzte
sich zu ihm hin auf den Bauch, und ihr Gesicht war jetzt dicht über
seinem. »Kannst du mal den Mund halten, während ich dein Gesicht
betrachte?«
Er schloss die
Augen.
»Lass die Augen
offen. Irgendetwas ist mit deinem linken Auge.«
Er lachte. »Es ist
gelb.«
»Es ist
was?«
»Es ist
gelb.«
»Das ist nicht wahr.
Doch, warte mal, es könnte sein.«
Er drehte sich unter
ihr weg und nahm vorsichtig die Linse von seinem linken Auge. Er
legte sie auf den Nachttisch, drehte sich zurück und sagte: »Jetzt
guck mal.«
»Das ist aber was
Seltenes, oder? Und wieso versteckst du das?« Sie lächelte ihn an,
und dann küsste sie ihn flüchtig auf die Lippen, dann auf die
Augen, dann auf die Stirn. »Ich will es gar nicht wissen, sonst
löst du dich in Luft auf. Nimm mich in die Arme.«
Er nahm sie in die
Arme, sie legte den Kopf neben seinen, der Morgenmantel hatte sich
verschoben, er dachte ein wenig zittrig: Ich nehme es an, verdammt,
ich nehme es einfach an.
»Du hast mir gut
getan.«
»Du mir
auch.«
»Wann musst du
gehen?«
»Eigentlich muss ich
gar nicht gehen. Eigentlich würde ich gern hier bleiben und mit dir
frühstücken.«
»Das ist schön. Wie
viel Uhr ist es?«
»Zwanzig nach
drei.«
»Gute Zeit«, murmelte
sie und gähnte.
Irgendwann zog sie
eine der Bettdecken vom Fußboden hoch und legte sie über sich. Dann
schlief sie, und Müller dachte: Sie sieht so aus, als vertraue sie
der Welt wie ein Kind, das sein Zuhause fühlt.