ERSTER TAG
 
Krause kam herein und sagte gut gelaunt: »Es gibt Arbeit, mein Lieber. Achmed ist am Telefon.«
»Und, was will er?«, fragte Müller.
»Das weiß ich nicht, das ist Ihr Bier. Er ist am Hamburger Telefon und scheint gut drauf zu sein. Vielleicht will er Ihnen ja nur Guten Tag sagen.«
»Verarschen Sie mich nicht«, sagte Müller mit einem milden Grinsen. »Was hat die Kantine zu bieten?«
»Würstchen mit Kartoffelsalat und Backfisch. Bis später.« Krause spazierte wieder hinaus.
Müller ging ans Telefon und hörte Achmed zu, wie er seelenruhig über die dreitausend Kilometer Entfernung zwischen Damaskus und Hamburg einen der vereinbarten Codes verwendete, den er bisher noch nie eingesetzt hatte.
Achmed sagte auf Arabisch: »Mein Freund, ich brauche dringend den besten Vorschlaghammer, den du auftreiben kannst. Und zwar am besten gleich zwanzigmal.«
Müller brauchte nicht nachzusehen, er kannte den Code im Traum. Er bedeutete: Komm schnellstmöglich her. Müller dachte an Melanie und an Anna-Maria, und dass er ihnen versprochen hatte, in den kleinen Zirkus zu gehen, der auf der großen Wiese hinter ihrer Siedlung gastierte. Anna-Maria hatte zwei Elefanten gesehen und sprach seitdem über nichts anderes mehr.
Müller sagte: »Scheiße!« Dann stand er auf, ging hinüber in Krauses Büro. »Wir haben ein verdammtes Dringend von Achmed. Ich soll schnell kommen.«
»Die Beurteilung?«, fragte Krause.
»Den Code hat er in den vier Jahren noch nie verwendet. Gut, wir wissen, dass er ein Luftikus ist, aber er hat nie eine Abmachung missbraucht oder eine Meldung aufgeblasen. Auf den ersten Blick würde ich sagen: Ich sollte sofort losfliegen.«
»Was könnte es sein?«
»Möglich, dass die Amis es aufgeben, in der syrischen Wüste nach Öl zu bohren. Oder dass sie im Gegenteil noch weitere Ölsuchtrupps anfordern. Könnte alles Mögliche sein. Könnte sogar sein, dass Achmeds Onkel mit irgendwas auf die Schnauze gefallen ist und das Projekt nicht mehr steuert. Was sagen Sie?« Müller grinste. »Schließlich habe ich von Ihnen gelernt, nicht allzu viel Fantasie zu verbraten. Es bringt nichts, haben Sie gesagt.«
»Auf jeden Fall handelt es sich um etwas, was er Ihnen am Telefon nicht verraten kann. Und ich hasse diese gottverdammten Konjunktive. Rufen Sie ihn an, und sagen Sie ihm, Sie kommen. Was ist mit Geld? Erwartet er welches?«
»Keine Automatik bei Achmed. Aber ich sollte in Damaskus welches aufnehmen, bevor ich ihn sehe.« Müller dachte leicht erheitert, dass Krause für einen abgebrochenen Theologen erstaunlich oft das Wort »gottverdammt« verwendete.
»Wie viel?«
»Fünftausend US-Dollar. Das übliche Verfahren, der ganz normale Treff.«
»Gut. Ich gebe der Reisestelle und der Residentur in Damaskus Bescheid, damit die das Nötige veranlassen. Rufen Sie Achmed an.«
Müller trabte in sein Büro zurück und dachte mit leichtem Widerwillen, welchen Wust an Bürokratie er gerade auslöste. Sie diskutierten es immer wieder, stritten sich wie die Kesselflicker um Vereinfachungen und kamen auf der endlosen Leiter der Zuständigkeiten nicht eine Stufe weiter. Krause musste jetzt seine wichtige Zeit dem Geschäftszimmerbereich opfern. Dort würde der Abschlag auf die Reisekosten und Treffkosten festgelegt. Krause müsste an Müllers Stelle unterschreiben. Dann wurde jemand losgeschickt, der die Genehmigung und das Geld abholte. Anschließend musste jemand die Buchung des Fluges erledigen.
Dazu kam die Bürokratie in Damaskus: Der BND-Resident würde nachschauen, ob sein Bestand an US-Dollar ausreichte, und spätestens nach dem Treffen die Zentrale bitten, seine Dollarkasse wieder aufzufüllen. Und er würde prüfen, ob sein Gehilfe für die Geldübergabe bereitstand, die Müller immer den »Tanz mit dem bartlosen Unterprimaner« nannte.
Müller nahm das Handy Nummer vier und wählte die lange Nummer von Achmed in Damaskus.
Achmed meldete sich augenblicklich, und Müller sagte: »Hi, Kumpel.«
»Oh, mein deutscher Lieferant. Wie geht es dir, alter Gauner?«
»Na ja, wie es einem so geht, wenn Arabien auf der Matte steht. Hör zu, die Vorschlaghämmer kannst du kriegen. Sofort.«
»Das ist gut«, sagte Achmed mit einem kleinen fröhlichen Glucksen in der Stimme. Dann unterbrach er die Leitung.
Müller ging auf die offizielle Leitung und rief zu Hause an.
Als Melanie sich meldete, sagte er hastig: »Bitte sei nicht sauer, Schatz, aber ich muss auf eine Dienstreise. Nur zwei, drei Tage oder so. Dann bin ich wieder da. Ich komme gleich und pack meine Sachen.«
»Sie hat sich so gefreut«, sagte Melanie seufzend.
»Ich weiß.« Müller fühlte sich unbehaglich. »Bis gleich also.«
Der interne Apparat klingelte, der Chef sagte: »Wir haben Sie auf einer Lufthansa nach Athen in drei Stunden. Dann sofort weiter nach Damaskus. Die Residentur geht klar. Gehen Sie zur Operativen Sicherheit, die Treffs absprechen.«
»Geht klar.«
Müller ging über mehrere Flure und die Treppe hinunter zu Willi Sowinski von der Operativen Sicherheit und erklärte gleich: »Ich habe zwei Treffs in Damaskus, beide nach der alten, bewährten Regel. Erster Treff Botschaft wegen der Gelder. Vor dem Café in der Straße der Düfte. Aneinander vorbeigehen, zweimal. Dann hinsetzen. Aktenkoffer Nummer drei, kleines Format. Wird nur gewechselt, steht unter dem Tisch. Er geht vorbei, nimmt meine Tasche auf, ich nehme seine und gehe weiter. Treff Achmed wie immer. Schräg gegenüber von seinem Stand ist ein Obstladen. Ist alles in Ordnung, geht er rein, nimmt eine Orange auf, zahlt sie und geht wieder. Ist es nicht in Ordnung, nimmt er drei Orangen. Ausweichtreff dieselbe Stelle genau eine Stunde später, gleiches Verfahren.«
»Sie haben es gut drauf«, sagte Sowinski. »Gibt es eine Ausweiche beim Geld?«
»Gibt es. Exakt eine Stunde später an einem Shawurma-Stand zwei Gassen weiter. Dasselbe Verfahren.«
»Irgendwelche Unklarheiten?«
»Nein. Mit Ausnahme der Tatsache, dass wir nicht wissen, was Achmed uns sagen wird.« Müller grinste.
Sowinski nickte nur und lächelte ihm zu, was in etwa hieß, er solle seine Sache gut machen – wie gehabt. Dann aber konnte er sich nicht verkneifen, wie beiläufig hinzuzufügen: »Und die Treffberichte bitte binnen vierundzwanzig Stunden nach Ihrer Rückkehr, so präzise wie möglich.«
Müller wusste genau, dass Sowinski mit einigen Verbindungsführern ständig wegen nicht geschriebener Treffberichte im Clinch lag, und er wusste auch, dass im letzten Jahr zwei oder drei Treffs mit wichtigen Leuten irgendwo auf der Welt schief gegangen waren, weil Berichte anderer Agenten über vorhergehende Treffen entweder gefehlt hatten oder unvollständig waren.
»Das geht alles klar. Passen Sie auf das Haus auf.«
 
Kurz darauf fuhr er mit dem Lift in die Tiefgarage, stieg in seinen alten Golf und steuerte die Rampe hoch. Das Licht draußen war grell und traf ihn wie ein Schlag. Die Sonne stand fast senkrecht, und es mussten um die dreißig Grad sein. Müller fuhr konzentriert.
Er dachte, dass ihm die Reise eigentlich gut in den Kram passte. So kam er wenigstens mal wieder für ein paar Tage von zu Hause fort. Er hatte nämlich keine Ahnung mehr, worüber er mit Melanie noch sprechen sollte, außer über die ganz alltäglichen Banalitäten. Er bekam einen harten Rücken, wenn er in sein eigenes Haus kam. Ich bin in dieser Ehe stumm geworden, dachte er, ich bin, verdammt noch mal, ein Taubstummer in meinem eigenen Haus. Wieso mache ich nicht den Mund auf? Wahrscheinlich tue ich das nicht, weil sie mich gar nicht verstehen würde. Sie wäre nur maßlos erschreckt, und sie würde garantiert sagen: Das kriegen wir wieder hin. Sie sagt immer, dass man alles hinkriegen kann.
Lieber Himmel, schoss es Müller durch den Kopf, ich bin ja schon glücklich, wenn ich in mein Haus stolpern und nach der Fernbedienung greifen kann, um mich berieseln zu lassen.
Er kaufte unterwegs einen bunten Blumenstrauß aus den Eimern eines Selbstbedienungsladens.
Kurz darauf erreichte er die Siedlung, die endlosen Reihenhäuser – eines wie das andere, mit einem Haufen junger Paare drin, die ein Kind nach dem anderen bekamen, als nähmen sie an einem Wettbewerb teil.
Ich hasse das alles, dachte Müller.
Draußen vor seinem Haus, der Nummer zweihundertvierzehn, saß auf dem winzigen Rasenfleck Anna-Maria und sprach ganz konzentriert mit ihrem zerrupften Hasen, der Oskar hieß.
»Hallo, meine Prinzessin!«, sagte Müller laut.
Sie hob den hübschen Kopf, der von leicht rötlich blondem, langem Haar umrahmt war.
Dann schrie sie: »Papa!«, legte den Hasen achtlos beiseite und kam durch das kleine Tor im Einheitsjägerzaun herangelaufen.
»Wir gehen in den Zirkus.«
»Nicht heute«, sagte Müller und nahm sie hoch. »Papa hat keine Zeit. Wir gehen in ein paar Tagen hin.«
Sie brach augenblicklich in Tränen aus. »Aber du hast es versprochen.«
»Das stimmt, und ich halte es auch. Aber nicht heute. Komm, du kannst mir helfen, meinen Koffer zu packen.« Er trug sie auf dem Arm ins Haus.
Melanie sah durch die Küchentür und sagte: »Hallo! Brauchst du irgendwas Besonderes?«
»Nein, nur ein paar Klamotten für zwei, drei Tage.«
»Und, wohin geht es?«
»Nach München«, antwortete er.
Er gab sehr häufig München als Ziel an, wohl wissend, dass es sie ohnehin nicht interessierte.
Er hatte ihr schon früh in ihrer Beziehung gesagt, dass er beim Bundesnachrichtendienst arbeitete und dass er über Einzelheiten nicht sprechen dürfe – was letztlich auch zu ihrem Schutz sei. Sie hatte einfach genickt, und dabei war es geblieben, und sie hatte gar nicht erst die Angewohnheit entwickelt, irgendetwas herausfinden zu wollen. Sie beschwerte sich nie.
»Fliegst du gleich?«
»Ja, ich muss sofort wieder raus nach Tegel.«
Er setzte Anna-Maria ab und lief die Treppe hinauf. Er holte den Schalenkoffer vom Kleiderschrank und packte ein, was er für drei Tage brauchen würde. Vor allem die Boxershorts aus beigefarbenem Leinen, die weißen Tennissocken, die dunkelbraunen Sandalen und das bunte Hemd mit dem Ethno-Muster.
Krause hatte einmal bei einer Konferenz unter allgemeinem Gelächter erklärt, niemand könne den perfekten tumb-deutschen Touristen so gut darstellen wie Karl Müller mit seinen schneeweißen Beinen in Shorts, mit Tennissocken und Sandalen.
Im Badezimmer entschied er sich für zwei blaue Augen und setzte sich eine blaue Haftschale auf das linke Auge, das fast gelb war – Echsenauge hatte das mal jemand genannt. Dann packte er den Toilettenbeutel mit den notwendigen Utensilien und warf ihn in den Koffer.
»Ich muss jetzt los«, sagte er zu Anna-Maria, die ihm die ganze Zeit hinterhergelaufen war und zugesehen hatte.
»Und wenn du wiederkommst, gehen wir in den Zirkus.«
»Ganz genau«, nickte er.
Auf der Treppe veranstalteten sie ein Riesengepolter, weil das Holz nicht abgefedert war und wie eine Trommel dröhnte.
»Schatz, ich bin weg!«, sagte er und drückte Melanie einen Kuss auf die Wange. »Ich melde mich, wenn es länger dauert.«
»Ja, guten Flug«, sagte sie ohne jede Betonung. »Schätzchen, komm, bleib hier, du kriegst einen Saft.«
 
Müller wollte gerade starten, da verharrte er plötzlich. Er fingerte sein privates Handy heraus und rief die Intensivstation an. Er verlangte seine Mutter.
Sie meldete sich sofort, und er hörte, dass sie geweint hatte.
»Wie geht es Papa?«
»Sie sagen, es geht langsam besser. Aber ich glaube, sie wollen mich schonen und sagen mir nicht die Wahrheit. Kannst du nicht ins Krankenhaus kommen, Junge?«
»Kann er denn wieder sprechen?«
»Nein, kann er nicht. Aber es heißt, dass das nach einem Hirnschlag sehr lange dauern kann. Das muss Vati dann trainieren. Oh Gott, Junge, komm doch her, ich bin so verzweifelt.«
»Geht nicht, Mama, ich bin auf einer Dienstreise. Aber ich komme so schnell wie möglich zurück.« Er wusste genau, dass sie alle Stunden sein Handy anwählen würde, aber das ließ er schön abgeschaltet. Er spürte ein sehr starkes, hohles Gefühl von Abwehr im Bauch. »Ich kann die Reise nicht aufschieben«, sagte er heiser. »Es geht einfach nicht. Ich rufe dich wieder an.«
»Das tust du doch nie«, meinte seine Mutter bitter.
»Ich verspreche es. Ich rufe dich an.«
Er stieg wieder aus und lief ins Haus.
Melanie sah ihn kommen und öffnete die Tür. »Ist irgendetwas?«
»Ja. Du musst dich um meine Mutter kümmern, bitte. Sie braucht da auf der Intensivstation Unterstützung. Fahr bitte zu ihr.«
»Und Anna-Maria?«
»Bring sie einfach zu deinen Eltern. Oder zu den Nachbarinnen.«
»Das … das …« Melanie sah ihn nicht an, sie sah auf ihre Schuhe hinunter.
»Ich weiß, Intensivstationen sind nicht dein Ding. Aber ich bitte dich inständig darum.« Müller drehte sich um und lief zum Wagen zurück. Dabei ging ihm die Szene durch den Kopf, wie sie ihm seine Mutter haltlos schluchzend geschildert hatte.
»Weißt du, er sitzt vor dem Schreibtisch und liest, und alles ist wie immer. Und plötzlich fällt sein Kopf zur Seite, und der Stuhl rollt zurück. Und dann fällt er runter, einfach so. Und ich schreie …« Er dachte wütend und unkontrolliert: Scheiße! Er fuhr zurück ins Amt und entdeckte beim Aussteigen in der Tiefgarage, dass der Blumenstrauß, den er für Melanie gekauft hatte, noch im Wagen lag. Er nahm ihn und versenkte ihn in einer Abfalltonne.
Im Büro packte er zusätzlich einen leichten Leinenanzug in den Koffer, von dem Melanie nicht einmal wusste, dass es ihn gab. Dazu ein paar einfache Leinenslipper. Zu solchen Kleidungsstücken hatte man ihm geraten, als er sich auf den Nahen Osten konzentrierte. Dazu kamen zwei Koffer voller Hämmer, Nägel und Bohreinsätze. Denn offiziell war Müller stets als Eisenwarenvertreter unterwegs.
Anschließend ging er zu Krauses Büro, klopfte an und sagte: »Ich bin dann weg.«
»Alles klar?«
»Alles in Ordnung.«
»Das ist gelogen, mein Junge. Ihr Vater liegt im Sterben, Ihre Ehe ist seit langer Zeit tiefgekühlt. Es kommt bald der Punkt, an dem wir reden müssen.«
Das war typisch für Krause: sanft zu sprechen und zu lächeln, wenn er echte Probleme zur Sprache brachte. Und es konnte sein, dass er dabei nicht einmal den Kopf hob. Er war, weiß Gott, ein sehr gütiger und unerbittlicher Vater.
Müller wollte augenblicklich wütend werden, wollte zischen: Was geht Sie meine Ehe an? Aber Krause hatte Recht, in seinem Beruf musste man den Kopf frei haben, und also antwortete er nach ein paar Sekunden: »Ja.«
 
 
 
 
Er hatte im Transitbereich in Athen ganze dreißig Minuten Zeit, die er dazu nutzte, ein Wasser zu trinken und seine Mutter in Berlin anzurufen. Sie war mittlerweile nach Hause gefahren.
»Hallo, Mama. Ich hocke hier auf dem Flughafen und warte auf einen Anschlussflug. Wie geht es Papa?«
»Na ja, wie es nach einem Schlaganfall eben geht. Sie sagen mal, es wird alles gut, und mal, das wird nie mehr was. Stell dir vor, eine junge Krankenschwester hat gemeint: Sie müssen jetzt sehr viel Kraft haben. Stell dir das vor.« Unvermittelt begann sie zu weinen. »Er fehlt mir so.«
»Ja, Mama.«
»Wann bist du wieder in Berlin?«
»Das weiß ich nicht genau, Mama. Ich beeile mich, ich verspreche es.«
»Und stell dir vor: Ich habe nicht einmal Ahnung, wie wir finanziell stehen und wo eigentlich sein Geld ist.«
»Wie bitte?«, fragte er verblüfft.
»Na ja, so ist das eben. Ich habe wirklich keine Ahnung.«
»Hast du nicht … ich meine, hast du keine Bankvollmacht?«
»Nein, er hat doch alles gemacht, also das Finanzielle. Und er war ja immer da. Ach, Junge …«
»Ich ruf dich wieder an, Mama, der Flug wird aufgerufen.« Dann hockte er in einer dunkelblauen Plastikschale auf großformatigen, weinroten Fliesen und starrte durch eine riesige Glasscheibe auf das Vorfeld, auf dem sich zahllose kleine Autos hektisch tummelten. Wie bei jedem Einsatz konzentrierte er sich auf die vor ihm liegenden Stunden und auf die Menschen, denen er begegnen würde. Da war der Geldbote des BND aus der Botschaft, der ungeheuer farblos und ebenso jung war, und den er den bartlosen Unterprimaner nannte, obwohl vieles dafür sprach, dass er weit über dreißig war. Er machte seine Sache mittelmäßig bis gut, nervte Müller aber dadurch, dass er bei allem, was er tat, dümmlich lächelte. Außerdem sah es, wenn er ging, von hinten immer so aus, als halte er seine Eier schützend mit der rechten Hand bedeckt. Eines war aber ganz sicher: Der Unterprimaner war auf seine Weise ein großartiger Spion, da niemand ihm zutrauen würde, sich auch nur eine Telefonnummer zu merken, geschweige denn, einmal schnell zu reagieren.
In dem Koffer aus der Botschaft würden die fünftausend US-Dollar sein, verpackt in eine braune Papiertüte. Müller würde sie entnehmen und den Plastikkoffer irgendwo zum Müll werfen. Die Geldübergabe würde er sofort erledigen und alles andere dem morgigen Tag überlassen.
Dann das Treffen mit Achmed, dem Sonnyboy, auch Laptop-Achmed genannt. Müller freute sich jedes Mal, ihn zu treffen, weil Achmed so fantastisch lachend durch das Leben zu gehen schien. Nichts, offensichtlich gar nichts konnte ihn umwerfen. In seinem weitläufigen Laden nahe dem Basar herrschte er über Hammer, Zangen, Nägel, Schrauben. Achmed war der geborene Eisenwarenhändler, denn kein Schraubenzieher wanderte über die Theke ohne ein intensives, zwanzigminütiges Gespräch.
Schon das Aahhh!, das Achmed intonierte, wenn Müller kam, schon dieses begeisterte Ausbreiten der Arme, schon dieses ungeheuerlich breite und strahlend weiße Gebiss unter den dunklen Augen! Achmed war Leben, mit ihm zu arbeiten bereitete Vergnügen.
Er erinnerte sich oft an den Tag, an dem er die Klaransprache gehalten hatte.
»Hör zu, Achmed, ich muss dir etwas sagen. Im Ernst, Junge.«
»Schieß los.«
»Ich bin kein Eisenwarenhändler.«
»Oh, oh. Jetzt kommt todsicher ein Witz.« Und er lachte schallend.
»Nein. Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich bin ein Spion.«
»Ja, ja. James Bond oder irgend so ein Scheiß! Und wo ist deine heiße Blondine?«
»Hör mir zu, Achmed …«
Dann die wenigen Sekunden fast tödlichen Ernstes, in denen sich zeigte, dass Achmed als Spion hervorragend geeignet war: dieses sanfte, nachdenkliche Schütteln des Kopfes, dieses Ich-kann-es-nicht-fassen, das er nie aussprach. Das traurige Begreifen des Verlustes der Unschuld, wiederum Sekunden nur, aber schrecklich endgültig. Die vertraulichen Gespräche, die freundschaftlichen Abende mit Wein in Achmeds Familie, alles war anscheinend nur Mittel zum Zweck gewesen. Und schon auf dem Weg zum Begreifen dieser schräge Blick, dieses achselzuckende: »Na, ja, wenn das so ist.«
Und dann, zu guter Letzt, dieses leicht melancholisch Hingetupfte: »Also, wenn das so ist, kannst du mich auch bezahlen …«
 
Müllers Flug wurde aufgerufen.
Er bewegte sich träge und sah mit der einfachen, schwarzen Umhängetasche aus Leinen aus wie ein Mensch, den man zwei Sekunden später vergessen würde.
Er war ein sehr unauffälliger Mann, etwa einen Meter achtzig groß, zur Fülle neigend. Sein Teint war blass, seine Nase spitz, sein Kopf rundlich, bedeckt von dünnem, aschblondem Haar mit weiten Geheimratsecken. Er hielt den Kopf immer ein wenig vorgestreckt, was ihm das Aussehen eines freundlichen, neugierigen Vogels gab. Er trug ein blaues Sporthemd mit schmalen gelben Karostreifen unter einem leichten beigefarbenen Pullover. Dazu beigefarbene Leinenhosen mit vielen Taschen und mittelbraune, bequeme Schuhe. Er war der Mann, der alles sein konnte. Vielleicht besuchte er einen Freund, vielleicht war er ein Netzwerktechniker, vielleicht ein harmlos neugieriger Tourist, vielleicht ein Arzneimittelvertreter.
Zum ständigen Entzücken seines Chefs Peter Krause war dieser Müller alles und zugleich nichts. Selbst sein Alter – er war siebenunddreißig – verschwamm bei seinem Anblick. Es gab Menschen, die ihn zehn Jahre älter schätzten, und sehr viele schätzten ihn zehn Jahre jünger, vor allem dann, wenn sie ihn beim Sport sahen, wie er sich bewegte, wie er dahinglitt und mühelos bedauernswerte Sparringspartner auf den Boden warf. Nur sehr wenige, zumeist Kollegen mit geschärftem Blick, kamen auf sein wirkliches Alter.
»Das Bestechendste an ihm ist«, hatte Krause einmal geäußert, »dass er kein Held ist, weil er absolut keiner sein will.«
 
Die Maschine war nicht sehr voll. Müller suchte sich einen Fensterplatz auf der linken Seite, weil man von dort beim Einschweben über Damaskus sehen konnte, wie die Stadt ihre Lichter anzündete.
Dann stand plötzlich eine sehr europäisch aussehende alte Dame an seiner Reihe und fragte in akzentfreiem Englisch: »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Aber ja«, antwortete Müller freundlich. »Wollen Sie hier ans Fenster?«
»Oh nein, bitte nicht ans Fenster, aber gleich neben Sie. Ich habe nämlich Flugangst, wissen Sie, und manchmal brauche ich jemanden, an dem ich mich festkrallen kann, wenn der Pilot so wahnsinnige Kurven macht.«
Müller grinste breit und sagte gutmütig: »Dann krallen Sie mal.« Er war nicht undankbar für die Ablenkung. In seiner Rolle als Handelsvertreter konnte er ganz entspannt sein.
Er musterte seine Nachbarin unauffällig. Sie war klein und rundlich und hatte ihr Haar mit einem lichten Blauschimmer versehen lassen. Ihre Kleidung war grau und zurückhaltend, aber teuer.
Sie murmelte auf Deutsch: »Was tut man nicht alles für die Kinder!«
»Da sagen Sie was«, nickte Müller, jetzt ebenfalls auf Deutsch. »Besuchen Sie Ihre Kinder?«
»Eine Tochter«, sagte sie. »Eine von vieren. Aber sie war immer schon die schwierigste, um die Wahrheit zu sagen.«
»Was ist eine schwierige Tochter?«, fragte Müller. »Ich habe nämlich auch eine.«
»Eine schwierige Tochter ist eine Tochter, die erst einen Mann aus Ghana anschleppt, dann einen jungen Arzt aus Singapur, dann einen Mathematikstudenten aus St. Petersburg und schlussendlich einen Teppichhändler aus Damaskus. Aber den tauschte sie dann doch noch gegen einen Studierten. Sie wollte natürlich alle heiraten, und ich habe gezittert, sage ich Ihnen, dass sie ein Kind kriegt, egal von wem. Das, junger Mann, ist eine schwierige Tochter. Wobei ich Ihnen die sechs oder acht Kerle, die zwischendrin in meinem Haus auftauchten, verschwiegen habe.«
»Und den Studierten aus Damaskus hat sie geheiratet?« Ein Lehrer hatte einmal formuliert: Probieren Sie vor der Ankunft Ihre Maske aus. Sie muss nahtlos passen.
»Oh nein, so einfach geht es bei ihr nicht. Sie sagt, sie will ihm nur nahe sein für den Fall, dass er heiraten will. Aber ich habe einen ganz anderen Verdacht.« Sie sah ihn von der Seite an und entschied: »Na ja, Sie sind alt genug, damit umzugehen. Ich denke, dass er sie sich als Geliebte hält – bis irgendein dummes Ding auftaucht, das er heiraten muss, weil seine Sippe das beschlossen hat. Ich habe gehört, die Syrer sind in diesen Dingen schrecklich unkultiviert.«
»Das könnte stimmen«, kommentierte Müller trocken. »Was hat der Kerl für einen Beruf?«
»Denken Sie nur«, sagte sie mit runden, naiv schimmernden Augen, »der Kerl ist tatsächlich ein Agrarwissenschaftler, ein leibhaftiger Doktor. Und er arbeitet sogar für den Staat, wird aber natürlich lausig bezahlt.«
»Na, so was!«, erwiderte Müller.
Dann rollte die Maschine an, und er hielt der Dame seine rechte Hand hin. Sie legte ihre Linke hinein und strahlte. »Das ist sehr nett!«
»Sie sollten autogenes Training versuchen«, riet er. »Atmen Sie ganz flach, und konzentrieren Sie sich auf die linke Schulter. Können Sie das?«
»Na sicher!«, antwortete sie entrüstet, als sei sie beleidigt.
»Spüren Sie Ihre Schulter?«
»Ja.«
»Schließen Sie die Augen. Dann gehen Sie in diese Schulter hinein und spüren, wie sie warm wird. Wohlig warm. Lassen Sie sich Zeit, und wenn Sie die Wärme spüren, dann sagen Sie es mir. Ganz locker, und kein Gedanke mehr an die schwierige Tochter.«
»Ja.«
Die Piloten gaben Vollgas, der Vogel begann schnell zu werden und stieg endlich steil auf.
»Sie sind ein Trickser!«, stellte sie nervös fest.
»Das auch«, grinste er. »Sie können sich, wenn Sie das üben, in Stresssituationen mühelos ruhiger stellen. Üben Sie es, und Sie werden irgendwann keine Flugangst mehr haben.«
»Sind Sie Psychologe?«
»Nein«, sagte Müller. »Handelsvertreter. Nägel, Zangen, Hämmer, Schrauben, Schlagbohrer, Excenterschleifer, Kreissägen, Beschläge aller Art. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben.«
»Entzückend!«, hauchte sie nervös.
 
Am Flughafen von Damaskus angekommen, nahm Müller ein Taxi und ließ sich ins Hotel fahren. Er packte seinen Koffer aus und ging dann in die Halle hinunter. Er benutzte selten den Lift, sondern betrachtete jedes Treppenhaus als eine Möglichkeit, seine Kondition zu stärken.
Unten nahm er ein Taxi zum großen Basar und schlenderte dann scheinbar ziellos durch die engen Gassen.
Das zweimalige Aneinandervorbeilaufen klappte reibungslos, kein Zeichen, dass irgendetwas falsch lief. Müller setzte sich an ein kleines Tischchen. Der schäbige Plastikkoffer wirkte unter dem Plastiktischchen wie das abstoßende Abbild einer im Untergang befindlichen Kultur.
Dann kam der Unterprimaner mit seinem schlackernden, zögerlichen Gang und setzte sein Köfferchen neben das von Müller.
Es folgten ein paar alberne Schritte zum gegenüberliegenden Gewürzkrämer. Kurzer Blick in die Körbe mit all den wohlriechenden Pulvern und Körnern, die scheinbar schwerwiegende Überlegung: Was koche ich heute Abend? Jetzt drehte er sich, kam heran, nahm ohne Blickkontakt Müllers Koffer und verschwand.
Müller blieb noch eine Weile sitzen, holte sich einen Mokka, hatte Zeit, denn nichts trieb ihn. Dann öffnete er den Plastikbehälter und nahm die braune Papiertüte heraus. Als er ging, ließ er den kleinen Koffer einfach in eine große Abfalltonne fallen und klemmte sich die Papiertüte unter den rechten Arm. Dann ließ er sich von einem Taxi in das Hotel fahren und brachte das Geld in einem seiner Musterkoffer unter.
 
Er rief erneut seine Mutter an, fragte sich aber vorher, ob er das dürfe. Die Antwort lautete: Ich bin der Eisenwarenvertreter Karl Müller aus Hamburg, ich besuche Kunden in Damaskus. Mein Privatleben findet weiter statt, also darf ich mit meiner Mutter sprechen.
»Wie geht es dir jetzt?«
»Ich würde am liebsten im Krankenhaus bei ihm bleiben«, sagte sie kläglich.
»Aber du weißt doch, dass das nicht geht. Und er ist ständig unter Beobachtung. Du könntest doch ohnehin nichts für ihn tun.«
»Aber er würde bestimmt merken, dass ich neben seinem Bett sitze.«
»Ja, du hast Recht. Aber es geht einfach nicht.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Wo bist du denn eigentlich?«
»Im Ausland«, sagte er.
»Und wann kommst du heim?«
»Übermorgen oder so«, antwortete er. »War Melanie da?«
»Nein. Sie hat mich angerufen und mir gesagt, sie könne nicht kommen, weil sie niemanden für Anna-Maria hätte.« Und dann, ganz sanft: »Junge, ist da irgendetwas los?«
Es war nicht das erste Mal, dass sie das fragte, und er betrachtete das als eine nicht statthafte Einmischung. Sein Vater hätte jetzt gemurmelt: Sie riecht so etwas.
»Nicht das Geringste«, antwortete er bestimmt. »Ich melde mich morgen wieder. Und wenn Vater dich versteht, sag ihm einen schönen Gruß von mir.«
»Aber, Junge, wir müssen reden.«
Einen Moment lang war er verwirrt. »Über was?«
»Über ihn, und wie er … wie er war.«
»Er lebt, Mama.«
»Na ja«, antworte sie leise, dann war die Verbindung unterbrochen.
Er machte den Kontrollanruf bei Achmed, streng nach Absprache.
Er sagte: »Dein Hammer- und Nägelmann ist in der Stadt.«
Achmed reagierte enthusiastisch: »Hi, Karl!«, brüllte er. »Und wann kommst du ins Geschäft?«
»Ich denke, gegen neun«, sagte Müller.
»Warum kommst du nicht jetzt auf einen Wein?«
Hätte er statt Wein Kaffee gesagt, wäre ein Treffen nicht möglich gewesen. Wein bedeutete freie Bahn.
Achmeds Englisch wurde immer besser. Er hatte Müller gebeten, nur noch auf Englisch mit ihm zu sprechen. »Ich muss üben«, hatte er ernsthaft erklärt und dann grinsend hinzugefügt: »Dein Arabisch wird in diesem Leben sowieso nicht mehr brauchbar.«
»Kein Wein. Ich muss schlafen, mein Lieber. Bis morgen früh.«
 
Wenig später lief Müller das Treppenhaus hinunter und setzte sich ins Restaurant. Er aß langsam und mit Genuss und las dazu die Financial Times.
Vom Restaurant wechselte er in die Bar und trank einen Whisky, um dem Pianisten zuzuhören, der Glenn Miller spielte und sehr schmalzig dazu sang. Der Pianist, das hatte er bei früheren Aufenthalten erfahren, stammte aus einer jüdischen Familie in Zürich und arbeitete gelegentlich für den Mossad. Sein Klavierspiel war exzellent.
Gegen elf Uhr lief er hinauf in sein Zimmer, duschte und legte sich in blauen Boxershorts auf das Bett. Er machte sich einen Plan. Er würde um neun Uhr Achmed treffen. Dann, nach etwa zwei Stunden, mit einem Taxi vier weitere Eisenwarenhandlungen aufsuchen, die er um der besseren Tarnung willen in sein Programm aufgenommen hatte. Er konnte dort stets ohne Terminabsprachen aufkreuzen.
Er seufzte leicht, als er daran dachte, dass seine Tarnfirma Iron GmbH, Hamburg, seit vier Jahren schwarze Zahlen schrieb, sich sogar eine Vollzeitsekretärin leistete, die keine Ahnung hatte, was er wirklich trieb.
Er lächelte. In Konferenzrunden pflegte er zu betonen: »Müller, selbstständig«, und erntete regelmäßig ein Grinsen. Er war nicht im Geringsten verkrampft, als er vor Mitternacht einschlief.