DRITTER TAG
 
Müller schrieb ein PS zu seinem Treffbericht Damaskus. Er führte aus: »Ich will noch einmal zurückkommen auf die Unwägbarkeiten bei der Einschätzung Achmeds. Er zählte, wie bereits erwähnt, die ihm übergebenen fünftausend US-Dollar nicht, was noch niemals vorgekommen ist. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass ich störe. Er machte während unseres Gesprächs immer wieder einen unkonzentrierten Eindruck, seine Gedanken glitten ab. Einmal erwähnte er sogar hastig, er habe vergessen, mir mitzuteilen, dass bereits drei Gruppen der US-Amerikaner in den Nordiran eingesickert seien. Auch so etwas ist noch nie passiert. Was mir jedoch besonders auffiel, war, dass er kein einziges Mal seinen Laptop erwähnte, kein neues Programm haben wollte, nicht von seinen neuesten Entdeckungen berichtete, die er im Internet gemacht hat. Das ist noch nie vorgekommen, seit dieses Amt ihm den Laptop übergab. Meiner Einschätzung nach war er hellwach, aber dauernd abgelenkt durch irgendetwas, an dem ich nicht teilhaben sollte oder teilhaben durfte. Es spielte sich in seinem Kopf ab. Gez. Müller.«
Es war 8.16 Uhr, Müller hatte schlecht geschlafen und saß seit sieben Uhr hinter seinem Schreibtisch. Er hatte die Hamburger Leitung überprüft, ob sich Achmed möglicherweise gemeldet hatte. Aber da war nichts.
Er rief die Intensivstation an und bat, seine Mutter an den Apparat zu holen.
Er sagte: »Ich war gestern Abend noch bei ihm, aber er war nicht ansprechbar. Wie geht es ihm jetzt?«
»Sie sagen, er hatte eine gute Nacht. Sonst ist alles unverändert. Wo bist du denn jetzt?« Ihre Stimme klang erstaunlich sachlich.
»Ich bin hier im Amt, ich sitze am Schreibtisch. Gehen wir heute zusammen zur Bank, dass du an das Geld kommst?«
»Ja, das wäre gut.«
»Dann bin ich gegen elf Uhr bei dir.«
Er stand auf und ging hinüber zu Krause, aber der hatte offensichtlich eine Konferenz oder wichtige Telefonate. An der Türklinke hing der rote Punkt. Müller erinnerte sich, dass er dieses Warnzeichen einmal übersehen hatte und trotzdem hineingestürmt war. Krause in wütendem Zustand zu erleben, war etwas, auf das er seither gut verzichten konnte.
Er nahm seine zweite Tagesaufgabe in Angriff. Er hatte zu jedem einzelnen Punkt, über den ihm Achmed berichtet hatte, eine eigene Meldung zu machen. Diese Meldungen liefen in dem Fall über Krauses Tisch und von dort zur AuMe, zur Auftragssteuerung und Meldungsbearbeitung, die dafür zu sorgen hatte, dass in den Texten mögliche operative Details nicht erkennbar waren. Gleichzeitig gingen die Meldungen an die Auswertung III. Die Auswertung wiederum erarbeitete aus diesen Meldungen und allen parallel gewonnenen Erkenntnissen zur gleichen Sache die Berichte, die an das Kanzleramt und an das jeweils betroffene Ressort gingen. Und Krause schließlich würde als Führungsstelle irgendwann die Echos dieser Berichte erleben. Es würde nicht erkennbar sein, wer die Meldung geschrieben hatte und aus welcher Quelle sie kam.
Vornehmlich den jungen Mitarbeitern erschien dieses sich selbst am Leben erhaltende System ein Unikum zu sein, auch etwas, das enorm störte. Aber einen besseren Vorschlag schien niemand zu haben. Müller nannte es für sich das Seufzer-System. Müller schrieb die Meldungen konzentriert und schnell und versuchte dann herauszufinden, inwieweit Achmeds Mitteilungen andere Quellen in Nahost betreffen könnten. Er fand fünf Fragen und entwickelte Vorschläge für Krause, der dann die Verbindung zu Partnerdiensten und eigenen menschlichen Quellen suchen musste.
Frage: Ist die neue israelische Firma Compudicta in Latakia bekannt? Firma anschauen. Kontakt in Latakia möglich über G. G. wie gehabt. Konzentration auf Mustafa aus Zypern, angeblich der Chef. Frage: Ist ein Israeli namens Zvi bekannt, der angeblich ein neues Netz in Damaskus baut? Wichtige Frage: Sind Ölfunde der Amerikaner an der südlichen Grenze Syriens bekannt? Frage: Ist bekannt, dass Agenten der US-Amerikaner durch Syrien entlang der Südgrenze der Türkei über den Irak in den Iran geleitet werden? Frage: Ist bekannt, dass die syrische Grenzschutzbrigade auf viertausend Mann hochgerüstet wurde? Einstufung: Dringend.
Er überdachte die Fragen auf ihre Logik, fand keinen Fehler und konnte sich vorstellen, dass ab sofort Mustafa aus Zypern im syrischen Latakia ebenso eingekreist sein würde wie die amerikanischen Ölsucher und die amerikanischen Gruppen auf dem Weg in den Iran. Er nannte das für sich eine Treibjagd, und er hatte noch niemals eine Treibjagd ohne Ergebnisse erlebt.
Er ging erneut zu Krauses Büro, es war nicht mehr blockiert.
Er legte die Unterlagen vor ihn hin und sagte: »Ich habe ein PS an den Treffbericht gehängt und die nächsten möglichen Fragen entworfen.«
Krause nickte nur und fragte: »Wie geht es Ihrem Vater?«
»Nicht gut. Ich möchte um elf Uhr meine Mutter treffen. Sie hat keine Ahnung von der finanziellen Seite, und sie braucht meine Hilfe. Es wird nicht lange dauern.«
»Selbstverständlich. Und können wir dann einen Spaziergang machen?«
»Ja.« Müller dachte mit Unbehagen: Ausweichen geht ohnehin nicht, ich brauche eine schnelle Klärung, und vielleicht hat er eine Idee.
»Dann noch etwas. Ich habe eben Ihr PS im Computer gesehen. Kann es nicht sein, dass Achmed eine neue Geliebte hat, die ihn mächtig aufregt, die gewissermaßen sein ganzes Denken erfüllt?«
»Ja, das kann sein. Aber ich würde sagen: Nein. Es muss irgendetwas anderes sein. Es ist eben etwas nicht Beweisbares, es ist ein Gefühl. Er wollte mich aus irgendetwas heraushalten.«
»Kann es sein, dass er in eine seiner Nachrichten stark verwickelt ist? Beispielsweise in die Nachricht von der Tarnfirma der Israelis in Latakia?«
»Natürlich.«
»Und dann die Geschichte mit dem Laptop, den er gar nicht erwähnte. Ist das so gravierend?«
»Ja, das ist es.«
»Ein Beispiel?«
»Das habe ich. Wie Sie wissen, gehen wir freundschaftlich miteinander um. Eines Tages, es war beim vorletzten Treff, kamen wir am Rande von Damaskus in einem Industriegebiet an einer Tankstelle vorbei. Wir waren im Wagen von Achmed unterwegs. Achmed tankte, dann gingen wir in eine Bude, in der es Kaffee gab. Da war ein französischer Truckfahrer, der angab wie ein Sack Seife. Sein Truck wäre absolut einbruchsicher, GPS-gesteuert. Und falls jemand versuchen würde, ihn aufzubrechen, würde die Karre ein solches Geheul machen, dass es noch in Bagdad zu hören sei. Na ja, Achmed hörte sich das an, nahm seine Leinentasche mit dem Laptop und verschwand. Ich habe nicht weiter auf ihn geachtet. Nach vier oder fünf Minuten kommt er zurück und sagt zu dem Franzosen: ›Mein Freund, ich bin an deinem Truck vorbeigekommen. Und der steht sperrangelweit auf!‹ Dem Kerl quollen die Augen aus dem Kopf. Er rannte zu seinem Lkw, und der stand tatsächlich offen. Ich habe das auch im Treffbericht damals erwähnt. Ein zweites Beispiel: Ich war abends in Achmeds Haus zu Gast. Ganz ungezwungen auf einen Schwatz. Und plötzlich erzählt sein ältester Sohn, Papa habe bei einem vorbeifahrenden Linienbus während der Fahrt die Türen aufgehen lassen. Das stimmte wirklich. Achmeds Leben ist voll von derartigen Geschichten. Tatsächlich ist er auch schon in den Daten vom Pentagon spazieren gegangen, und um mir eine Freude zu machen, hat er die Gliederung der Bundeswehr im Falle einer Krisensituation an den östlichen deutschen Grenzen ausgedruckt. Auch das habe ich unter den Anmerkungen in einem Treffbericht erwähnt. Was Computer anlangt, ist er eines dieser Genies, einer dieser Alleskönner. Und niemals hat er mich gehen lassen, ohne irgendetwas für seinen Computer zu bestellen, und sei es auch nur ein Spiel für seine Söhne. Kein Wort diesmal, nicht ein einziges. Es war so, als sei er nicht mehr Teil seiner Welt.«
»Das wäre aber auch erklärbar aus irgendwelchen privaten Umständen, die wir nicht kennen?«
»Selbstverständlich«, nickte Müller.
»Gut, bis später. Ihre Folgefragen schaue ich mir an.«
Müller trabte in sein Büro zurück, schlüpfte in seine leichte Jacke und verließ das Amt.
 
Er war kurz nach elf in der Klinik und fand seine Mutter neben dem Bett seines Vaters, wie sie ihm aus der Tageszeitung Meldungen vorlas. Sie sah ihren Sohn an, und eine leichte Verlegenheitsröte stieg in ihre Wangen.
»Eine Schwester meinte, er könnte das vielleicht hören.«
»Ja«, meinte Müller und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe ihm auch etwas erzählt, vielleicht kriegt er es wirklich mit.«
Das Gesicht des Vaters war bleich bis grau, und das rechte Augenlid flatterte. Wieder tropfte irgendeine Flüssigkeit in seine Adern.
Müller drückte seine Hand und sagte: »Ich bin auch wieder hier, Papa. Wir müssen nur kurz auf die Bank.«
Dann gingen sie.
»Hat du deinen Pass bei dir?«
»Ja. Ich bin so hilflos, weißt du.«
»Ja, natürlich. Das bin ich auch.«
Die Erledigung der Bankgeschichte dauerte nur zwanzig Minuten, weil der Filialleiter Müllers Mutter kannte und erklärte, er habe seine Tochter in einer Klasse bei dem »Herrn Schuldirektor« gehabt, und der sei einer der besten Lehrer gewesen, wie seine Tochter ihm immer wieder über die Jahre versichert habe.
Dann standen sie draußen in der Sonne und kamen sich verloren vor. Sie wandten sich einander zu und waren verlegen.
Müller sagte: »Er wird es schaffen, weißt du.«
»Dann bist du optimistischer als ich. Wie wäre es mit einem Kaffee bei Grüns?«
»Gut«, sagte er. »Die Zeit habe ich noch.«
Ein Kaffee bei Grüns, das war ein Schlüsselwort seiner Jugend. Alle Welt nahm dort einen Kaffee und fühlte sich offensichtlich in der angestaubten Konditorei wohl. Er erinnerte sich, dass er sogar seine erste große Liebe dorthin zu einem Eis eingeladen hatte und dass er mit ihr eine geschlagene Stunde lang an einem kleinen, runden Tisch auf hohen, unbequemen Stühlen gesessen hatte – vollkommen wortlos, vollkommen hilflos. Dann hatte die erste große Liebe verächtlich gemeint, es gebe bessere Orte, und war verschwunden.
Grüns war für ihn immer noch eine seltsam anmutende Gastronomie im Stil der späten Sechziger, und vor allem ein Wald aus grünen Topfpflanzen, die aus irgendeinem Grund niemals einzugehen schienen, obwohl der Gastraum reichlich düster war. Er hatte es verächtlich Grüns Regenwald genannt, als er unbedingt sein Elternhaus verlassen wollte, um endlich auf eigenen Füßen zu stehen.
Maja, die erste Liebe, hatte unendlich langes, dunkelbraunes Haar und war der felsenfesten Überzeugung, auf sie warte ein Märchenprinz. Einmal hatte sie ihm erlaubt, eine Hand auf ihren Busen zu legen, nur um dann zusammenzuzucken und die Augen tellergroß aufzureißen wegen der Ungeheuerlichkeit dieses Vorfalls.
»Ich dachte eben an Maja«, erklärte er seiner Mutter auf dem Weg zu Grüns.
»Das arme Ding«, sagte sie schnell. »Sie hatte mit achtzehn ihr erstes Baby, aber keinen Mann. Und mit zweiundzwanzig hatte sie drei Kinder und noch immer keinen Mann. So kann es gehen. Ihre arme Mutter ist ganz neurotisch gestorben.« Dann kam die Frage, die er eigentlich seit einer Stunde erwartete. »Sag mal, mein Lieber, wie geht es eigentlich deiner Ehe?«
Weil er über die Antwort schon lange nachgedacht hatte, sagte er knapp: »Es steht nicht gut. Mein Beruf ist im Grunde nicht ehetauglich. Wir haben keinen Zoff, falls du das meinst. Aber wir leben irgendwie nebeneinander her. Sie in der Bank und ich im BND. Und es gibt kaum Verbindungswege.«
»Kannst du dich denn nicht versetzen lassen?«
»Kann ich nicht«, antwortete er. »Will ich auch nicht. Als Sesselfurzer würde ich depressiv.«
Sie schwieg eine Weile, um schließlich zu fragen: »Und? Was soll jetzt werden?«
»Ich weiß es nicht, Mama, ich weiß es wirklich nicht.«
»Kannst du denn nicht zurück auf irgendeinen angenehmen Posten bei der Polizei?«
»Das geht nicht, Mama. Die Polizei ist dicht, es gibt keine offenen Stellen, ich würde also nur als Arbeitsloser enden oder bestenfalls Taxi fahren oder Pizzas an die Haustür bringen.«
»Aber du hast studiert, dich wird doch jeder nehmen.«
»Das war einmal, Mama. Und das ist verdammt lange her.« Er dachte flüchtig, dass sie jetzt vierundsiebzig Jahre alt war und in ihrem Häuschen wie in einem Wolkenkuckucksheim gelebt hatte – abseits jeder neuen Realität. Und er dachte auch, dass er sie liebte und eigentlich immer geliebt hatte.
Er sagte behutsam: »Weißt du, mir fällt auf, dass ich über viele Dinge mit Papa nicht geredet habe. Und weil ich dringend mit ihm reden muss, sollten wir dafür sorgen, dass er am Leben bleibt.«
»Ja, das wollen wir tun«, sagte sie nach einer langen Pause. »Er ist wirklich ein guter Mann gewesen, immer sehr sachte und beschützend.« Ein kleines Lachen kam. »Und wir zwei haben auch über viele Dinge nicht geredet. Er war nie redselig, weißt du.«
»Ja. Er war immer ein sturer, alter, schweigsamer Bock. Und er hat immer gewonnen. Wenn ich eine Klassenarbeit versaute, war er still wie eine Auster. Nur einmal, als er nicht wissen konnte, dass ich ihn ansah, lächelte er. Der Kerl lächelte über eine versaute Mathematikarbeit, das muss man sich mal vorstellen! Du lieber Gott, er darf nicht sterben.«
»Wir müssen viel beten«, fügte sie sachlich hinzu.
»Aber noch lebt er«, sagte Müller in reinem Trotz, und es kam ihm selbst wie ein Gebet vor.
Sie tranken ihren Kaffee schnell, weil das Café plötzlich von einer großen Trauergemeinde besetzt wurde, die vom nahen Friedhof kam.
Seine Mutter wollte, dass er sie wieder in die Klinik fuhr, nicht in ihr Häuschen. »Da bin ich so schrecklich einsam«, sagte sie, und er widersprach ihr nicht.
Bevor sie ausstieg, nahm sie seinen Kopf in beide Hände, drehte ihn zu sich und küsste ihn leicht auf die Stirn. Sie sagte: »Ich werde dich dringend brauchen.«
»Ja«, antwortete er verwirrt. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihn jemals so geküsst hätte. Er sah ihr nach, wie sie die breite Treppe hinaufstieg und dann hinter den gläsernen Türen der Klinik verschwand.
Dann fuhr er zu einem kleinen türkischen Dönerrestaurant und ließ sich einen Teller voll Geflügelfleisch mit einer Scheibe Brot geben, dazu ein Wasser. Von seinem Platz aus sah er hinaus auf die Straße und dachte daran, dass er hier schon als Oberschüler seinen Döner gekauft hatte und dass es gut war, in dieser Stadt zu leben.
Der Anruf kam um dreizehn Minuten nach eins.
Krause sagte ohne Umschweife: »Sofort kommen, wir haben ein Dringend.«
Müller konnte sich nicht daran erinnern, dass so etwas jemals vorher geschehen wäre. Er ließ das Essen stehen, winkte dem verdutzten Türken hinterm Tresen zu und rannte zu seinem Auto.
 
Es dauerte unendlich lange achtzehn Minuten, weil irgendein kleiner Unfall die Straße blockierte.
Er rannte aus der Tiefgarage das Treppenhaus hoch und in Krauses Büro. Krause saß rechts an seinem Schreibtisch, ihm gegenüber der Leiter Operative Sicherheit Willi Sowinski. Sie sahen ihn beide an, bewegten sich nicht, nickten nicht, wirkten wie Wachspuppen, und ihr Blick war sehr intensiv.
»Nehmen Sie den Stuhl da«, murmelte Krause. »Ich erzähle Ihnen jetzt mal, was vor rund fünfundzwanzig Minuten hier passiert ist, damit Sie verstehen, weshalb ich Sie gerufen habe. Irgendetwas Besonderes mit Ihrem Vater?«
»Nein, leider alles wie gehabt.«
»Gut. Dann ist da noch ein wenig Hoffnung. Also, ich lese mir Ihre Fragen an die Kollegen rund um Syrien durch und will mich noch einmal vergewissern, dass ich nichts übersehe. Washington sollten wir übrigens dazunehmen. Und ich studiere unser Fotoalbum Achmed. Da kommt plötzlich mein Freund Sowinski rein, deutet auf ein schönes, klares Farbfoto von Achmed und sagt: ›Den Knaben habe ich eben am Flughafen Tegel gesehen.‹« Er machte eine Pause. »Was können Sie mir dazu sagen?«
»Wie bitte?«, fragte Müller verblüfft. »Das muss ein Irrtum sein.«
»Ist aber kein Irrtum«, sagte Sowinski ohne jede besondere Betonung. »Ich kenne die Akte Achmed genau, habe sie nach Ihrem Bericht extra noch mal studiert, inklusive Fotoalbum. Ich habe jeden Treffbericht gelesen, und ich habe Achmed definitiv wiedererkannt. Ich dachte, mich laust der Affe. Es war exakt zwölf Uhr siebzehn. Wir haben jetzt ein Problem, und zwar ein ziemlich großes.«
»Die Kameras«, sagte Müller sofort. »Die Kameras auf dem Flughafen zeichnen doch auf …«
»Die Filme sind angefordert«, unterbrach ihn Sowinski und setzte nach: »Was fällt Ihnen dazu ein?«
»Ich nehme zunächst an, dass es stimmt. Aber dann tauchen Fragen auf. Zum Beispiel die, welche Flugverbindungen er benutzte. Er musste unter diesen Umständen damit rechnen, dass er mit mir in einem Flieger sitzt. Das kann er unmöglich riskiert haben. Er hat mich noch gefragt, ob ich eine weitere Nacht bleibe, und ich habe geantwortet, dass ich es noch nicht weiß. Wo sind die Passagierlisten?«
»Kommen gleich«, antwortete Sowinski.
»Ich muss mit seiner Frau reden«, stellte Müller fest. »Unbedingt.«
»Noch zu früh«, entschied Krause. Er sah Sowinski an: »Erinnerst du dich an sein Gepäck? Hatte er irgendwelche Taschen oder so was?«
»Ich erinnere mich nur an die klassische Laptop-Tasche. Flach, schwarz, Leder oder lederartig, mit einem breiten Trageband. Muss aber kein Laptop gewesen sein.« Dann sah er Müller an, und die Finger seiner rechten Hand spielten auf der Schreibtischplatte ein Stakkato. »War Achmed Ihres Wissens jemals im Ausland?«
»Nein, nie.« Müller schüttelte den Kopf. »Er träumte von einer Öffnung Syriens, die es ihm gestatten würde zu reisen. Aber unter der jetzigen präsidialen Diktatur ist das nicht möglich. Also frage ich mich: Woher, zum Henker, hat er das Visum?«
»Jedenfalls nicht von der Botschaft in Damaskus«, antwortete Krause. »Anfrage gelaufen, Auskunft eindeutig negativ. Kein Visum für Achmed. Aber vielleicht hat er ja einen Aliasnamen verwendet, wie es viele in Nahost machen. Wir hatten es schon mit Sympathisanten der Mullah-Szene zu tun, die unter zwanzig verschiedenen Namen auftraten und für zehn davon einen gültigen Pass hatten. Was läuft da?«
»Wir wissen es nicht«, seufzte Sowinski nach einer Weile, »wir können nur daran arbeiten.«
Krause sagte nicht ohne Stolz: »Sie hatten jedenfalls mal wieder Recht. Achmed ist aus dem Ruder gelaufen. Hat er jemals gesagt, er wolle mal gern nach Berlin fliegen?«
»Ja, natürlich. Aber das sagen sie alle, das ist nichts Besonderes.«
»Richtig. Hat er sich Berlin jemals von Ihnen beschreiben lassen?«
»Er hat gefragt, was wir so am Abend machen, wo wir hingehen, um ein Bier zu trinken. Solche Sachen. Und die frühere Berliner Mauer musste ich ihm schildern, die interessierte ihn brennend.«
»Und Sie mussten ihm auch beschreiben, wie Sie wohnen, wie das Häuschen aussieht.« Krause wurde immer schneller.
»Ja, selbstverständlich.«
»Und dass Ihre Frau in der Bank arbeitet und die Tochter Anna-Maria fünf Jahre alt ist.«
»Aber natürlich. Wir waren … wir sind gute Kumpel, Freunde fast.«
»Dann hat er also auch Ihre Adresse, Ihren Klarnamen?«
»Hat er. Für den äußersten Notfall.«
»Was ist denn der äußerste Notfall?«
Es herrschte jetzt eine dröhnende Stille.
»Der äußerste Notfall ist seine schnelle Flucht aus Damaskus im Falle einer Identifizierung.« Müller spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirne trat.
»Seine schnelle Flucht aus Damaskus sieht im Normalfall doch so aus, dass er versucht, auf felsigen Trampelpfaden in den Libanon überzuwechseln oder von mir aus nach Jordanien oder in die Türkei. Aber doch nicht so, dass er einen Flieger besteigt und hier fröhlich pfeifend ankommt – und das alles, ohne Ihnen ein Wort zu sagen.« Sowinski war eindeutig ärgerlich, seine Wangenknochen mahlten.
»Er hat Ihnen gestern kein Wort gesagt, dass er heute in Berlin auftauchen würde. Aber er ist hier, und es sieht nicht so aus, als sei er auf der Flucht. Dann säße er nämlich wahrscheinlich längst auf Ihrer Wohnzimmercouch.« Krause sprach ganz ruhig und gelassen. Es war wie immer: Je größer das Problem, umso ruhiger wurde er.
Müller wedelte mit beiden Händen. »Ich kann mir nicht vorstellen, was er hier sucht oder will.«
»Dass er Ihre Adresse hat, ist gegen die Regel«, stellte Sowinski wütend fest.
»Und sollte er hier in eine Ladung geballter Kacke geraten, wird er vor Ihrer Tür stehen.«
»Er ist schließlich so etwas wie ein Freund, seine Arbeit vor Ort war bisher sehr gut«, verteidigte sich Müller schwach.
Es herrschte Schweigen.
»Wir müssen uns was überlegen«, sagte Krause.
 
Wenig später kamen die Aufzeichnungen der Überwachungskameras vom Flughafen Tegel. Eine lange Aufzeichnung von etwa fünfzehn Sekunden zeigte Achmed, wie er aus dem Gate kam und zum Gepäckband hinüberging. Er trug seine schwarze Laptop-Tasche über der Schulter. Dann zeigte eine andere Kamera, wie er eine große, schwarz-weiße Sporttasche aufnahm und sich abwandte, um irgendwohin zu gehen.
Sein Gesicht verriet keine Spur von Aufregung, eher die Neugier, die ihm eigen war, das ständige Drehen des Kopfes, um keine Nuance dieser neuen Welt zu verpassen.
»Eindeutig?«, fragte Krause.
»Eindeutig«, nickte Müller. »Haben wir jetzt die Passagierlisten?«
»Haben wir. Er kam mit einer Direktmaschine aus Kairo. Er hatte ein Visum auf den dämlichen Namen Ali Akbar, ausgestellt heute von der Botschaft in Kairo. Die Botschaft sagt, sie haben noch keine Ahnung, wie er an das Visum gekommen ist. Sie haben keine Unterlagen über ihn. Sie prüfen das, bla, bla, bla.«
»Wie ist er denn nach Kairo gekommen?«, fragte Müller.
»Wissen wir nicht«, sagte Sowinski abwehrend.
»Ich muss mit seiner Frau reden«, sagte Müller.
»Tun Sie das«, sagte Krause. »Aber keine Einzelheiten, auf keinen Fall! Scheuchen Sie nichts auf.«
»Ja«, sagte Müller und ging in sein Büro.
Er rief Nour zu Hause an und schnitt das Gespräch auf Tonband mit. Fröhlich sagte er: »Hi, alte Ehefrau, wie geht es dir?«
»Hallo, Karl! Sehr gut«, antwortete sie. »Und was treibst du?«
»Ich hatte deinem Mann eine kleine Spezialmaschine versprochen. Im Geschäft erreiche ich ihn nicht. Ist er bei dir?«
»Nein«, sagte sie, scheinbar ohne Argwohn. »Hier ist er nicht. Er musste für ein paar Tage verreisen.«
»Ach, das ist ja mal was anderes. Wohin denn?«
»Er sagte Kairo, aber er wusste nicht genau, wann er wieder zurückkommt.« Sie lachte. »Er hat mir jedenfalls versprochen, ein paar Seidenkleider mitzubringen. Stell dir vor, ich in Seide.«
»Das wird wunderbar aussehen. Hat er sich noch nicht gemeldet?«
»Noch nicht. Aber das wird bald kommen. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Ja, sag ihm bitte, er kann die Maschine haben. Dein Achmed macht doch nicht etwa in Kairo eine Filiale auf?«, fragte er.
»Nein, nein. Die Reise ist für einen Freund.« Da wurde ihre Stimme zum ersten Mal zögerlich.
»Wie ist der Halunke denn an ein Visum gekommen? Und warum hat er mir gestern nichts davon gesagt?«
»Es … es kam sehr plötzlich, weißt du?«
»Na ja, bis demnächst. Und grüß die Kinder.«
Er ging in Krauses Zimmer. Sie saßen noch zusammen und starrten ihn wortlos an, als sei er ein Aussätziger.
»Die Ehefrau weiß nur, dass er ein paar Tage nach Kairo wollte. Für einen Freund. Sie sagt, die Reise ist plötzlich gekommen. Und sie lügt.«
»Gehen Sie sämtliche Treffberichte durch, suchen Sie nach einem Hinweis. Und in einer Stunde gehen wir beide ein Stück spazieren.«
Müller dachte wütend: Auch das noch!, und machte sich an die ermüdende Lektüre seiner eigenen Berichte, von denen er ganz sicher war, dass sie keinen verdeckten Hinweis enthielten.
Er erinnerte sich, wie die Verbindung mit Achmed zustande gekommen war. Im Grunde eine kleine Geschichte ohne jeden Schönheitsfehler. Sie hatten herausgefunden, dass Syrien still und leise amerikanische Ölsuchfirmen eingeladen hatte, und sie suchten nach einer direkten Verbindung zu diesen Firmen. Dann war am Horizont Hussein aufgetaucht, von dem nur bekannt war, dass er im Hintergrund, aber immer mit Wissen seiner Regierung an vielen Strippen zog. Und Müller hatte Achmed entdeckt, den Neffen dieses einflussreichen Strippenziehers. Nach seiner Klaransprache an Achmed war der auch sofort bereit gewesen, ein bisschen zu spionieren. Er fand es spannend und natürlich auch vom Finanziellen her interessant.
Ach, Achmed, dachte Müller, mach jetzt bloß nicht unsere schöne kleine Spionagefirma kaputt. Aber gleichzeitig wusste er, dass die kleine Firma schon vor ein paar Stunden in Konkurs gegangen war.
Kurz darauf stand Krause in der Tür und fragte: »Können wir?«
 
Über den Himmel zogen Schäfchenwolken, junge Mütter schoben ihre Kinderwagen, auf einer Bank saßen Penner und handelten lauthals die Probleme dieser Welt ab.
Sie trabten eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Krause sagte: »Ich nehme einmal an, dass Sie den Kopf mit allen möglichen Dingen voll haben. Der Vater, die häuslichen Verhältnisse, jetzt Achmed, der Beruf allgemein. Das sind alles Gründe, möglichst schnell Klarheit zu bekommen. Und das umso mehr, als Sie durch Achmed heute in eine Schräglage geraten sind. Das wissen Sie, nicht wahr?«
»Ja.« Müller nickte.
»Gibt es zwischen Ihnen und Achmed noch irgendetwas, was ich nicht weiß? Irgendwelche Absprachen? Irgendwelche zusätzlichen Abmachungen für den Fall, dass er unter die Räder kommt?«
»Nein. Das ist alles«, sagte Müller.
»Gut. Dann kommen wir zu Ihren persönlichen Verhältnissen. Sie wissen, dass ich mich nicht gerade darum reiße, im Privatleben meiner Leute herumzufuhrwerken. Aber ich muss wissen, wie Sie Ihre private Situation zu bereinigen gedenken. Ihnen ist bekannt, dass häuslicher Dauerstress in unserem Beruf tödlich sein kann.«
»Ja.« Müller dachte: Nun mach schon!
»Wollen Sie erzählen? Oder soll ich fragen?«
»Ich erzähle.«
Vor ihren Füßen landeten zwei Tauben und flogen wieder davon.
»Meine Frau trifft keine Schuld. Sie hat keine heimliche Liebschaft, ich auch nicht. Aber die Ehe ist in die Jahre gekommen. Wir haben uns nichts zu sagen, wir haben nichts mehr miteinander, seit langem schon. Ich gehe davon aus, dass mein Beruf an der Misere schuld ist. Ich lebe ständig im Nebel, kann ihr nichts sagen. Ich lebe in einer Welt, die für meine Frau nicht existiert. Und ich habe den entmutigenden Eindruck, sie weiß nichts von mir.«
»Weil sie nichts wissen will?«, fragte Krause aggressiv.
»Weil ich den Mund halten muss. Sie fragt nicht.«
»Und war dadurch immer eine bequeme Gefährtin!«, sagte Krause. »Sie kannten sie schon, als Sie noch bei der Polizei, beim Sondereinsatzkommando waren, nicht wahr?«
»Ja. Wir haben uns so gegen Ende meiner Zeit im Polizeidienst kennen gelernt.«
»Weiß sie, dass Sie einen Menschen im Einsatz erschossen haben?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil sie damit nicht umgehen könnte.«
»Das denken Sie. Haben Sie es zu erklären versucht?«
»Nein.«
»Da stellt sich doch die Frage, wer der große Schweiger ist, Ihre Frau oder Sie selbst.«
Müller spürte plötzlich einen heftigen Zorn. »Darüber zu reden bringt doch nichts!«
»Sie brauchen Ruhe daheim«, beharrte Krause. »Wie ist das eigentlich mit Ihrer kleinen Tochter?«
»Sie wird bei meiner Frau bleiben«, äußerte Müller. »In gewisser Weise werde ich sie verlieren. Mein Leben ist viel zu unruhig, das Leben meiner Frau verläuft dagegen vorhersehbar, in beschissen ruhigem Takt.«
»Ja, ja.« Krause nickte. »Das komplett berechenbare Leben …«
Müller spürte die leise Verachtung in den Worten. Er blies zum Gegenangriff. »Ich wollte schon immer wissen, wieso Sie das Theologiestudium abgebrochen haben.«
»Ich konnte nicht unredlich leben, ich konnte mich nicht in eine Hierarchie einfügen, in der bestimmte grobe Lügen zum Alltag gehören. Wieso interessiert Sie das jetzt?«
»Ich will erfahren, wie andere mit den Brüchen ihres Lebens umgehen. Wie leben Sie mit den groben Lügen unseres Berufes?«
Eine Weile schwieg Krause, dann lachte er leise. »Das mag ich so an Ihnen. Man muss sich warm anziehen. Tatsächlich habe ich meiner Frau sehr viel gesagt, aber niemals Einzelheiten. Ich glaube, sie weiß sehr gut, was ich tue. Manchmal spüre ich das, wenn sie nach meiner Hand greift.«
»Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.«
»Es gibt keine Rezepte«, sagte Krause behutsam. »Sehen Sie mal, da gibt es Eis in Tüten. Was wollen Sie?«
»Zwei Kugeln Zitrone«, antwortete Müller und musste lächeln.
Eis schleckend wanderten sie dahin, bis ein kleines Mädchen direkt vor Krause hinfiel und heftig zu schreien begann. Krause hob sie hoch und murmelte: »Ist ja schon gut, ist ja schon gut.« Dann kam die Mutter und giftete heftig: »Wie oft habe ich dir verboten zu rennen?«
Nach einer Weile fragte Krause: »Wie kann man einem Kind das Rennen verbieten? Wollen Sie jetzt hören, was ich zu sagen habe?«
»Ja.«
»Dann muss ich zuerst fragen, ob Sie überlegt haben, in einen anderen Beruf zu gehen oder auf einen ruhigen Schreibtischposten bei uns im Amt zu wechseln.«
»Das habe ich oft überlegt. Kommt aber nicht infrage.« »Ich würde sagen: Gehen Sie zu Ihrer Frau, und reden Sie mit ihr. Vorsichtig. Sagen Sie ihr, dass Sie eine Weile allein sein wollen. Sie können ein kleines Apartment des Amtes haben, wenn Sie mögen. Es ist möbliert und angenehm billig. Es war in grauen Vorzeiten mal eine konspirative Wohnung. Dann sehen wir weiter. Und ich würde darum bitten, dass Sie so viel Zeit wie möglich im Amt verbringen. Nicht zur Ablenkung, sondern um Achmed zu suchen.«
»Wie kann ich ihn unter vier Millionen Menschen suchen?«
»Das weiß ich noch nicht. Es muss einen triftigen Grund geben, warum er in Berlin ist und Ihnen die Reise verschwiegen hat. Hat ihn jemand hergeholt? Und wenn ja, warum?«
»Hat es jemals einen derartigen Vorfall mit einer menschlichen Quelle gegeben?«, fragte Müller.
»Wir haben jeden Tag eine Premiere mit irgendetwas. Aber es ist trotzdem beunruhigend.«
»Dann möchte ich noch etwas zu Achmed sagen. Es war gegen die Regel, ihm meine private Adresse zu geben. Aber ich denke, wir hätten keine Neuigkeiten aus Syrien bekommen, wenn ich ihm dieses Vertrauen nicht geschenkt hätte.«
»Sie bereuen es also nicht?«
»Nein«, sagte Müller. »Und es ist mir scheißegal, wenn es als Tadel in meiner Führungsakte auftaucht.«
»Aufmüpfig ist er auch noch«, murmelte Krause erheitert. Dann kam eine Melodie hoch, er griff nach seinem Handy und hörte nur zu. »Ich muss an den Schreibtisch«, sagte er dann knapp. »Sie sollten diese Sache mit Ihrer Frau erledigen. Jetzt, bitte.«
»Ja.« Müller nickte.
 
Es war 15 Uhr, als er vor sein Reihenhäuschen rollte. Er hatte schon oft von einer Trennungsszene geträumt, in unendlichen Varianten. Aber merkwürdigerweise war es niemals früher Nachmittag gewesen, niemals hatte die Sonne geschienen, immer nur Nacht geherrscht.
Er schloss die Haustür auf und rief: »Ich bin es. Seid ihr da?«
»Hallo, Schatz«, sagte Melanie aus der Küche. »Anna-Maria ist bei einem Freund. Wieso kommst du so früh?«
»Nichts los«, antwortete er. »Ich muss mit dir sprechen.«
»Das geht jetzt nicht. Ich muss kochen. Später.«
»Das musst du nicht«, widersprach er. »Wir müssen reden.«
»Aber das kann doch bis heute Abend warten.«
»Jetzt«, beharrte er und hatte Mühe, nicht heftig zu werden. »Jetzt sofort.«
Er ging in das Wohnzimmer und setzte sich in einen Sessel.
Sie kam hinter ihm her und sagte aufgebracht: »Also, ich weiß nicht, was so wichtig ist, dass …«
»Hör mir, bitte, zu«, sagte er und faltete die Hände. »Und setz dich, bitte, hin.«
Sie setzte sich.
»Das, was ich zu sagen habe, schleppe ich schon lange mit mir herum. Unsere Ehe ist keine Ehe mehr. Also werde ich eine Weile fortgehen und versuchen herauszufinden, ob wir weiter zusammenleben können oder nicht. Und vielleicht solltest du das Gleiche überlegen.«
Ihr Gesicht erstarrte augenblicklich zur Maske.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch, es ist mir ernst.«
»Du hast eine andere kennen gelernt.« Das kam sehr schnell.
»Nein, da ist keine andere. Unsere Ehe ist tot.«
»Aber Anna-Maria bleibt hier bei mir.«
»Selbstverständlich.«
Sie hob den Kopf, und sie war eine schöne, wütende Frau, die nach einem Ausweg suchte.
»Du wirst in eine andere Stadt versetzt.«
»Nein, ich bleibe hier in Berlin.«
»Aber manchmal läuft das eben so in einer Ehe. Ich meine, so irgendwie langweilig. Das kann man reparieren, das braucht Zeit.«
»Das kann man nicht reparieren. Das fängt entweder neu an, oder es ist aus.«
»Du bist ja auch selten hier.« Dann sah sie plötzlich auf ihre Uhr. »Oh, ich muss Anna-Maria abholen.«
»Bitte, unterbrich das jetzt nicht. Dann kommst du eben etwas später.«
»Ich bin immer pünktlich«, sagte sie verbissen.
»Ja, das bist du. Ruf dort an und sag, es dauert noch etwas.«
Sie bewegte sich nicht. Sie sah ihn an, und sie sah ihn doch nicht.
»Es ist ziemlich schlecht in der Bank, wenn die Ehe kaputt geht.«
»Möglich«, sagte er. »Ich packe ein paar Sachen ein, ich bin ständig erreichbar, und ich sage dir morgen, wo ich wohne.«
»So schnell findest du doch keine Wohnung.«
»Ich habe schon eine, ich weiß nur noch nicht, wo sie ist. Und lass uns nicht streiten. Du kannst Anna-Maria sagen, dass ich ein paar Tage verreisen muss. Du kannst aber auch sagen, dass wir uns trennen.«
»Und wie lange soll das … dieser Zustand dauern?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und was sagst du deinem Vater?«
»Die Wahrheit. Dass ich gehe, weil die Ehe keine mehr ist. Aber er kann mich eh nicht hören.«
»Und deiner Mutter sagst du, dass ich schuld bin.« Plötzlich weinte sie lautlos und schlug beide Hände vor das Gesicht.
»Aber du bist nicht schuld«, versicherte er. »Niemand ist schuld.«
»Und was sage ich allen anderen? Und meinen Eltern?«
»Die Wahrheit«, gab er zurück. »Wir trennen uns auf Probe, wir werden sehen, was aus uns wird.«
»Gerade heute hieß es, dass ich einen besseren Job kriegen soll.«
»Das ist doch gut. Wir leben nicht in Scheidung. Und jetzt packe ich ein paar Sachen.«
Er ging an ihr vorbei, sie blieb in dem Sessel hocken, und wahrscheinlich dachte sie, dass ihre Taktik falsch gewesen war, überlegte Müller verbittert.
Er packte zwei Koffer voll mit seiner Kleidung, dann die Toilettentasche im Bad. Er ging noch einmal durch das Haus und hörte sie im Wohnzimmer weinen.
Als er im Auto saß und startete, meldete sich sein Handy, und Krause bellte übergangslos: »Wir haben ein Dringend.«
 
Im Amt rannte er die Treppen hoch und direkt zu Krauses Zimmer. »Es ging nicht schneller«, sagte er hastig atmend.
Krause saß in aller Bierruhe in seinem Sessel, hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und starrte in den Fernseher.
Neben ihm stand Goldhändchen.
»Schauen Sie sich das an«, murmelte Krause. »Noch mal zurück, und dann mit Genuss von vorn.«
Goldhändchen drückte Knöpfe an der Fernbedienung und strahlte dann Müller an.
Es war eine Videoaufzeichnung, und sie zeigte Fußgänger an einer Kreuzung, die über den Zebrastreifen gingen. Dann war plötzlich Achmed im Vordergrund. Achmed ohne Laptopkoffer und ohne große Sporttasche, ganz lässig, ohne jede Hast, die Hände in den Jeanstaschen. Achmed der Tourist.
Goldhändchen drückte den Fernseher aus.
»Wo stammt das her?«, fragte Müller.
»Wedding«, sagte Goldhändchen. »Verkehrsüberwachungskamera. Müllerstraße. Vor zwei Stunden.«
»Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Müller. »Gratulation.«
»Mir fällt eben immer was ein«, sagte Goldhändchen geziert. Seine Karriere hatte Goldhändchen, dessen bürgerlichen Namen Müller gar nicht kannte, mit sechzehn Jahren begonnen. Da war er aus reiner Hackerlust in die Dateien des Pentagon eingebrochen, um sich an den streng geheimen Daten des Irakkrieges zu ergötzen. Jetzt ging er auf die Dreißig zu und hatte seine Neugier mit Genehmigung des Ordens von allen Zwängen befreit, was auf gut Deutsch hieß, dass er unermüdlich alles beobachtete und recherchierte, was ihn im Grunde nichts anging.
»Achmed ist also im Wedding«, sagte Krause. »Haben Sie jemals mit ihm über den Wedding geredet?«
»Nie«, sagte Müller mit Nachdruck. »Ist auf dem Film zu sehen, ob er mit irgendwem neben sich redet, ob irgendetwas auf Begleiter hindeutet?«
»Negativ«, sagte Goldhändchen. »Er geht vor zwei dicken, verschleierten Frauen her, links neben ihm mehrere Jugendliche, rechts neben ihm eine Frau mit Kinderwagen. Kein Kontakt, kein Gespräch. Auch nach hinten kein Kontakt. Achmed geht solo.«
»Vielleicht will er nur ein paar Kleinigkeiten einkaufen«, murmelte Krause. »Vielleicht steckt hinter dem allem etwas ganz Banales. Vielleicht ruft er wirklich bei Ihnen an und sagt: Ich komme gleich vorbei!«
»Dann sollte ich meine Frau für den Fall vorwarnen«, sagte Müller.
Krause lächelte ihn an. »Nicht nötig, mein Junge. Wir haben Ihren privaten Anschluss auf einer Alarmleitung, uns entgeht nichts.«
»Aha.« Müller fühlte sich unbehaglich. »Und wie ist Achmed nach Kairo gekommen?«
»Rätselhaft. Die Botschaft in Kairo sagt, sie habe das Visum nicht erteilt. Das ist verbindlich. Das bedeutet, sein Visum ist gefälscht. Aber da wir rund um das Mittelmeer etwa fünfhundert fantastische Fälscher haben, hilft uns das auch nicht weiter.« Krause wirkte erstaunlich gelassen.
»Kannst du ständig in diese Verkehrsüberwachung hinein?«, fragte Müller.
»Kein Problem«, sagte Goldhändchen. »Die Kollegen mögen so etwas zwar nicht, aber sie merken es ja gar nicht. Hast du irgendeine Vorstellung, wo Achmed sich verkriechen könnte?«
»Nicht die geringste. Der Wedding hat einen sehr hohen Ausländeranteil. Achmed fällt dort absolut nicht auf, auch sprachlich nicht. Mit Arabisch, bisschen Englisch und Französisch kommt er überall durch. Wenn er sich vier Tage seinen Bart stehen lässt und dazu eine Glatze rasiert, kriegen wir keine Identifikation mehr. Was ist mit seinem Handy?«
Krause nickte. »Das haben wir geortet – leider in seinem Geschäft zu Hause in Damaskus. Und auch das ist für diesen Knaben doch mehr als merkwürdig. Was sagen Sie dazu?«
»Jemand muss ihm befohlen haben: Lass dein Handy zu Hause! Achmed steckt das Ding sogar ein, wenn er auf den Lokus geht. Und daraus muss man folgern, dass er mit einem Auftrag nach Berlin gekommen ist, bei dem er auf keinen Fall über sein Handy geortet werden darf.«
»So ist es«, sagte Krause. »Und dieser Auftrag läuft verdeckt.«
»Aufbau einer Mullah-Zelle?«, fragte Müller.
»Könnte sein, passt aber nicht zu Achmed. Passt überhaupt nicht. Frage an Sie: Wie verliebt ist er in Bares?«
»Schon ziemlich. Er will seine Kinder studieren lassen. Und insgeheim hat er die Sehnsucht, irgendwann in der wunderschönen westlichen Freiheit zu leben. Gerade auch wegen der Söhne. Wissen wir jetzt, wie er von Damaskus nach Kairo gekommen ist?«
»Wissen wir nicht. Jedenfalls nicht unter seinem falschen Namen Ali Akbar mit einem der Linienflüge. Aber es sitzen drei Leute dran, um mehr herauszufinden.«
»Ich gehe mal und mache meine Jungs scharf auf Achmed«, murmelte Goldhändchen.
»Ich habe mit meiner Frau geredet«, sagte Müller, sobald die Tür hinter Goldhändchen zugefallen war. »Ich brauche die Adresse von dem Apartment.«
»Heulen und Zähneknirschen?«, fragte Krause.
»Nein. Nur große Traurigkeit.«
»So ist das Leben.« Er reichte Müller einen Zettel. »Das ist Ihr Palast. Hier sind die Schlüssel. Und seien Sie, bitte, ständig erreichbar. Ihre Fragen an unsere Quellen sind raus. Und jetzt muss ich mich um QABR kümmern.« Was immer die Buchstaben bedeuten mochten, Krause wollte damit sagen, dass er noch mehr zu tun hatte und dass Achmed eine verschwindend kleine Nummer für ihn war.
 
 
 
 
Das Apartment lag zwölf Fahrminuten vom Amt entfernt in einer ruhigen Wohnstraße. Es gab einen Innenhof mit Stellplätzen. Das Haus selbst war siebenstöckig, Beton, grau in grau, mit zweckmäßig geschnittenen Zellen: ein kleines Bad, ein winziger Flur, eine Kochnische, ein Wohn/Schlafraum. Vor diesem Raum ein sehr schmaler Außengang, der im Mietvertrag todsicher Balkon genannt wurde und auf den kein Liegestuhl passte. Es gab in Viererreihen zweiundsiebzig Klingeln, und Müller würde die Nummer vierundzwanzig sein. Die meisten Namen waren türkisch, arabisch und russisch.
Die Möbel, die irgendwelche Vormieter ihm dagelassen hatten, waren alt und zweckdienlich, vorher schon erprobt in zehn bis fünfzehn Wohnungen, alle in einem diffusen Dunkelbraun. Sie bestanden aus Pressholzplatten mit einem Furnier, das die Natur niemals vorgesehen hatte. Müller erinnerte sich, in diesem Haus schon einmal Männer getroffen zu haben, die man auf der Straße nicht sehen sollte. Er öffnete den Kleiderschrank und befreite damit einen ungeheuer muffigen Luftschwall.
Er warf die Koffer auf das Doppelbett und setzte sich seufzend in einen alten, rosafarbenen Sessel, der aufdringlich nach scharfen Desinfektionsmitteln roch. Der Teppichboden war irgendetwas in Lichtblau, fleckenübersät, abgestumpft und steinhart. Konspirative Wohnungen, hatte er erfahren, waren etwas, wo man sich aufhalten, aber nicht wohnen konnte.
»Heilige Scheiße!«, sagte er laut.
Dann entdeckte er das Telefon. Es war ein ganz normaler kleiner, handlicher Apparat in Grün, dessen Schnur in eine Buchse an der Wand führte. Ich wette, es ist angeschlossen, dachte Müller. Es war angeschlossen.
Schließlich murmelte er: »Der Superspion dieses aufstrebenden Landes geht erst mal einkaufen.«
Nach einer Stunde leerte er in drei Durchgängen seinen Golf. Er hatte alles gekauft, was ihm nötig schien, von Bettwäsche bis Toilettenreiniger, von einem brauchbaren Rotwein bis zu einem billigen Radio und einfachen Haushaltskerzen. Er benötigte zwei Stunden, um alles zu verstauen und das Bett zu machen. Anschließend ging er mit einem billigen Rasierwasser heftig sprühend durch seine neue Pracht und hoffte, dass es nach seiner Rückkehr ein wenig anders riechen würde. Dann duschte er und verließ das Haus. Er setzte sich in den Golf und fuhr in den Wedding.
Im Grunde hatte er keine Hoffnung, Achmed irgendwo zu sehen. Aber er wollte wissen, wie die Gegend aussah, in der Achmed gesehen worden war.
Er aß einen kleinen Döner und rief das Krankenhaus an. Man sagte, seine Mutter sei noch da.
»Ja, mein Junge?«
»Wie geht es dir? Wie geht es Papa?«
»Stell dir vor: etwas besser. Also, ich war gerade rausgegangen, um einen Kaffee zu trinken, da kam eine Schwester angelaufen und sagte ganz aufgeregt: Er hat die Augen geöffnet! Das stimmte wirklich. Aber ich weiß nicht, ob er irgendetwas sieht.« Sie weinte. »Manchmal meine ich, er hat mich erkannt, und sie sagen, mit so etwas fängt es meistens an, wenn es ihnen besser geht. Kannst du kommen, Junge?«
»Nein, Mama, das geht jetzt nicht. Ich bin auf Bereitschaft. Wenn du übrigens bei mir zu Hause anrufst, musst du dich nicht wundern, ich bin vorübergehend in ein Apartment ausgewichen. Ich habe Melanie gesagt, dass wir eine Weile getrennt leben sollen.«
»Und das Kind? Das Kind?« Das kam ganz hoch und sehr heftig.
»Anna-Maria bleibt mein Kind. Das ist nicht der Punkt. Wir wollen herausfinden, ob wir noch eine Ehe haben können oder nicht.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Nur gut, dass Papa das nicht mitkriegt.«
»Ja. Aber das gehört auch zu den Dingen, die ich mit ihm besprechen will, wenn es ihm wieder besser geht.«
»Kannst du denn morgen mal kommen?«
»O ja«, versicherte er. »Morgen sehen wir uns und …«
»Wie ist denn deine Adresse jetzt?«
»Ach so. Hast du was zu schreiben?«
Er diktierte ihr die Adresse. »Es ist eine kleine Einraumwohnung«, sagte er.
»Eine Einraumwohnung? Ach, Gottchen, Junge.« Aber dann lachte sie plötzlich, und das erschien ihm wie ein kleines Wunder.
Papa macht die Augen auf, dachte er.
Er setzte sich wieder in den Golf und fuhr gemächlich durch die Straßen, stieg ab und zu aus, lief durch Toreinfahrten in Hinterhöfe, sah nach den Namen auf den Klingelschildern, als habe er eine Chance, dort Achmed zu entdecken.
Einer seiner Ausbilder beim SEK der Polizei, ein Mann, den sie Herbie nannten, hatte das als Witterung aufnehmen bezeichnet. Er hatte gesagt: Wenn du einen Mann in einer Stadt suchst, dann musst du wissen, wie die Stadt aussieht. Es gibt Strukturen. Da sind Gärten, Höfe, Garagen, kleine Werkstätten, Hintereingänge. Du musst kapieren, wie das alles gebaut ist, wie es zusammenpasst, wie die Kneipen aussehen und wo die Einheimischen sich treffen, wie die Schleichwege verlaufen. Du bist fremd, aber wenn du das alles gesehen hast, bekommst du eine Ahnung davon, wo sich jemand verstecken könnte.
Du lieber Gott, Herbie. Wie lange war das her? Zehn Jahre? Zwölf?
Er suchte nach dem Namen, und er ärgerte sich, als er ihm nicht sofort einfiel. Dann hatte er ihn: Brettschneider, Herbert Brettschneider.
Er fuhr zu einer Telefonzelle und blätterte im Telefonbuch. Dann hatte er die Nummer, notierte sie, saß in seinem Golf und rief an.
»Brettschneider hier.«
»Der Polizist Brettschneider?«
»Der Polizist. Ja, bitte?«
»Ich bin der Müller, der einmal in deinem Verein war.«
»Mich laust der Affe.« Dann lachte er. »Du sollst eine große Nummer beim BND sein.«
»Bin ich nicht«, sagte Müller schnell. »Ich habe ein Problem, und das Problem heißt Wedding. Mir ist im Ausland eine menschliche Quelle durch die Lappen gegangen. Jetzt ist sie hier im Wedding. Und ich stehe dumm rum.«
»Kannst du mir sagen, welche Nationalität die Quelle hat?«
»Syrer.«
»Und hat er im Wedding Freunde?«
»Weiß ich nicht. Könnte aber sein.«
»Ist er auf der Flucht?«
»Eigentlich nicht. Streng genommen kann ich ihm nichts Illegales vorwerfen. Er ist hier und untergetaucht.«
Eine Weile schwieg Herbie, dann murmelte er: »Wenn ich dich recht verstehe, ist er kein Krimineller.«
»Exakt.«
»Und du willst ihn nur finden, um ihn zu fragen, was er hier so treibt?«
»Genau das.«
Langes Schweigen.
»Du musst wissen, dass Russen die Russen unterstützen, Türken die Türken, Tschetschenen die Tschetschenen und so weiter und so fort. Ich würde sagen, Syrer sind seltener. Du müsstest also syrische Gruppen suchen. Und da gibt es Spezialisten, die so etwas wissen.«
»Wo?«
Herbie lachte laut. »Bei den Bullen, Junge, bei den Bullen. Gibt es ein Foto von dem Mann?«
»Ja.«
»Ihr habt doch genügend Einfluss und Verbindung. Ihr braucht Zielfahnder. Gar nicht viele, drei, vier vielleicht. Sie müssen ja auch nicht sagen, dass sie euch helfen. Sie suchen eben, das ist ihr Job.«
»Das könnte eine Idee sein«, nickte Müller. »Und, wie geht es so? Wie geht es der Frau und den Kindern?«
»Hör auf mit dem Scheiß. Die Frau gibt es nicht mehr, und die Kinder sehe ich alle zwei Monate, wenn ich Schwein habe.«
»Das tut mir Leid.«
»Schon gut, Kleiner, das konntest du nicht wissen. Man hört voneinander.«
»Mach es gut, bis demnächst.«
Müller erinnerte sich daran, dass Herbie ihn immer schon Kleiner genannt hatte, was einfach daran lag, dass er in seiner Gruppe des SEK von dreißig Männern mit Abstand der kleinste gewesen war. Konnte es sein, dass dieser Herbie, den er als einen ewig gut gelaunten Schinder in Erinnerung gehabt hatte, jetzt auch in einer Einraumwohnung hockte und in Melancholie schwelgte? Müller fand die Vorstellung grotesk.
Er rief Krause auf einer besonderen Nummer an und sagte: »Es könnte eine Lösung sein, sofort Zielfahnder des Bundeskriminalamtes oder Landeskriminalamtes auf den Wedding anzusetzen. Ein Bekannter sagt, die wissen, wo mögliche Syrerkreise zu finden sind. Müller hier, um dreiundzwanzig Uhr fünfzehn.«
 
Er verließ den Wedding und fuhr über Berlin-Mitte in Richtung Regierungsviertel. Er kannte dort eine gemütliche Hotelbar mit einem guten Pianisten. Er wollte ein wenig Ruhe und einen teuren Whisky, und er wusste, dass er ihn dort bekam. Die neue, sterile Behausung jagte ihm ein wenig Angst ein.
Die Bar war mäßig besetzt, drei Männergruppen an Tischen, drei Männer auf Barhockern am rechten Rand des Thekenovals, links außen eine Frau mit einem dunkelroten Oberteil, allein.
Der Pianist am Flügel schwelgte gerade in alten Sinatra-Titeln. Er machte es so gut, dass er kaum auffiel. Nur gelegentlich setzte er einen schnellen Lauf, betonte die Übergänge in den Septimen und rutschte wieder in seine Vorstellung einer gepflegten, heimeligen Nachtmusik, sang und summte eine Strophe, grinste jedermann zu.
Für Sekunden verharrte Müller neben dem Musiker und erinnerte sich liebevoll an seine Mutter, die einmal verlegen gewispert hatte: »Weißt du, Papa liebt diesen gewissen Trompetenspieler ja sehr, aber ich glaube, in der Schule darf das keiner wissen.« Die Rede war von Louis Armstrong gewesen, und tatsächlich hatte sein Vater diese stille Liebe immer strikt verborgen, als handele es sich um ein Sakrileg.
»Hallo«, sagte er und setzte sich auf einen Hocker. »Ich hätte gern einen blauen Johnnie Walker, doppelt, mit stillem Wasser und ohne Eis.«
Der Barmann nickte.
Müller versuchte sich zu entspannen. Seine Gedanken rasten durcheinander. Hoffentlich stirbt mein Vater nicht. Wie bringe ich Anna-Maria diese schäbige neue Wohnung bei? Wie soll meine Mutter das alles schaffen, ohne durchzudrehen? Wo steckt Achmed? Kommt Melanie klar? Hat sie überhaupt verstanden, was ich meine? Sollte ich nicht wenigstens einen neuen Teppichboden haben? Und was kostet das? Was passiert, wenn Achmed sich auf etwas eingelassen hat, was er nicht steuern kann? Wie bewertet Krause eigentlich das Verschwinden Achmeds? In den Ecken im Bad habe ich leichten Pilzbefall, das sieht ekelhaft aus. Obst habe ich vergessen, Kerzenhalter auch. Ich werde dort nicht schlafen können. Warum hat Achmed mir sein Vertrauen verweigert?
Der Barmann stellte den Whisky vor ihn hin, zusammen mit einem kleinen Schälchen Nüsse.
Rechts von ihm bemühte sich ein betrunkener Krawattenträger, seinem Begleiter einen Witz zu erzählen. Es war ein Witz der Gattung: Kommt eine Frau zum Frauenarzt …, und der Mann lallte.
Der Pianist erging sich elegisch in »Somewhere over the Rainbow …«.
Die rot gekleidete Frau links fragte ihn plötzlich ganz direkt: »Spielen Sie mit mir Siebzehnundvier? Um einen Drink?«
»Gern!«, sagte Müller überrascht. Das wird mich ablenken, dachte er.
Die Frau mochte Mitte dreißig sein und hatte ihr langes, volles Haar in der Farbe reifer Kastanien gefärbt, mit zwei hellen Strähnen auf der linken Kopfseite. Sie trug eine einfache Bluse mit einem gleichfarbigen Seidenschal, keinen Schmuck, keinen Lack, kein Make-up.
»Wie sieht der Einsatz aus?«, fragte Müller. Er dachte: Es wird ihre Art sein, die Nacht zu verkürzen.
Sie sah ihn mit großen, klaren grauen Augen an. Sie wirkte gut gelaunt. »Sagen wir, einen Fünfer die Runde?«
Müller nickte.
»Gut«, sagte sie. »Ich gebe, wenn Sie nichts dagegen haben. Dann kann ich besser mogeln.« Sie hatte ein Kartenspiel auf der Theke liegen und mischte sehr gekonnt.
Der Pianist spielte »Misty«.
Sie gab eine Karte an Müller, deckte sich selbst eine auf. Müller hatte eine Vier, sie eine Dame.
»Noch eine«, sagte Müller. Die Karte kam angesegelt, er nahm sie auf. Es war eine zweite Vier. Da er kein Spieler war, ihn Spiele gleich welcher Art im Grunde nicht interessierten, meinte er: »Es reicht mir.«
Zu ihrer Dame kam eine Sieben, dann eine Fünf, dann überlegte sie kurz und zog eine Zehn.
»Pech«, sagte sie und verzog den Mund.
Müller deckte seine mickrigen zwei Vieren auf.
»Ein Profi«, rief sie heiter.
»So spielt das Leben«, sagte Müller.
Sie war eine schöne Frau mit einem schmalen, fast asketischen Gesicht und einem vollen Mund. Um die Augen herum strahlten eine Menge kleiner Lachfältchen. Sie hatte lange, elegante Hände mit sehr gepflegten Nägeln.
Sie war offensichtlich die Sorte Frau, vor der er sich sein Leben lang in Acht genommen hatte: selbstsicher, anscheinend schrecklich selbstständig und wahrscheinlich auch ziemlich klug.
Er verirrte sich wieder in seinen Gedanken. Melanie hat mich sicher nicht verstanden. Sie denkt, ich allein sei das Problem, sie wird nicht verstanden haben, dass wir das Problem sind. Sie wird es bald abhaken und später seufzen: »Mein Mann hat uns verlassen, und ich weiß bis heute nicht, warum.«
»Es geht weiter«, sagte die Frau neben ihm, offensichtlich machte es ihr Spaß. Ihre Stimme war ein angenehmer Alt.
»Ich werde Sie in die Pleite treiben«, versprach sie und lächelte Müller an. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Karl«, antwortete er, und er hatte jetzt ein hohles Gefühl im Bauch. Ihre Augen waren sehr eindringlich.
»Und wahrscheinlich nennen alle Sie Kalle, oder?«, sagte sie lächelnd.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Sie nennen mich, wenn überhaupt, bestenfalls Karl. Wahrscheinlich fällt ihnen zu mir nichts ein.«
In ihren Augen schimmerte Heiterkeit. »Darüber würde ich mir Sorgen machen. Ich heiße Karen, wie das amerikanische Karen. Mit Ä und doppeltem R.« Sie ließ eine Karte zu ihm gleiten und dabei berührte sie seine linke Hand.
»Erfreut, Karen«, sagte Müller. Er zuckte nicht zurück, aber er war verwirrt. »Ich muss noch sechsmal gewinnen, um meinen ersten Whisky zu finanzieren. Also, los. Wieso dieser amerikanische Frauenname?«
»Weiß der Geier«, antwortete sie. »Ich habe meinen Vater nie kennen gelernt. Er kam vorbei, aber nicht mehr wieder.« Sie deckte eine Karte für sich auf. Es war ein Ass.
»Ein Rabenvater«, stellte Müller fest.
Er sah seine Karte an, es war eine Vier. Er hatte jetzt sieben, verlangte noch eine Karte und bekam eine Zwei. Karen hatte einen König, eine Sieben, eine Sechs. Sie riskierte es wieder und landete eine Fünf.
»Es ist nicht mein Tag«, murmelte sie.
Dann lächelte sie ihn unvermittelt strahlend an. »Ich nehme also an, lieber Karl, dass du berufsmäßig nächtelang in Bars herumhängst.«
»So kann man das durchaus formulieren«, sagte Müller grinsend. »So, wie du mit deinen Spielkarten im Dunkel der Nacht auf Opfer wartest.«
Sie ist nicht die Spur betrunken, dachte er verwundert. Er hörte, wie der Pianist in seinem Rücken mit der alten Cole-Porter-Nummer »Love for Sale« begann.
Wahrscheinlich kann sie einfach nicht schlafen und will irgendwie die Nacht totschlagen. Er atmete ihren sanften Duft, er wirkte betörend.
»Ich warte eigentlich niemals«, sagte sie tonlos, und es klang so, als sage sie das nur zu sich selbst.
Der Whisky schmeckte ausgezeichnet. Müller dachte: Du passt mir gut in den Kram, meine Liebe, du und dieses Klavierspiel und dieses gedämpfte Licht.
Anna-Maria wird mich natürlich fragen: Wohnst du jetzt immer hier, Papa? Und wenn ich viel Glück habe, stirbt mein Vater nicht. Um das Glück voll zu machen, taucht Melanie in meiner Einraumwohnung auf und erklärt, sie wolle nicht ohne mich leben. Und Achmed ruft mich auf der sicheren Leitung an und sagt: Hey, ich bin mit ein paar Kumpels auf einem Kurztrip in deiner Stadt, und ich finde es großartig hier. Müller riss sich wieder aus seinen Gedanken.
»Ich möchte noch einen blauen Johnnie Walker«, sagte er zum Barmann gewendet. »Und was treibst du, um dein Frühstück zu verdienen, Karen?«
»Ich bin eine Werbefrau«, sagte sie leichthin. »Ich mache Kataloge und so was.«
»Und was ist ›und so was‹?«
»Na ja, schillernde, witzige Texte, bunte, hübsche, aussagekräftige Fotos. Liebe Hausfrau, ergänzen Sie: Ohne Flei… kein Prei…«
Müller dachte: Wir zwei sind im Ozean der Möglichkeiten jetzt auf einer Insel, niemand kommt an uns heran. Er spürte, dass er zitterte.
Der Betrunkene mit dem Frauenarzt-Witz rechts neben Müller wurde aus irgendeinem Grund laut und wütend, rutschte von seinem Hocker und versuchte den Mann neben sich zu schlagen.
»Hey!«, sagte der Barmann schnell, seine Hand schoss nach vorn, und er zog den Betrunkenen am Hemd ganz dicht an sich heran, sodass der wie ein Bogen über der Theke in der Luft hing.
»Schon gut!«, rief der Betrunkene und hob beide Arme, als sei der Barmann bewaffnet.
»Ich habe einundzwanzig, ich gewinne!«, sagte Karen tonlos.
»So ein Mist«, lächelte Müller.
Der Pianist begann mit dem Knef-Titel »Ich zieh mich an und langsam aus«.
»Ich muss mal wohin«, murmelte Karen.
Sie ist fantastisch, dachte Müller aufgeregt und sah hinter ihr her. Sie war eine schmale Person, und sie ging sehr selbstbewusst und zugleich sehr weiblich mit weichen Bewegungen.
Ich bin ganz locker, erstaunlich, dachte er. Am erstaunlichsten ist, dass ich sie berühren will, unbedingt berühren will.
Karen kam nach ein paar Minuten zurück und wirkte angriffslustig.
»Ich muss jetzt dringend noch mal gewinnen.«
»Gut«, nickte Müller. »Ich spiele blind, damit du glücklich wirst.«
Sie lächelte schnell, gab ihm eine Sieben, sich selbst eine Zehn. Dann bekam er eine nächste Sieben, dann eine dritte.
»Schon passiert.« Er lachte.
Dann griff sie nach seiner linken Hand und hielt sie einen Augenblick lang fest. »Wir können die blöde Spielerei auch lassen.«
»Dann lassen wir es«, sagte er mit einem Kloß in der Kehle.
Sie ließ seine Hand los und warf einen Stapel Spielkarten scheinbar angewidert über die Theke.
»Also gut, du hockst also berufsmäßig in Bars. Und was machst du tagsüber?«
»Tagsüber bin ich ein Behördenhengst und räume acht Stunden lang Bleistifte von rechts nach links und umgekehrt. Mittags esse ich in der Kantine, und abends hole ich mir Softpornos aus dem Videoverleih, schließe mich in meiner Einraumwohnung ein und fresse kiloweise Kartoffelchips.«
»Niemals«, sagte sie heftig. »Das ist gelogen.«
»Die Nacht ist die Stunde der Lügner«, sagte er theatralisch.
»Kannst du nicht sagen, was für einen Beruf du hast?«
»Klar kann ich das. Ich arbeite im Innenministerium.«
»Und was, bitte?«
»Ich räume die Bleistifte von rechts nach links. Ich bin ein Schreibtischhengst.«
»Das ist unfair«, sagte sie seufzend. »Niemand mit diesen Augen räumt Bleistifte von links nach rechts.« Dann lächelte sie schnell und flüchtig.
»Du bist ein Oberstudienrat, der in ein paar Stunden vor seiner Klasse steht und sich beschimpfen lassen muss.«
Der Pianist spielte die alte Marika-Rökk-Melodie »In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine«.
»Ist doch egal«, sagte Müller.
»Ja, ist egal«, sagte Karen. Sie sah ihn an, und es war plötzlich eilig und ernst. »Ich würde gern mit dir reden.«
»Aber das kannst du doch«, antwortete er mit trockenem Mund.
»Im Ernst«, sagte Karen eindringlich. »Einfach reden.«
»Ja«, nickte er nervös.
»Nicht hier«, flüsterte sie.
»Das ist verblüffend«, erklärte Müller leicht erregt und deutete Richtung Klavierspieler. »Hör mal genau zu. Weißt du, was er spielt?«
»Drück dich nicht«, sagte sie atemlos und ein wenig wütend. »Was spielt er denn?«
»Das Thema von Mahlers Erster Symphonie.«
»Du willst mir ausweichen.«
»Gut, du willst reden«, sagte er dann. »Ich will auch reden, glaube ich. Ich will auf jeden Fall allein mit dir sein.«
»Dann fahr in den dritten Stock, Zimmer Nummer dreihundertzwanzig. Vergisst du das auch nicht?«
»Nein. Bis gleich.«
Karen bezahlte, gab ein großzügiges Trinkgeld, und Müller sah, dass sie etwas nervös mit ihrem Geldbeutel hantierte. Dann nickte sie ihm zu und ging langsam davon.
Müller legte dem Barmann einen kleinen Schein hin und sagte: »Es war schön hier in deinem Laden.«
Er schlenderte langsam in die Lobby, schielte nach den Aufzügen. Und er hörte in plötzlich aufflammender Verlegenheit, wie der Pianist einen halben Zentner Schmalz nachlieferte – »Strangers in the Night«. Müller dachte: Das kann nicht sein, das ist einfach zu trivial.
Sie hatte die Tür ihres Zimmers nur angelehnt.
Er sagte Hallo und ging hinein. Er hörte Geräusche im Bad und schloss die Tür hinter sich. Er setzte sich in einen gelben Sessel und dachte flüchtig an den unbeschreiblich rosafarbenen in seiner Einraumwohnung.
Sie wird wahrscheinlich nicht nur reden wollen, ihre Augen waren so hungrig, dachte Müller. Na, sicher, ich bin auch hungrig. Über was wird sie reden wollen? Über ihr Leben, von dem ich keine Ahnung habe? Über irgendeinen Mann, den sie mal hatte oder den sie haben möchte oder der irgendwo auf sie wartet? Oder zerrt sie mich gleich ins Bett? Ich bin auch schon total meschugge. Dann lächelte er.
Karen kam aus dem Bad und trug einen beigefarbenen, glänzenden Morgenmantel, der ihr bis knapp über die Knie reichte.
Sie fragte: »Willst du etwas essen? Soll ich etwas kommen lassen?«
»Nein, danke«, sagte er.
Sie baute sich vor ihm auf, als wolle sie ein für alle Mal etwas klarstellen, und erklärte: »Ich bin völlig übermüdet. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich auf das Bett lege?« Sie lachte leise. »Hübsch zurückhaltend, natürlich.«
»Ich habe nichts dagegen«, erwiderte er. »Hast du etwas dagegen, wenn ich das Jackett ausziehe?«
»Es steht Sekt im Eisschrank.«
»Kein Alkohol mehr. Ich trinke selten.«
Sie legte sich auf das Bett, kramte die Kopfkissen zusammen und stopfte sie sich hinter den Rücken.
»Du bist schon ein seltsamer Heiliger. Du gibst nicht gern etwas preis, nicht wahr?«
»Nein«, sagte er.
»Wenn du jetzt hier rausmarschierst, hätte ich Schwierigkeiten, dich zu beschreiben.«
Er lachte unterdrückt und konnte sich nicht enthalten zu sagen: »Das ist durchaus beabsichtigt.«
»Ja, das denke ich mir. Ich will mit dir über diese Stadt reden. Ich habe hier dauernd zu arbeiten, ich rede mit wichtigen Leuten. Und wenn ich abends in dieses Hotel komme und genau überlege, haben sie alle so gut wie nichts gesagt. Vor allem niemals klar ja oder nein.«
»Mit wem redest du denn?«
»Im Moment mit den Liberalen. Ich soll ihnen ein klareres Profil verschaffen.«
»Aha. Dahinter steckt viel Geld, oder?«
»Sehr viel Geld sogar, wenn es klappt. Aber es ist nicht das Geld, es ist die ständige Nervosität der Leute, die mich fertig macht. Vor ein paar Tagen hat mir jemand gesagt: Wissen Sie, wir wissen eben mittags noch nicht, was wir abends dementieren müssen. Und das macht uns so anfällig.« Sie lachte.
Wieso hocke ich hier?, dachte er fiebrig. Ich könnte jetzt bei meinem Vater sein und seine Hand halten. Oder ich könnte im Haus meiner Eltern in meinem alten Zimmer sitzen, damit meine Mutter nicht so allein ist und sich nicht so fürchten muss. Diese Frau hier ist wahrscheinlich unerreichbar weit entfernt, und sie würde sich wohl totlachen, wenn sie wüsste, dass ich seit zwei Jahren mit keiner Frau mehr geschlafen habe.
»Hallo!«, sagte sie übertrieben laut. »Wo bist du denn?«
»Ich … ich war weit weg. Mein Vater ist schwer krank.«
»Das tut mir Leid. Was hat er denn?«
»Schlaganfall. Er liegt im Koma, was immer das bedeuten mag.«
Jetzt meldete sich sein Handy, es war wenige Minuten vor zwei. Er sagte: »Entschuldigung«, und nahm es aus der Hosentasche.
»Ich komme vom Band«, hörte er Krause sagen. »Danke für Ihre Anregung wegen der Fahnder. Wir hatten unseren Bruderstamm sofort darum gebeten. Sie haben Achmed nicht ausfindig gemacht. Ende.«
»Irgendetwas wegen deines Vaters?«, fragte sie.
»Nein«, sagte er. »Nur Routine. Nichts Besonderes.«
»Manchmal sage ich mir, dass es das Beste wäre, hier die Zelte abzubrechen und einfach abzuhauen, statt solche Nullachtfuffzehn-Aufträge abzuspulen.«
»Wenn diese Stadt dich fertig macht, solltest du das wirklich tun. Wo bist du denn zu Hause?«
»In Frankfurt.«
»Und du hast eine richtige, lebendige Firma?«
»Habe ich. Karen Swoboda GmbH und Co. KG.«
»Wie, um Gottes willen, kann man Swoboda heißen?«
»Wenn du einen Wiener geheiratet hast und aus dem Wahn erwachst. Komm her und leg dich neben mich.«
Er sah sie an und fragte: »Fördert das nicht den Geschlechtsverkehr?«
»Manchmal tut es das«, sagte sie leise. »Verdammt, ich bin eben zurzeit einsam, und bei dir habe ich das Gefühl, ich kann das sagen.«
»Das kannst du auch«, sagte Müller. Er stand aus seinem Sessel auf, löste den Gürtel seiner Hose und legte sich neben sie, stocksteif wie ein Stück Holz. Plötzlich musste er darüber kichern.
»Gib mir deine Hand. Du bist auch einsam. Und erschöpft.«
»Du hast Recht.«
Ihre Hand war warm und trocken.
»Ich habe meine Schuhe noch an«, sagte er. Er fühlte sich auf einmal nur noch gut.
»Das macht nichts. Moderne junge Menschen latschen erst stundenlang durch Hundekacke und legen sich anschließend in ihre Seidenkissen. Um zu demonstrieren, dass sie diese junge, aufregende Welt total kapiert haben.«
Er lachte, beugte sich nach vorn, zog sich die Schuhe aus und warf sie auf den Fußboden.
»Hast du Geschwister?«, fragte er schließlich.
»Nein.« Sie wälzte sich zu ihm hin auf den Bauch, und ihr Gesicht war jetzt dicht über seinem. »Kannst du mal den Mund halten, während ich dein Gesicht betrachte?«
Er schloss die Augen.
»Lass die Augen offen. Irgendetwas ist mit deinem linken Auge.«
Er lachte. »Es ist gelb.«
»Es ist was?«
»Es ist gelb.«
»Das ist nicht wahr. Doch, warte mal, es könnte sein.«
Er drehte sich unter ihr weg und nahm vorsichtig die Linse von seinem linken Auge. Er legte sie auf den Nachttisch, drehte sich zurück und sagte: »Jetzt guck mal.«
»Das ist aber was Seltenes, oder? Und wieso versteckst du das?« Sie lächelte ihn an, und dann küsste sie ihn flüchtig auf die Lippen, dann auf die Augen, dann auf die Stirn. »Ich will es gar nicht wissen, sonst löst du dich in Luft auf. Nimm mich in die Arme.«
Er nahm sie in die Arme, sie legte den Kopf neben seinen, der Morgenmantel hatte sich verschoben, er dachte ein wenig zittrig: Ich nehme es an, verdammt, ich nehme es einfach an.
 
»Du hast mir gut getan.«
»Du mir auch.«
»Wann musst du gehen?«
»Eigentlich muss ich gar nicht gehen. Eigentlich würde ich gern hier bleiben und mit dir frühstücken.«
»Das ist schön. Wie viel Uhr ist es?«
»Zwanzig nach drei.«
»Gute Zeit«, murmelte sie und gähnte.
Irgendwann zog sie eine der Bettdecken vom Fußboden hoch und legte sie über sich. Dann schlief sie, und Müller dachte: Sie sieht so aus, als vertraue sie der Welt wie ein Kind, das sein Zuhause fühlt.