Zwischenspiel

 
Benno Bohnen verließ um sechs Uhr früh seine Wohnung, ging durch die Toreinfahrt zur Garage und ließ den Mercedes-Sprinter ungefähr zehn Meter nach vorn in den Hof rollen. Er war früh dran, und das war gut so, denn möglicherweise würde sein Partner Stahlmann noch in der Falle liegen und schnarchen. Weil er mal wieder die ganze Nacht in einem Buch gelesen hatte. Stahlmann machte so etwas dauernd.
Er stieg aus und schloss das Tor der Garage mit dem Schlüssel zu. Das hatten sie als Bedingung genannt: Kein automatisches Tor! Ist zu anfällig! Sie machen aus jedem Furz einen Blizzard, dachte er gut gelaunt.
Er rief mit dem Handy in der Zentrale an und flötete: »Hier ist der heiße Benno mit einer Nachricht für euch Schnarchnasen. Es ist sechs Uhr null fünf. Ihr könnt meine Ladefläche schließen, ich melde mich, wenn ich in Hamburg bin.«
Ein Mann erwiderte nicht sonderlich interessiert: »Gut, Benno. Ich nehme an, du bis gegen neun in Hamburg. Du meldest dich vom Kai. Polizei und Zoll sind verständigt. Ich schließe jetzt.«
Es klackte neben Bohnen, dann gab es ein schleifendes Geräusch, die schweren Stahlriegel schoben sich vor. Niemand, auch nicht Benno Bohnen selbst, würde jetzt in den Laderaum kommen. Obwohl noch gar keine Ladung an Bord war.
Bohnen setzte sich hinter das Steuer und pfiff »Amazing Grace«.
Er dachte an Paula, die gestern Abend endlich lächelnd zugestimmt hatte. Sie würde es sich überlegen, das mit der Hochzeit. Wäre vielleicht angebracht. Aber ihren Bratwurststand wollte sie unbedingt behalten. Weshalb auch nicht? Sie hatte gesagt: »Ich weiß ja nicht, ob ich nicht kurz nach der Hochzeit irgendwann allein herumstehe.« Mit ihrem voll ausgebauten Häuschen in der Schrebergartenanlage und mit seiner Wohnung in der Stadt wären sie so etwas wie ein komplettes Paar. Sie machte rund zweieinhalbtausend netto, er genauso viel. Da konnte doch gar nichts mehr schief gehen.
Er fühlte sie noch, wie sie vor wenigen Minuten warm und verschlafen neben ihm gelegen und sich genussvoll geräkelt hatte. Mann, konnte die sich räkeln – wie ein Kind ohne Ahnung von der Welt.
Dann geschah das Wunder des Tages: Stahlmann stand fix und fertig vor seiner Haustür und brummte vorwurfsvoll: »Du bist schon wieder vier Minuten drüber!«
»Wir sind doch kein Linienbus«, antwortete Bohnen grinsend. »Jetzt steig ein, Alter, steck uns eine Zigarette an und halt den Mund.«
Sie waren ein eingespieltes Team, fuhren seit fünfzehn Jahren zusammen Gefahrgut. Sie hatten noch nie einen Unfall gebaut und waren so etwas wie das heißeste Duo der Branche. Ihr Chef, der Inhaber einer Berliner Firma für Spezialtransporte, pflegte zu betonen: »Die haben die schärfsten Chemiebomben durch Europa gekarrt, die fahren mit zehn Gramm radioaktivem Plutonium am Arsch genauso ruhig durch die Gegend wie unsereiner mit einem alten Mercedes. Bohnen und Stahlmann sind einfach Spitze. Nerven wie Stahlseile.«
»Ruf die Zentrale, dass du drauf bist. Der Laderaum ist gesichert«, sagte Bohnen. »Ach, übrigens, ehe ich es vergesse: Kann sein, dass ich die Paula heirate. Dieses Jahr noch.«
Stahlmann sah ihn von der Seite an. »Und? Was soll ich da sagen? Herzlichen Glückwunsch? Oder: Mein Beileid? Wird Zeit, dass deine Liebeskrankheit sich legt, das ist die Hauptsache.« Schließlich grinste er und wünschte ihm: »Alles Gute, Junge.«
Dann erledigte er den Anruf. »Stahlmann. Ich bin drauf.«
»Steck uns endlich eine Zigarette an«, sagte Bohnen.
Die erste Stunde regnete es.
Bohnen nahm die A 10 im Norden Berlins und ging dann auf die A 24 direkt nach Hamburg. Er fuhr wie immer um die hundert Stundenkilometer, und inklusive einer Pinkelpause erledigten sie die rund zweihundertachtzig Kilometer in drei Stunden. Der Himmel war grau, die Fahrbahn trocken, es war angenehm zu fahren.
Außer einem normalen Fahrtenschreiber war ein zweites, für den Fahrer nicht zugängliches Aufzeichnungssystem eingebaut, das sogar Bremswege exakt aufzeichnete und das Stehen im Stau auf die Sekunde genau registrierte. Falls einer der Fahrer unterwegs eine schwere Tasche aufnahm und sich dadurch das Gewicht des Fahrzeugs veränderte, wurde auch das auf das Gramm genau aufgezeichnet.
Um 9.17 Uhr erreichten sie den Hamburger Freihafen, durften passieren und fuhren an den Kai, an dem die »Saragossa« festgemacht hatte. Das Schiff kam direkt aus Kanada, sie kannten es, weil es seit Jahren ihre Fracht transportierte. Niemals war etwas passiert, was Unruhe verbreitet hätte.
Da Bohnen und Stahlmann ein wenig zu früh dran waren, gingen sie in die Heringsbude, tranken einen Kaffee, aßen ein Fischbrötchen und sprachen gut gelaunt mit den Arbeitern, die dort Pause machten.
Um 9.45 Uhr schlenderten sie an den Kai.
Die übliche Funkstreifenbesatzung war neben ihnen aufgefahren, zwei Zollbeamte warteten schon, man kannte sich, die Szenerie war vollkommen entspannt.
Einer der Polizeibeamten fragte höflich: »Und was laden wir heute?«
Bohnen antwortete: »Vier Tennisbälle radioaktives Kobalt 60 für die Bestrahlung Krebskranker in der Hauptstadt.«
Sowohl die Polizisten als auch die Zollbeamten verlangten eine Unmenge Unterschriften und mussten selbst all die Vordrucke unterschreiben, die Stahlmann ihnen in einer Din-A4-Mappe vorlegte.
Bohnen rief die Zentrale und bat knapp: »Öffnet mir die Ladefläche.«
Es gab ein paar schabende und klickende Geräusche, dann konnte er die Hecktür öffnen.
Nach wenigen Augenblicken fuhr ein rot lackierter Gabelstapler aus der riesigen Seitenluke des Schiffes heraus, auf einer Palette vier schwere Kisten, jede einen Meter hoch und etwa achtzig Zentimeter breit mal tief.
Der Fahrer hatte wiederum eine Mappe mit Papieren bei sich, die sie alle abzeichnen mussten, die Fahrer, die Polizei, der Zoll. Dann fuhr er an das Heck des Kleinlasters, ließ die Last weit nach vorn herausragen und setzte sie behutsam mitsamt der Palette ab.
Stahlmann und Bohnen kletterten auf die Ladefläche und untersuchten jede der hölzernen Kisten, ob nicht irgendein Brett eingedrückt war oder ein Spalt klaffte. Die Kisten zeigten keinerlei äußere Beschädigung.
Dann kam einer der Zollbeamten mit dem »Piepser«, um zu kontrollieren, wie viel Strahlung austrat. Das Gerät jaulte laut auf, zeigte jedoch einen akzeptablen Wert.
Bei Einrichtung der Sicherheitsvorschriften für den Transport radioaktiven Materials hatte die Bundesrepublik Deutschland alle Handelspartner an den Rand des Wahnsinns getrieben, weil ihre Forderungen nach aktiver wie passiver Sicherheit dieser Kisten an behördliche Hysterie grenzten.
Die Kisten enthielten einen starkwandigen Bleikern, in dem das tennisballgroße, tödlich strahlende Metall-Ei auf einer weichen Polsterung ruhte. Um diesen Bleikern war eine massive Blechkanne geformt, deren Öffnung sicherheitshalber verlötet war. Die Blechkanne wurde dann in genau passende Styroporformen gezwängt, die dreifach gelegt waren. Um diesen Kunststoff herum war eine Holzkiste von millimetergenau vorgeschriebener Größe gebaut. Um sicherzugehen, dass eine solche Ladung auch bei schwersten Unfällen dicht blieb, wurde die Kiste von einem Kran auf achtzehn Meter Höhe gehievt und dann auf Beton, auf Wasser, auf Erdreich fallen gelassen, bis Beschädigungen nicht einmal mehr dann auftraten, wenn die immer gleiche Kiste zwanzigmal aus achtzehn Metern Höhe gefallen war.
»Kann los!«, entschied der Zollbeamte. »Bis zum nächsten Mal, Jungs.«
Stahlmann nickte. Er würde den Rückweg fahren.
Sie waren so aufeinander eingespielt, dass sie sogar die gleiche Pinkelpause benötigten. Als einmal Bohnen einen wässrigen Durchfall hatte und häufiger eine Toilette in Anspruch nehmen musste, waren sie ganz aus dem Konzept geraten und hatten sich noch wochenlang über die »Tour de la Kack« erheitert.
Auf Hamburger Gebiet ging es langsam, aber stetig voran, und Bohnen ließ sich genussvoll darüber aus, dass er in Zukunft eine Sommer- und eine Winterwohnung haben würde.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön Sex ist, wenn draußen der Wind durch die Pfirsichbäume weht.«
»Gott steh mir bei!«, kommentierte Stahlmann. »So ein Schweinkram!«
Der Himmel war hellgrau, die Fahrbahn trocken, sie rollten dahin.
»Und was ist mit deiner Trude?«, fragte Bohnen.
»Sie heißt nicht mehr Trude«, entgegnete Stahlmann. »Die Gegenwärtige heißt Swetlana und ist so feurig, wie man es nach der Lektüre russischer Romane erwartet.«
Zuweilen machte Stahlmann so geschraubte Bemerkungen, und Bohnen nahm es nicht übel, weil er wusste, dass Stahlmann vor vielen Jahren begonnen hatte, Germanistik zu studieren. Bis sein Vater plötzlich gestorben war, was alle Hoffnungen zunichte machte. Jetzt pflegte er seine bettlägerige Mutter und hatte einmal kommentiert: »Ich lass die alte Dame nicht im Stich. Und so lange will ich keine feste Frau.«
Anfangs war Bohnen verwirrt gewesen über die hohen, prall gefüllten Bücherregale in Stahlmanns Wohnung, und der schweigsame Stahlmann war anfangs auch nicht bereit gewesen, irgendetwas zu erklären. Ganz langsam, tropfenweise hatte er dann von seinem Lebensweg berichtet. Jetzt hatte Bohnen dem Freund sogar eine komplette Lichtenberg-Ausgabe zum letzten Geburtstag geschenkt, mit der seiner Meinung nach witzigen Bemerkung, er habe vorher nie gewusst, was Bildung wirklich wert ist.
Es passierte südöstlich von Parchim, zwei Kilometer von der Ausfahrt Suckow entfernt, und alles verlief zunächst ganz unscheinbar.
Ein alter, an den Kanten verrosteter Nissan-Pkw, besetzt mit drei Männern, quetschte sich zwischen den vorausfahrenden Lastzug und Stahlmann. Das Manöver war ein wenig riskant, und Stahlmann reagierte wütend: »Dieser Blödmann!« Er bremste ab.
Auf der Rückbank des Nissan saß ein Mann, der dauernd seinen Kopf hin und her drehte. Der Kopf war vollkommen bedeckt. Dann hob der Mann seine rechte Hand, in der irgendetwas stumpf Blaues schimmerte.
»Wieso trägt der eine Skimaske?«, fragte Bohnen verwundert.
Stahlmanns Stimme war plötzlich hoch. »Und er hat eine Waffe. Guck mal.«
Bohnen rief: »Waffe? Das ist keine Waffe, das ist irgendwas anderes.«
»Aber es sieht aus wie eine. Und er zielt auf uns«, sagte Stahlmann entgeistert.
»Da ist doch das Glas zwischen«, sagte Stahlmann etwas ruhiger. »Aber das stimmt, er zielt auf uns.«
Der Mann auf dem Rücksitz des Nissan drehte jetzt den Kopf in Fahrtrichtung, und das waffenähnliche Instrument verschwand.
»Und er trug so etwas wie einen Riesenhandschuh«, sagte Stahlmann.
Als das Tausend-Meter-Schild der Ausfahrt kam, wurde der Nissan langsamer.
Stahlmann fluchte und wollte auf die linke Fahrbahn. Das ging aber nicht, weil dort mit gleicher Geschwindigkeit ein Kleinlaster neben ihnen herfuhr. Weiß lackiert, ohne jede Aufschrift, ein Ford Transit.
Das war vor allem deshalb merkwürdig, weil der Kleinlaster links von ihnen ebenso kontinuierlich langsamer wurde wie der Nissan vor ihnen.
In dem Kleinlaster saßen drei Männer, die neugierig zu ihnen hinüber starrten. Und auch diese Männer trugen Sturmhauben, ihre Gesichter waren unkenntlich.
»Scheiße!«, sagte Bohnen nervös, weil er etwas ahnte.
Hinter ihnen hupte ein Lkw-Fahrer wild.
»Was soll das?«, fragte Stahlmann verwirrt.
Dann blinkte der Nissan nach rechts in die Ausfahrt, und der Kleinlaster blinkte ebenfalls und drängte Stahlmann rüde nach rechts.
Atemlose Sekunden folgten.
»Mach keinen Scheiß, geh mit!« forderte Bohnen. »Sie kommen sowieso nicht rein.«
»Hinter uns ist noch so ein Arsch, so ein Transporter«, sagte Stahlmann nervös. »Ich bin mir sicher, der gehört auch dazu.« Er zog nach rechts in die Ausfahrt hinter dem Nissan her.
»Jetzt Gas und geradeaus wieder drauf!«, schrie Bohnen.
Stahlmann wollte genau das tun, aber der Kleinlaster links von ihnen schob sich unter grellem Schleifen der Bordwände an ihnen vorbei und stellte sich quer, sodass sie die Ausfahrt nehmen mussten und nicht erneut die Autobahn erreichen konnten.
»Das ist die B 321«, stellte Stahlmann fest. »Was wollen die denn?«
»Wir rufen jetzt«, bestimmte Bohnen.
Er nahm sein Handy, drückte zwei Knöpfe und sagte ohne Übergang: »Wir werden überfallen. A 24 Richtung Berlin auf der Höhe Suckow, wiederhole Ausfahrt Suckow, an der Ausfahrt zur B 321.«
Keine Antwort.
»Junge, tu was!«, schrie Bohnen. »Mayday, Mayday!«
Die Verbindung riss ab, Bohnen hörte nur noch ein Rauschen. Der Nissan fuhr betulich langsam nach links in Richtung Parchim, Stahlmann musste folgen, denn einer der Kleinlaster hinter ihnen zog rechts vorbei und blockierte die Bundesstraße in diese Richtung.
Stahlmann spürte sekundenlang den Wunsch, der auf der Bundesstraße herrschende Verkehr könnte den Kontakt zu dem Nissan vor ihnen unterbrechen. Aber auf der Bundesstraße gab es keinen Verkehr, nicht ein einziges Fahrzeug.
»Diese Sauhunde!«, rief Stahlmann. »Und jetzt?«
»Ich weiß nicht. Sie kommen ja nicht rein«, sagte Bohnen. Er wusste, dass er hilflos klang, und schon das machte ihn wütend.
»Hau das Blaulicht raus!«, befahl Stahlmann. »Raus damit!«
Bohnen ließ das Fenster hinuntergleiten und setzte das Blaulicht schräg auf das Dach. Dann schloss er die Scheibe wieder.
Sie rollten jetzt hinter dem Nissan her, das Blaulicht warf Blitze.
Dann peitschte von hinten eine Serie von Schüssen, es knallte mörderisch auf dem Blech, das Flackern des Blaulichts erlosch.
Der Nissan vor ihnen zog nicht mehr als dreihundert oder vierhundert Meter die Bundesstraße in Richtung Parchim entlang, dann setzte er die Warnblinkleuchte, glitt rechts an den Straßenrand.
»Gib Vollgas!«, forderte Bohnen.
Aber genau das konnte Stahlmann nicht mehr tun.
Der erste Transporter hinter ihnen verhinderte das. Er schoss so schnell und eng vor sie, dass er ihren linken Rückspiegel abriss. Es gab einen hell explodierenden Laut wie einen Schuss. Dann standen sie.
Stahlmann sah nach links. Er war von dem Beifahrer im Kleinlaster nicht weiter als fünfzig Zentimeter entfernt.
»Du Blödhammel!«, schrie Stahlmann entnervt.
Aber der Mann war vermummt, blickte nur nichts sagend und rutschte dann nach links, um aus dem Wagen herauszukommen.
Drei Männer kamen die wenigen Schritte bis vor den Wagen und hatten Waffen in den Händen. Das waren die Männer aus dem Nissan. Drei weitere waren aus dem Kleinlaster links von ihnen gestiegen. Sie alle trugen schwere dunkelgraue Waffen quer vor dem Bauch.
Stahlmann dachte: Es sind UZIs oder Kalaschnikows, ich weiß es nicht. Wieso ist hier kein Verkehr, wieso kommt denn keiner vorbei?
Dann knallte es über ihnen, ihr Auto wirkte wie das Innere einer großen Trommel. Es knackte vernehmlich, darauf folgten erneut dröhnende Schritte. Jemand ging auf ihrem Fahrzeugdach herum.
»Schick den automatischen Notruf!«, sagte Bohnen heiser. »Sie orten uns über GPS.«
»Wieso kommt hier keiner?«, fragte Stahlmann verwirrt. »Kein Mensch fährt hier.« Er drückte einen Knopf am Armaturenbrett.
Eigentlich hätte eine grüne Lampe aufblinken müssen.
»Das funktioniert nicht.« Bohnen war fassungslos. »Das kann nicht sein.«
Stahlmann knurrte: »Die werden sich wundern. So einfach läuft das nicht.«
Die sechs Männer vor ihnen führten einen seltsamen Tanz auf. Sie waren alle vermummt, trugen alle Jeans und dunkelblaue Sweatshirts. Alle sechs schauten sich an, glitten ein wenig auseinander, als wollten sie dem Nachbarn artig »Bitte, nach Ihnen!« sagen. Dann bauten sie sich auf wie ein Erschießungskommando und begannen übergangslos zu feuern.
Selbstverständlich war der Kleinlaster gepanzert, selbstverständlich hielten auch die Scheiben stand. Aber die Scheiben sprangen und waren in Sekunden vollkommen blind, zerrissen von irrlichternden Sprüngen.
»Heilige Scheiße!«, hauchte Bohnen.
»Sie kommen nicht rein«, sagte Stahlmann atemlos, als sei er Kilometer gelaufen. Es klang wie ein Gebet.
Dann war es sehr still, nur der eigene Motor war zu hören.
»Wieso kommt die Zentrale nicht über Funk?«, fragte Stahlmann. Er starrte auf das Funkgerät. Das kleine grüne Licht rechts zeigte an, dass das Gerät eingeschaltet war. Aber niemand sagte etwas.
Schemen huschten draußen vorbei, vollkommen verzerrt durch die gesprungenen Scheiben.
Wieder war jemand auf dem Dach. Es gab Schritte, hin und her, es dröhnte.
Stahlmann schaltete den Motor aus.
Keiner der Männer draußen sagte irgendetwas. Sie waren vollkommen still, was immer sie taten, sie taten es lautlos.
Bohnen griff erneut nach seinem Handy. Er drückte irgendeine Taste, er sagte verblüfft: »Da tut sich überhaupt nichts.«
Stahlmann kommentierte wütend: »Das kann gar nicht sein«, griff nach seinem Handy, drückte Tasten, murmelte: »Das geht auch nicht.«
Dann hörten sie, wie die Stahlriegel der Ladefläche zurückglitten.
Stahlmann hauchte ungläubig: »Die sind drin.«
Bohnen antwortete: »Red jetzt keinen Scheiß.« Stahlmann wiederholte: »Die sind drin.« Dann beugte er sich weit nach vorn, als habe er rasende Kopfschmerzen. Er legte die Stirn auf das Lenkrad, er murmelte zittrig: »Ich mach jetzt die Verriegelung auf. Ich will die sehen.«
Bohnen schwieg.
Stahlmann drückte auf den Knopf der Zentralverriegelung und sagte verblüfft: »Wir sind schon offen.«
Bohnen murmelte: »Na, denn.«
Er öffnete langsam die Tür und blickte nach rechts.
Da stand ein Mann in der Sturmhaube, und er hielt eine Kalaschnikow im Anschlag.
Bohnen hob die Hände und sagte zittrig: »Ich steige aus.«
Der Mann bewegte sich kaum, machte nur eine knappe, wischende Geste mit der Waffe.
Bohnen nahm das als Aufforderung und tastete mit dem rechten Schuh nach der Stufe im Ausstieg. Er fand sie, drehte sich leicht nach rechts und stieg aus. Er sah im äußersten Winkel seines Blickfeldes, dass auch Stahlmann ausstieg. Er drehte den Körper nach rechts, um nach hinten zum Heck des Wagens zu gehen, aber der Vermummte machte eine unwillige Geste mit der Maschinenpistole, und Bohnen blieb einfach stehen und bewegte sich nicht mehr.
Er hörte, wie Stahlmann brüllte: »Was soll der Scheiß hier?«, und dann gab es ein scharfes, klatschendes Geräusch. Irgendetwas schlug dumpf gegen das Blech der Ladefläche.
Bohnen riskierte einen Blick, indem er den Kopf nach links drehte, um durch das Fahrerhaus etwas von Stahlmann zu sehen. Aber der Vermummte ihm gegenüber war nicht damit einverstanden. Er schoss sofort. Er schoss irgendwohin, und Bohnen dachte fassungslos eine halbe Sekunde lang: Ich kriege keine Luft mehr. Er fühlte in seinem Körper nach, ob er getroffen sein könnte. Aber da war nichts. Eine panische Angst stieg in ihm auf, seine Beine könnten unter ihm einknicken. Er schien zu wackeln, aber nichts passierte, er blieb stehen.
Dann sah er den Rückspiegel unmittelbar vor seinem Gesicht. Der Spiegel war stark abgeknickt, er war von den Schüssen getroffen worden. Er zeigte auf der halben Breite etwas vom Dach des Wagens. Sie hatten zuerst die Funkantenne abgebrochen, erkannte Bohnen. Aber wieso hatten die Handys nicht funktioniert? So etwas gab es doch gar nicht.
Dann löste Bohnen sich quälend von diesen sinnlosen Überlegungen, machte einen Schritt nach vorn, um aus der Enge neben der Tür herauszukommen, und fragte laut: »Stahlmann?«
Der Vermummte schoss erneut sofort. Er schoss in den Boden zu Bohnens Füßen.
Das ist gar nicht so laut wie in den Filmen, dachte Bohnen. Er fragte noch einmal: »Stahlmann?«
Der Vermummte vor ihm machte einen schnellen Schritt nach vorn, hob die Waffe, legte sie sich quer vor den Bauch, und dann kam der eiserne Kolben hoch und traf ihn im Gesicht.
Bohnen war sofort bewusstlos.
Stahlmann lag neben dem Wagen mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt und kam ganz langsam wieder zu sich. Er spürte Blut im Gesicht, es war warm und schmeckte süßlich.
»Bohnen!«, nuschelte er.
Dann hob er den Kopf und sah die Autos und die Bundesstraße entlang. Wieso fährt hier niemand?
Anfangs konnte er einige Sekunden lang nicht genau sehen, die Bilder zeigten sich doppelt. Das machte ihm Angst. Aber er konnte erkennen, dass jeweils zwei der vermummten Männer eine Kiste trugen und sie hinten auf den zweiten Kleinlaster luden.
Und einer der Vermummten stand abseits auf der Fahrbahn der Bundesstraße, weniger als fünf Meter von Stahlmann entfernt, und hielt einen Laptop auf den weit gespreizten Fingern der linken Hand. Er wirkte grotesk wie ein Kellner mit einem Tablett, und er erweckte den Eindruck, als mache er so etwas öfter, als sei er das gewohnt.
»Scheiße!«, sagte Stahlmann heftig, obwohl er normalerweise nicht zu Kraftausdrücken neigte.
Dann musste er sich quälend und schmerzhaft übergeben und legte den Kopf zur Seite, weil das so peinlich und ekelhaft war.
Aus dieser Position sah er unter dem Fahrzeug hindurch Bohnen. Und neben Bohnen zwei Beine in Jeans und Sportschuhen.
Bohnens Gesicht war in ein erschreckendes Farbengemisch getaucht.
»Mein Gott!«, stöhnte Stahlmann. Er dachte: Das ist ein Horrorgesicht! Das sieht so aus wie tot.
Dann schlug Bohnen die Augen auf.
»Bohnen«, fragte Stahlmann krächzend. »Was ist?«
Bohnen wirkte erstaunlicherweise klar. »Das sind doch Selbstmörder«, sagte er unter dem Fahrzeug hindurch. »Die krepieren doch.«
Sein Gesicht hatte in einer schlammigen Pfütze gelegen. Zusammen mit dem Blut gab das einen scheußlichen Anblick.
»Beweg dich nicht«, murmelte Stahlmann. Dann hob er unter Schmerzen den Kopf ein wenig hoch. »Die sind fertig, die haben abgeladen«, sagte er. »Kannst du aufstehen?«
»Vielleicht«, sagte Bohnen undeutlich.
Aber sie konnten sich nicht aufrichten, sie kamen zu keiner Bewegung mehr.
Der Mann neben Bohnen schoss vollkommen ungerührt erst Bohnen durch die rechte Kniekehle, kam dann mit wenigen, schnellen Schritten um das Fahrzeug herum und machte dasselbe bei Stahlmann.
Es war genau 11.38 Uhr, wie wenig später aus dem internen zweiten Überwachungssystem des Transporters hervorging.
 
 
 
 
Karl Müller machte sich eine Liste mit den Dingen, die er einkaufen wollte. Da stand: für Karen Blumen ins Hotel, nach Teppichboden gucken, Spray gegen Pilzbefall, möglicherweise auch Teppichschaum, blühende Blumen! Zwei, drei Bäume Grünzeug, möglichst groß, oder Ähnliches. Nach einem billigen, kleinen Fernseher schauen. Ein paar Konserven wie Erbsen- und Linsensuppe, ein paar Sachen zum Spielen für A. M.
Dann starrte er seine Gardinen vor dem Fenster an. Es war weitmaschiger, netzartiger, ehemals weißer Stoff, nun vergilbt, der sich fettig anfühlte. Also schrieb er: Vorhänge! Und machte sich daran, die Größe auszumessen.
Um 8.16 Uhr meldete sich sein Handy.
Melanie sagte atemlos: »Guten Morgen. Ich habe nachgedacht, ich gehe heute nicht arbeiten. Ich kann das einfach nicht. Und ich muss mit dir reden.«
Plötzlich fühlte Müller eine wilde, überbordende Freude.
»Das können wir doch«, sagte er mit einem Kloß im Hals. »Ich muss nur abwarten, was heute im Büro anliegt. Das weiß ich erst in einer Stunde. Ich rufe dich an.«
»Das … das passt mir«, entgegnete sie knapp und unterbrach die Verbindung.
Drei Minuten später kam ein Anruf seiner Mutter.
Sie sagte tonlos und hohl: »Papa ist nicht mehr.«
Er wusste nichts zu antworten, er hatte keine Sprache mehr.
»Junge? Junge, bist du noch da?«
»Ja, ich bin da. Bist du im Krankenhaus?«
»Ja.«
»Ich komme hin.«
Er rief das Geschäftszimmer im Amt an und bat, Krause vom Tod seines Vaters zu unterrichten. Routinemäßig setzte er hinzu: »Ich bin ständig erreichbar.«
Dann überfiel ihn ein jähes Zittern, und er setzte sich auf den scheußlichen rosafarbenen Sessel. Er war unfähig zu weinen oder seiner Trauer einen anderen Ausdruck zu geben. Er fühlte sich erstarrt.
Er fuhr wie betrunken, und er konnte sich später an keine Einzelheiten seines Weges erinnern. Zum Beispiel wusste er nicht mehr, wie er über verschiedene stark befahrene Kreuzungen gekommen war.
Auf der Intensivstation fand er ein merkwürdiges Bild vor. Seine Mutter saß auf diesem Stuhl, der immer schon wie festgenagelt neben diesem Bett gestanden hatte. Nur das Bett war nicht mehr da. Einige der Geräte blinkten noch, durchsichtige Plastikschläuche hingen nutzlos herum.
Seine Mutter schaute zu ihm auf und flüsterte: »Sie haben ihn weggebracht. Sie brauchen das Bett, verstehst du?«
»Ja, natürlich.« Müller nickte.
Hinter ihnen war die Schwester mit dem Protesthaar. Sie murmelte: »Mein Beileid. Ihr Beerdigungsunternehmer wird alles Weitere veranlassen. Sie brauchen ihn nur anzurufen. Diese Leute sind sehr professionell und erledigen auch sämtliche Papiere.«
»Wie ist er denn gestorben?«, fragte Müller.
Die Schwester antwortete schnell und ohne eine Sekunde der Überlegung: »Ihr Vater ist ganz still gegangen. Er hatte keine Schmerzen, er ist einfach entschlafen, ohne zu leiden.«
»Und die Todeszeit? Nicht, dass es wichtig wäre, aber …«
»Die Todeszeit war sieben Uhr, die Todesursache die Folgen des Schlaganfalls. Das bekommen Sie selbstverständlich mit den Papieren.«
»Ja«, murmelte Müller. »Wir gehen dann.«
Er sah das Paket mit den Papiertaschentüchern auf dem Beistelltisch und steckte es ein, als sei es ein bemerkenswertes Überbleibsel.
»Dann wollen wir gehen«, sagte er.
Er fuhr mit seiner Mutter in sein Elternhaus, und sie sprachen unterwegs kein Wort miteinander. Sie weinten nicht, es war, als habe die Welt einen Moment lang ihre Geschäftigkeit angehalten und als hätten sie zu warten, bis die Nachricht ihre Seelen erreicht hatte.
Dann geschah etwas, was Müller erstaunte.
Seine Mutter stieg aus, ging sehr aufrecht durch den Vorgarten, schloss die Haustür auf und sagte fast burschikos in der offenen Tür: »Ich koche uns erst einmal einen starken Kaffee, Junge.«
»Das Leben geht weiter, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie lächelnd. »Es ist ganz einfach, es geht weiter.« Mit diesen Worten verschwand sie in der Küche.
Müller ging in das Arbeitszimmer seines Vaters und sah sich aufmerksam um. In diesem Raum hatte sich seit dreißig Jahren nichts verändert, wie immer roch es muffig.
Müller rief seine Frau an.
»Mein Vater ist eben gestorben. Kannst du bitte hierher zu meiner Mutter kommen?«
»Und Anna-Maria?«
»Die bringst du selbstverständlich mit.«
Er erwartete Widerworte, Erschrecken, Widerstreben. Aber sie sagte nur: »Wir kommen.«
»Wie heißt der Beerdigungsunternehmer?«, fragte er laut. »Der in der Masurenallee.«
»Rentsch«, rief seine Mutter aus der Küche. »Rentsch heißt der. Ein sehr solider Betrieb. Wir müssen uns auch um eine Todesanzeige kümmern und so etwas.«
»Das macht dann dieser Rentsch«, sagte er. »Hast du irgendetwas zu essen? Ich habe noch nichts gegessen.«
»Ich mach dir ein Brot«, rief sie.
Müller begann zu telefonieren, und er war dankbar für diese Aufgabe, denn sie lenkte ihn ein wenig ab.
Wenig später kam die Mutter mit einem Brot und einem Becher Kaffee zu ihm und stellte beides vor ihn hin.
»Und wer redet mit seinen Brüdern?«, fragte sie fast angriffslustig.
»Das mache ich«, erwiderte Müller, der selbstverständlich aus langer Erfahrung wusste, dass seine Mutter die beiden Brüder des Vaters nie gemocht, sie manchmal sogar gehasst hatte. Er wusste nicht, warum dieser Hass aufgekommen war, er wusste nur, dass sein Vater sich darüber aufgeregt und seiner Mutter scharfe Vorwürfe gemacht hatte.
»Sag mal, hat er eigentlich ein Testament aufgesetzt?«
»Ja«, antwortete sie. »Es liegt da im Schreibtisch rechts in der dritten Schublade von oben. Und ich weiß, was drin steht. Ich erbe alles mit Ausnahme der Bücher. Die sollst du kriegen. Oder du kannst dir aussuchen, welche du haben willst. Das haben wir uns so ausgedacht.« Sie wirkte sachlich und erstaunlich heiter.
»Was soll ich mit so vielen Büchern? Du lieber Himmel, dann muss ich ein Haus um die Bücher bauen.«
»Na ja, du kannst auch dieses Haus haben.« Sie lächelte matt. »Du kannst es mir abkaufen.«
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Müller verblüfft.
»Doch, doch«, antwortete seine Mutter. Dann setzte sie sich in den Schaukelstuhl ihres Mannes, der dicht vor den Fenstertüren zum Garten stand, und erklärte ihrem Sohn mit weit ausholenden Handbewegungen: »Weißt du, ich habe jede Nacht, die er im Krankenhaus verbracht hat, hier in diesem Stuhl gesessen. Ich konnte nicht schlafen, in meinem Alter braucht man das nicht mehr. Ich habe kein Licht angemacht, Licht stört dann nur. Ich habe überlegt, was ich mit meinem Leben anfange. Und ich habe gedacht: Ich will dieses verdammte Haus loswerden, ich will hier nur so lange bleiben, wie es unbedingt sein muss. Ich will es verkaufen, und dann will ich irgendwohin, wo ich in Ruhe überlegen kann, wo und wie ich leben will. Verstehst du?«
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Das kommt überraschend. Das hört sich so an, als … Na ja, hat er dich etwa eingesperrt?«
»Hat er!«, sagte sie. »Aber er hat es natürlich nicht gewusst. Er hat mich überhaupt vergessen in den letzten Jahren. Weißt du, wenn du vierzig Jahre lang deinen Urlaub entweder an der Nordsee oder im Schwarzwald zu verbringen hast, fragst du dich natürlich, was du für ihn bist. Eine Ehefrau oder ein Gegenstand der ständigen Einrichtung um ihn herum.«
Müller sagte: »Das habe ich nicht gewusst.« »Das musst du ja auch nicht, mein Junge. Das musst du wirklich nicht.« Damit stand sie auf und ging hinaus.
Müller hätte sie gern etwas gefragt. Ob sie zum Beispiel erleichtert sei über den Tod seines Vaters. Aber da er die Antwort zu kennen glaubte, schwieg er und telefonierte stattdessen weiter, wobei es ihm schwer fiel, sich auf nüchterne Vorgänge zu konzentrieren. Flüchtig kam ihm in den Sinn, dass seine Mutter schon genug über den elenden Zustand und den Tod seines Vaters geweint hatte. Vielleicht gab es eine zuversichtliche Gelassenheit jenseits der Tränen, vielleicht hatte sie diese Gelassenheit erreicht und verdient. Aber er konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass seine Mutter ein wenig zu triumphieren schien.
Sie hat überlebt, dachte er verblüfft, sie ist eine echte Überlebende!
Dann schellte der Beerdigungsunternehmer, und Müller hörte ihm geduldig zu, was zu tun sei. Er unterschrieb zahllose Formulare.
Als der Mann ging, gab er Melanie die Klinke in die Hand, die mit Anna-Maria ein wenig verloren vor dem Haus in der Sonne stand.
»Mein kleiner Liebling«, rief seine Mutter übertrieben und ging in die Knie, um die Kleine an ihr Herz zu drücken.
Müller verschwand schnell im Arbeitszimmer seines Vaters, um Vordrucke auszufüllen und gewisse Einzelheiten der Versicherungen seines Vaters abzuklären, mit der Bank zu sprechen, eine Liste all der Leute zusammenzustellen, die eine Todesanzeige zu bekommen hatten. Schnell saß er vor einem Wust an Unterlagen, die er im Minutentakt anders ordnete, durch Telefonate klärte, mit Fragezeichen versah.
Dann meldete sich Krause.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Schlecht«, antwortete Müller.
»Es ist schwierig, mit dem Tod des Vaters umzugehen, weil man plötzlich begreift, wie wenig man gewusst hat.«
»Ja«, sagte er.
»Ich melde mich, wenn ich Sie brauche.«
Müller fühlte sich beengt, er stieß die Türen zum Garten auf und ging auf dem Rasen hin und her.
Das Eichhörnchen, das seit drei Jahren in der hohen Weißtanne hauste, kam am Stamm herunter, lief über den Rasen, stellte sich auf und sah zu ihm hin. Sein Vater hatte es Oswald getauft.
Rechts neben ihm hatte seine Mutter ein großes Beet Kornblumen gepflanzt. Sie hatte jedes Mal darum kämpfen müssen, welche Farbe in welchem Beet vorzuherrschen hatte. Der Vater hatte lächelnd gemeint, sie habe keine Ahnung von Landschaftsarchitektur. Sie hatte kläglich erwidert: »Ich dachte doch nur an blühende Blumen.«
Er ging wieder hinein, setzte sich in den Bürostuhl und fand, dass seine Mutter finanziell bestens abgesichert war, dass alles, was er erledigen konnte, auf einem guten Weg war und dass sie jetzt nur zu warten hatten auf das, was man so Beerdigung nannte.
Anna-Maria öffnete die Tür mit einem Knall. Sie wollte etwas sagen, aber Melanie war plötzlich hinter ihr und zischte: »Papa macht etwas Wichtiges, Papa braucht jetzt Ruhe.« Dann schloss sie die Tür geräuschlos.
Müller begann ohne großes Interesse, den Schreibtisch seines Vaters zu durchsuchen. Er fand das Testament in einem verschlossenen Umschlag und öffnete es nicht. Er fand all den Krimskrams, der sich in einem Lehrerleben ansammelt, unendliche Mengen von Kugelschreibern, Füllfederhaltern und Bleistiften und kleine Glasgefäße mit roter Tinte. Er fand eine Menge persönlicher Briefe, Mappen mit Unterlagen über Themen, die seinen Vater gefesselt hatten. Er fand große Mengen von Dias, die der Vater in den Ferien gemacht hatte, eine Reihe von Fotoalben mit meist langweiligen Fotos, die nichts besagten, die nicht einmal irgendeine Besonderheit hatten, die immer nur die Mutter und ihn zeigten. Er fand sehr viele dünne Pappmappen in allen Farben, die irgendwelche schulischen Dokumente und Kopien irgendwelcher Vorgänge enthielten, die todsicher inzwischen ohne jede Bedeutung waren. Es war ein sehr großer Schreibtisch, und er enthielt ein ganzes Leben.
Als er ganz unten rechts im hintersten Winkel der untersten Schublade das dicke Heft mit den farbigen Pornofotos entdeckte, schloss er die Augen und dachte, dass das an Trivialität nicht zu überbieten sei. Er schlug eine Seite auf, die eine Frau zeigte, die breitbeinig zur Kamera saß und sich mit beiden Händen genussvoll lächelnd die Vulva spreizte.
Eine Sekunde lang überfiel ihn panisch der Gedanke, dass er diese Wichsvorlage seines Vaters schleunigst vernichten sollte. Aber im gleichen Augenblick wusste er, dass seine Mutter dieses Magazin längst gefunden hatte. Er fragte sich verwirrt, weshalb sie es im Schreibtisch gelassen hatte. Damit der Sohn es fand? So viel schien ihm sicher: Er würde sie niemals fragen. Er legte das Heft an die alte Stelle.
Seine Mutter kam herein und sagte: »Wir wollen einen Happen essen.«
»Das ist gut«, antwortete er.
Melanie konnte mit der Trauer anderer Menschen nicht umgehen, weil sie selbst wohl keine empfand. Sie wies ununterbrochen die kleine Anna-Maria zurecht, die lebhaft und aufgedreht wissen wollte, wo der Opa denn jetzt wäre und ob Tod so etwas wie Verschwinden wäre oder so etwas wie weggefahren oder so etwas wie weg sein auf ewig bis nächste Woche.
»Lass sie doch«, sagte Müller. »Sie wird damit klarkommen, wenn wir ihr sagen, dass Tod zum Leben gehört.«
»Es ist so, mein Liebes«, erklärte seine Mutter. »Wir sterben alle einmal, und der Opa ist jetzt für immer fort.«
Anna-Maria weinte und stellte wütend fest: »Das will ich nicht.« Dann war sie verwirrt, stand auf und ging in das Wohnzimmer, um Bilderbücher anzuschauen.
»Sie rafft das einfach nicht«, sagte Melanie seufzend.
»Sie wird es lernen«, entgegnete Müller. »Sie muss es lernen, wir alle müssen das lernen.« Dann wandte er sich an seine Mutter. »Ich bin klar mit allen Unterlagen. Gleich werden die Drucksachen geliefert, wir können sie dann fertig machen und aufgeben.«
»Das mache ich. Ich muss bei einigen ja noch ein paar zusätzliche Zeilen schreiben. Und du? Musst du nicht in den Dienst?«
»Ich bin in Bereitschaft, ich kann dir helfen. Aber ich möchte auch noch mit Melanie reden. Ich brauche ein paar Sachen aus unserem Haus.«
»Dann macht das jetzt, das ist doch wichtig.« Müllers Mutter lächelte flüchtig und unsicher und ging dann zu dem Kind hinüber.
 
Müller und Melanie gingen in den Garten auf die Bank unter der Hängebirke.
»Kommst du klar, hast du eine Bleibe?«, fragte sie und sah ihn nicht an.
»Ja, alles klar«, murmelte er. »Ich finde es gut, dass du reden willst.«
Sie sagte kühl: »Das müssen wir wohl. Ich will alles glatt ziehen, damit es keine Missverständnisse gibt. Du willst dich ja wohl schleunigst scheiden lassen.«
»Das will ich nicht«, sagte er verblüfft. »Wie kommst du darauf?«
»Bei Birte war das auch so. Ihr Mann hat gesagt, dass er sich auf Probe trennt, und dann kam nach vier Tagen ein Brief von einem Anwalt.«
»Ich bin aber nicht Birtes Mann«, fauchte er in jähem Ärger.
Sie schwieg eine Weile und stellte dann kühl fest: »So läuft das aber doch immer.«
Es ist ein geschäftlicher Vorgang, dachte er verblüfft. Es ist nichts als eine kleine Akte auf dem Schreibtisch, die man abarbeitet. Sie will nicht um uns kämpfen, sie will nur sich selbst ordnen, aufstellen für ein neues Leben.
»Was willst du?«, fragte er.
»Ich will nur sagen, dass ich alles bedacht habe. Ich habe auch schon ausgerechnet, was du für Anna-Maria monatlich zahlen musst. Und ich habe rumtelefoniert, weil ich ausziehen will und woanders eine günstige Wohnung für uns finden muss. Das Haus ist mir zu teuer und zu groß. Ich brauche das nicht. Ich habe alles aufgeschrieben. Wo soll ich es hinschicken?«
»Schick es hierher.«
»Damit deine Mutter es liest?«
»Sie weiß es schon, also kann sie es auch lesen.«
Sie ordnet, sie zieht glatt, sie macht eine Bilanz und steigt in die neue Phase ein, dachte Müller. So einfach ist das.
»Ich habe noch jede Menge Sachen im Haus. Einiges davon brauche ich«, sagte er mit trockenem Mund.
»Ja, gut. Ich stell dir das zusammen, und dann kannst du es abholen.«
»Wie ist das mit Anna-Maria? Ich möchte sie sehen. Wenigstens einmal pro Woche.«
»Sicher kannst du sie sehen. Wenn du in der Stadt bist. Das lässt sich einfach regeln. Wir telefonieren, und dann kannst du kommen und sie sehen.« Ihr Gesicht war weiß und voller Kanten.
»Du meinst, ich komme zu dir und sehe sie? Ich darf nicht mit ihr spazieren gehen oder so?«
»Spazieren gehen ist auch möglich. Sicher.«
Er wollte nicht mehr mit ihr reden, er hielt die Kälte nicht aus. Er sagte: »Ich gebe dir meine Telefonnummer, damit du mich erreichen kannst.«
»Ja, gut.« Dann wurde Melanie plötzlich wütend. »Ich will weg von diesem Haus. Deine Mutter behandelt mich, als wäre ich eine Schlampe. Und dann wollte ich nur noch sagen, dass ich nicht frigide bin, wie du anscheinend annimmst. Also, das bin ich einfach nicht, und du solltest das auch nicht bei deinen Kolleginnen und Kollegen rumerzählen, was Männer ja wohl immer tun. Ich hatte was mit Strothmann, dem vom Controlling, drei, vier Monate lang, fast jeden Donnerstagnachmittag, weil das terminlich gut hinkam. Ich bin ja schließlich nicht aus Eis. Nur, dass du das weißt. Und es hat mir nicht Leid getan.« Plötzlich weinte sie und sagte heftig: »Du bist ein unbeschreibliches Riesenarschloch, du hast mich total allein gelassen.« Sie stand auf und ging mit schnellen Schritten ins Haus.
Müller blieb lange Zeit sitzen, war wie betäubt. Endlich begann er zu lachen. Zuerst war es ein Glucksen, dann ein hohes Kichern, schließlich lachte er schallend und beugte sich dabei weit vor. Irgendwann weinte er, und er konnte gar nicht aufhören damit.
Auf einmal saß seine Mutter neben ihm auf der Bank, legte ihm einen Arm um die Schultern und sagte: »Ach, mein Junge, das wird schon wieder werden. Das Leben geht doch weiter, das Leben hört doch nicht auf. Ich glaube, es ist das Beste, ich schlage dir ein paar Eier in die Pfanne.«
Unvermittelt setzte sie wütend hinzu: »Vielleicht ist es ja besser so, wenn Melanie woanders lebt. Du weißt, dass Papa nie begeistert von ihr war. Vielleicht ist es besser. Und Anna-Maria ist ja nicht verloren.«
Sie gingen in das Haus zurück, und wenig später kam ein Bote mit den Drucksachen. Sie setzten sich an den Küchentisch und machten sich an die Arbeit.
 
Irgendwann schaute er auf die Uhr, es war 15.20 Uhr. Er fragte sich, was Karen tun mochte, er sehnte sich nach ihrer Stimme, ging in den Garten und rief sie an.
»Hier ist Karl«, sagte er langsam. »Ich will nur wissen, wie es dir geht.«
»Ich denke an dich. Den ganzen Tag schon. Wo steckst du?«
»Im Haus meiner Eltern. Mein Vater ist heute Morgen gestorben.« Ihre Stimme tat ihm gut, sie machte ihn ruhig.
»Oh, das ist schlimm.«
»Ja. Wie lief es bei dir?«
»Ich wollte gar nicht arbeiten, keine Leute treffen, ich war nicht richtig bei der Sache. Ich habe so gedacht … Aber hör mal, das interessiert dich doch jetzt gar nicht. Du hast doch weiß Gott andere Sorgen.«
»Ich rufe dich an, weil ich deine Stimme brauche.«
Eine Weile schwiegen sie.
»Das ist schön«, sagte sie leise. »Du sagst schöne Sachen so behutsam. Ich kann mir aussuchen, ob ich sie mag oder nicht. Weinst du?«
»Ich habe geweint, ja. Jetzt verwalte ich seinen Tod, jetzt kann ich ausweichen. Hast du schon jemanden verloren?«
»Ja, meine Mutter. Das war ganz schlimm. Wir hatten gerade beschlossen, dass sie mit mir in Frankfurt leben sollte. Sie fiel einfach um und war tot. Wir führten oft eine Art Zickenkrieg, und der fehlt mir jetzt.« Sie lachte ganz sanft.
»Und wohin verschwand Herr Swoboda?«
»Nach Australien. Er fand eine Witwe mit viel Geld.«
»Hast du ihn ausgehalten?«
»Ja, schon. Er liebte die Börse und behauptete jeden Tag, er werde am Abend ein reicher Mann sein. Und ich verdiente die Kohle, die wir brauchten, um die Miete zu zahlen.«
Müller riskierte die Frage: »Gibt es denn einen Lebensgefährten?«
»Gibt es nicht. Spätestens nach einem Monat wollen mir alle ins Geschäft reden, wissen alles besser. Einer wollte sofort mein Geschäftsführer werden, und ein anderer sagte mir nach zweiundsiebzig Stunden, mein Wissen sei schon sehr beschränkt für eine eigene geschäftliche Existenz. Und sie alle nahmen mein Geld.«
»Sie haben dich ausgenützt, oder?«
»Allerdings.« Karen lachte. »Glaubst du, du kannst heute Abend vorbeikommen?«
»Ja, irgendwie wird das gehen. Ich rufe dich an.«
Er unterbrach die Verbindung und wollte ins Haus gehen, als Krause sich meldete.
»Ich weiß, es ist nahezu zynisch. Aber ich brauche Sie eine halbe Stunde. Wir haben etwas Merkwürdiges entdeckt.«
»Ich werde gern abgelenkt, das ist schon in Ordnung«, erwiderte er.
 
 
 
 
Es war wie eine Wiederholung. Krause, wie immer gemütlich wirkend, an seinem Schreibtisch, hinter ihm Goldhändchen mit der Fernbedienung, auf der anderen Seite des Tisches Willi Sowinski.
Sie standen alle drei auf und gaben ihm die Hand. Sie murmelten: »Mein Beileid«, und Müller wollte dem verlegen ausweichen und sagte: »Es ist schon gut.«
»Wir haben etwas, was Sie erstaunen wird«, sagte Krause. »Aber Sie müssen es wissen, damit wir möglicherweise in dieser Sache weiterkommen. Hatte Achmed jemals Verbindung zu Russen?«
»Nein«, antwortete Müller. »Klar, Russen sind in Syrien, vor allem in Verbindung mit Waffenlieferungen. Auch russische Agenten sind im Lande. Aber Achmed selbst und Russen? Nie.«
»Was ist mit diesem Onkel Hussein?«, fragte Willi Sowinski.
Müller überlegte einen Augenblick. »Onkel Hussein ist ein Strippenzieher mit dem Segen von ganz oben. Ich gehe davon aus, dass er Russen kennt, Verbindungen zu ihnen hat. Aber Achmed hat niemals einen bestimmten Russen erwähnt. Daran würde ich mich erinnern.«
»Dann passen Sie jetzt mal gut auf«, sagte Krause. »Was Sie sehen, ist ein Fußgängerüberweg am Europacenter, an der Gedächtniskirche.«
»Polizeikamera?«, fragte Müller.
»Ja«, nickte Goldhändchen. »Aufgenommen heute Mittag, vierzehn Uhr fünfzig.«
Es war ein Schwarzweißvideo. Achmed war gut zu sehen in der ersten Reihe der Fußgänger, die auf Grün warteten. Dann gingen sie los. Nach einem Schritt schon drehte Achmed sich um und verharrte eine Sekunde. Links und rechts von ihm tauchten junge Männer auf, mit denen er lebhaft und offensichtlich freundschaftlich sprach. Dann drehte er den Kopf und redete zu zwei weiteren jungen Männern, die hinter ihm gingen.
»Stopp! Stehen lassen!«, sagte Krause.
Das Bild stand.
Offensichtlich waren die fünf jungen Leute gut gelaunt, sie lachten über irgendetwas. Achmed trug Jeans, Sportschuhe und ein einfaches weißes T-Shirt ohne Aufdruck. Die Kleidung der anderen Männer war ähnlich einfach. Allerdings fiel bei ihnen auf, dass sie schwere Halsketten trugen.
»Kenne ich nicht«, sagte Müller. »Keinen von ihnen. Nie gesehen.«
»Das glaube ich«, entgegnete Sowinski.
»Es sind Russen«, erklärte Krause. »Aber ganz besondere Russen. Es sind Mitglieder der Dolgoprudnenskaya-Gruppe. Nennen wir sie Dolgos, damit wir uns nicht die Zungen zerbrechen. Prostitution, Drogenhandel, Auftragsmorde, Raubüberfälle. Die Gruppe ist groß. Man schätzt sie insgesamt auf mehr als zweihundert Mitglieder, und sie ist bekannt für besonders brutales Vorgehen. Ihr Auslandssitz Nummer eins ist Berlin.«
Eine Weile sagte niemand etwas.
»Das verwirrt mich«, kommentierte Müller. »Nein, es überwältigt mich. Achmed war für mich niemals ein Gesetzesbrecher. Was er mit diesen Leuten zu tun hat, verstehe ich nicht.«
»Nehmen wir mal Bargeld an«, bemerkte Sowinski trocken.
»Also, jemand besorgt Achmed ein gefälschtes Visum und lässt ihn über Kairo nach Berlin fliegen. Und hier bringt er ihn zusammen mit einer Hand voll der schärfsten Gangster, die man sich vorstellen kann. Lieber Karl Müller, was fällt Ihnen dazu ein?« Krause drehte seinen Stuhl leicht hin und her.
»Nichts«, antwortete Müller.
Sowinski sah ihn eindringlich an, lächelte kurz und stellte fest: »Das ist unter diesen Umständen zu akzeptieren.«
»Ich habe aber Fragen«, sagte Müller. »Ich wiederhole die Frage, wie denn Achmed von Damaskus nach Kairo gekommen ist. Und ich habe die Frage, ob man über die Dolgos die Frage klären könnte, wo zum Teufel Achmed in Berlin untergekrochen ist.«
»Frage eins können wir immer noch nicht beantworten. Unserer Meinung nach muss Achmed auf privatem Weg nach Kairo gekommen sein. Sprich: mit einer privaten Maschine. Wir haben vier Leute dran, zwei in Damaskus, zwei in Kairo, und wir beten, dass sie etwas finden.« Krause gab seinem Stuhl einen kleinen Kick nach hinten und faltete die Hände über dem Bauch. »Frage zwei. Die Dolgos sind Profis. Natürlich haben sie zum Teil hier in Berlin ihre Familien, ihre Restaurants, ihre Kneipen. Aber die haben sie nur, wenn sie auf einen Einsatz warten. Sind sie auf einem Einsatz, halten sie sich komplett fern von diesen fixen Stationen. Die vier Männer, die um Achmed herum zu sehen waren, sind außerdem vor drei Tagen noch in Moskau gewesen. Das hat unsere befreundete Bruderschaft eindeutig festgestellt. Das heißt: Sie sind von dort aus hierher in Marsch gesetzt worden, um irgendeine Sache zu drehen. Aber wir haben nicht die geringste Vorstellung, welche Sache das sein könnte. Und Sie, mein lieber Müller, müssen anscheinend von dem Gedanken Abstand nehmen, dass Achmed sauber spielt. Ich bin Sowinskis Ansicht: Achmed wurde gekauft. Aber: von wem und weswegen?«
Das grüne Telefon auf dem Tisch summte leise. Krause nahm ab, hörte zu und reichte dann den Hörer an Goldhändchen weiter: »Ihre Forschungsabteilung.«
»Ja«, sagte Goldhändchen. Dann bekam er kugelrunde Augen, beugte sich weit vor und sagte zischend: »Mitschneiden, mitschneiden! Und die Übersetzung, sofort!« Er reichte den Hörer zurück und erklärte: »Al-Dschasira sendet gerade ein Video. Sie behaupten, irgendwo in Deutschland wurde zugeschlagen. Ich muss das sehen.« Er drehte sich um und verschwand.
Eine Weile herrschte Schweigen, dann meinte Krause nachdenklich: »Ich habe den Eindruck, wir schliddern gerade in eine Krisensituation.« Er wandte sich an Müller: »Wenn Sie noch eine halbe Stunde erübrigen könnten, wäre das gut.«
Sowinski stand auf und bewegte sich zur Tür hin. »In Deutschland zuschlagen? Al-Dschasira? Ich kontaktiere mal die Bruderschaft der Gesetzeshüter.« Dann war auch er verschwunden.
»Ich bin in meinem Büro«, erklärte Müller. »Ich wäre nur dankbar, wenn ich so schnell wie möglich zu meiner Mutter zurückkehren dürfte. Sie ist jetzt so allein, und eigentlich kann ich das nicht verantworten.«
»Wir machen es anders«, sagte Krause. »Sie gehen heim und stehen Ihrer Mutter bei. Sie haben ja Recht, Junge. Und ich werde Sie über alles informieren, was hier aufläuft. Ist das gut so?«
»Ja, danke«, sagte Müller. In der Tür drehte er sich und fragte: »Soll das etwa heißen, dass diese Dinge zusammenhängen?«
»Lasset uns beten«, antwortete Krause und hielt den Kopf gesenkt, als bete er wirklich.
Es hatte leicht zu regnen begonnen, ein Sommerregen, der warm und sanft war.
Seine Mutter saß am Schreibtisch seines Vaters und hatte das Testament vor sich liegen.
»Schön, dass du kommst, Junge. Willst du es lesen?«
»Nein«, sagte er. »Vielleicht später einmal. Entschuldigung, dass ich manchmal ein paar Stunden in den Dienst muss, aber es geht nicht anders.«
»Das verstehe ich schon. Wir haben einen Termin für die Beerdigung. Übermorgen um elf. Was meinst du, würde er Orgelmusik wollen?«
»Das denke ich schon«, antwortete er. »Was ist mit dem Chor seiner Schule?«
»Ich weiß nicht, ob ich seine Kolleginnen und Kollegen wiedersehen will. Aber ich kann es ja nicht vermeiden, ein paar werden wohl kommen. Und dann ist da diese Trulla, diese junge Germanistin. Mit der hatte er mal was. Also, ich weiß ja nicht, wie weit das ging, aber das ist ja auch egal.«
»Hatte er was?«, fragte Müller verblüfft.
»Ja, ja, ich hab so getan, als würde ich nichts merken. Und er war dreißig Jahre älter, das muss man sich mal vorstellen. Und er rannte mit ihr durch den Park und hielt Händchen.« Sie stand auf. »Ich glaube, ich mache uns einen Kaffee. Und? Was hat Melanie gesagt?«
»Dass wir uns erst einmal trennen und abwarten wollen«, antwortete er. »Sie hat keine feste Vorstellung, aber sie hat schon ausgerechnet, was ich monatlich bezahlen muss.«
»Ach, du lieber Gott, ein Rosenkrieg, die Frau Banker«, murmelte sie und ging hinaus. Dann sagte sie laut aus der Küche: »Ich habe dir oben das Bett gemacht. Dann brauchst du nicht in deine neue Behausung. Was ist eigentlich eine Einraumwohnung genau?«
»Etwas Praktisches«, antwortete er.
Dann meldete sich sein Handy.
Krause sagte: »Wir haben eine echte Krise. Und weil sie mit Achmed in Verbindung stehen könnte, brauche ich Sie. Darf ich mit Ihrer Mutter reden?«
»Aber ja«, sagte er hastig und reichte den Hörer weiter.
»Ja, bitte, Müller«, sagte sie förmlich. Dann hörte sie zu und nickte sehr heftig. »Natürlich, wenn es so ist, wie Sie sagen. Er will dich noch mal, Junge.«
»Kommen Sie bitte rein«, sagte Krause. »Sie sind der Einzige, der Achmed riechen kann.«
Es war 16.55 Uhr.
 
 
 
 
Krause hatte in den Konferenzraum gebeten, weil zwölf Frauen und Männer teilnehmen mussten. Müller kam zuletzt, als alle schon saßen.
»Ging nicht schneller«, erklärte er und lächelte flüchtig in die Runde.
Willi Sowinski lächelte zurück, Goldhändchen auch. Krause nickte ihm zu und presste dabei seine Lippen aufeinander, weil es ihm sicher peinlich war, Müller zurückgeholt zu haben.
»Meine Damen und Herren«, begann Krause, »ich fürchte, wir haben eine Krisensituation, die unseren Dienst zunächst nur indirekt betrifft. Betroffen sind der Generalbundesanwalt, der Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt, das Landeskriminalamt Berlin und selbstverständlich das Bundesinnenministerium sowie die neue Behörde für Terrorismusbekämpfung. Ich habe Sie zusammengerufen, weil Sie auf Ihren jeweiligen Sektoren über große Erfahrung und Wissen verfügen. Ich denke, wir leben gegenwärtig in einer Bedrohungssituation, über deren Ausmaß wir wenig wissen. Heute ist in den Mittagsstunden ein Spezialtransporter einer Berliner Firma überfallen worden. Die beiden Fahrer transportierten vier Pakete mit radioaktivem Kobalt, Kobalt 60 genannt. Der Stoff war für Kliniken in Berlin bestimmt. Er ist zur Bestrahlung von Krebspatienten vorgesehen. Darf ich die Technik bitten, den Raub dieses Materials, soweit bekannt, zu beschreiben.«
Eine blasse, etwa vierzigjährige Frau mit langen blonden Haaren und einer randlosen Brille lächelte nervös, nickte dann und sah auf ein Blatt mit Notizen hinunter. In knappen Worten schilderte sie den Überfall. Sie fuhr fort: »Ich bin gebeten worden, mich auf die mögliche Technik dieses Raubes zu konzentrieren. Der Transporter war GPS-überwacht, die Handys der Fahrer direkt mit der Zentrale ihrer Firma in Berlin verbunden. Diese Zentrale allein konnte den Laderaum des Kleinlasters öffnen und schließen. Wir denken, dass der Raub mit einem so genannten EMI begann, einem elektromagnetischen Impuls. Beide Fahrer haben in einem ersten Verhör betont, dass ein maskierter Mann mit einer Art Waffe auf den Wagen gezielt hat. Wahrscheinlich handelte es sich um eine bei der Polizei benutzte Radarpistole. Sie sendet bei höchster Leistung einen starken elektromagnetischen Impuls aus, der das GPS gewissermaßen tötet und zugleich die Handys gebrauchsunfähig macht. Aber diese massive Störung kann ich mit einem EMI nur für einige Minuten aufrechterhalten. Anschließend muss ich damit rechnen, dass die zentrale elektronische Steuerung des gesamten Systems, die bei der Zentrale der Firma hier in Berlin ihren Sitz hat, diese Funktionen wieder aufbaut, also das GPS neu startet und die Handys wieder gebrauchsfähig macht. Genau das ist aber nicht passiert. Das heißt, dass sämtliche Türsicherungen des Kleinlasters auf null gefahren wurden, dass also sowohl das Fahrerhaus wie die Ladefläche zugänglich waren und unbegrenzt zugänglich blieben. Der Kleinlaster hatte zusätzlich eine ganz normale Funkeinrichtung an Bord. Die Antenne des Gerätes wurde bei Stillstand des Kleinlasters sofort abgebrochen. Die Täter haben sich also nicht allein auf den elektromagnetischen Impuls verlassen. Sie müssen außerdem auf uns unbekannten Wegen an die exakte Bandbreite des GPS-Signals herangekommen sein. Ebenso auf die stehenden Leitungen der Handys zur Zentrale des Spediteurs. Das kann unserer Ansicht nach nur erreicht werden, wenn jemand zum Beispiel mit einem Computer und den nötigen Kenntnissen dafür sorgt, dass die Sicherheitssysteme gestört bleiben. Ich verweise hier auf eine grundsätzliche Tatsache: Elektronische Verbindungen können tatsächlich auf null gefahren werden. Polizeibeamte haben noch eine Stunde nach dem Raub festgestellt, dass sowohl das GPS wie auch die beiden Handys der Fahrer nicht funktionierten. Zusätzlich ist festgestellt worden, dass die Bundesstraße 321, auf der der Raub vonstatten ging, in beiden Richtungen abgesperrt wurde. Angeblich von Männern, die Polizeiuniformen trugen, aber keine Polizisten waren. Die Schnelligkeit des Raubes, wir veranschlagen etwa vier Minuten und dreißig Sekunden, deutet auf eine präzise Planung hin. Beide Fahrer wurden zuerst besinnungslos geschlagen und anschließend mit einem Schuss durch die rechte Kniekehle bewegungsunfähig gemacht. Das hatte Hinrichtungscharakter und deutet auf eine ungeheure Brutalität hin. Beendet wurde der Überfall gegen elf Uhr achtunddreißig. Sämtliche verwendeten Autos der Gangster waren vorher gestohlen worden. Die vier Kisten mit dem Kobalt 60 sind seitdem spurlos verschwunden. Vom Fluchtfahrzeug der Gangster ist nichts bekannt.«
»Danke«, sagte Krause. »Natürlich fragen Sie sich, warum wir hier über diesen Fall sprechen, der doch eindeutig in die Verantwortlichkeit der Polizei und des Verfassungsschutzes fällt. Nun, wir halten die Möglichkeit für gegeben, dass eine bestimmte menschliche Quelle aus dem Nahen Osten bei diesem Überfall beteiligt war. Diese Quelle ist uns verloren gegangen und wenig später hier in Berlin eindeutig identifiziert worden. Es handelt sich um einen Mann mit außergewöhnlichen Fähigkeiten auf dem Sektor der elektronischen Medien. Er könnte auf der Bundesstraße 321 einen Laptop bedient haben. Ich lasse jetzt ein Bild dieses Mannes verteilen und bitte Sie, alle in Ihren Möglichkeiten stehenden Informationen einzuholen, um ihn zu identifizieren. Wir nennen diesen Mann jetzt Achmed. Seit etwa einer Stunde wissen wir, auf welchem Wege dieser Mann hierher nach Berlin gekommen sein könnte. Er wurde möglicherweise vom deutschen Kaufmann Helmut Breidscheid in einer Privatmaschine von Damaskus nach Kairo gebracht, dort mit einem gefälschten Visum ausgestattet und ist dann mit einer normalen Linienmaschine weiter nach Berlin geflogen. Das bedeutet nicht, dass dieser Breidscheid irgendetwas mit diesem Raub zu tun hat, aber auszuschließen ist diese Möglichkeit nicht, wenngleich wir bisher keine Motivation sehen. Ihre zweite Zielperson heißt also Breidscheid. Ferner muss ich darauf hinweisen, dass Achmed zusammen mit Mitgliedern der russischen Dolgoprudnenskaya-Gruppe gesichtet wurde.« Krause lächelte ein wenig resigniert. »Es kommt, meine Damen und Herren, etwas hinzu, was uns veranlasste, diese kleine Zusammenkunft zu arrangieren. Wir können alle Umstände dieser Begebenheiten kaum in Ruhe diskutieren und nach möglichen Folgerungen suchen, denn der Raub des radioaktiven Materials wird spätestens gegen Abend im deutschen Fernsehen in den Nachrichten zu sehen sein. Das hat damit zu tun, dass ein hoher Polizeioffizier kurz nach dem Raub des radioaktiven Materials auf der Bundesstraße 321 dort eintraf und daraus durchaus logische Schlussfolgerungen zog. Er sagte sich: Wenn die Räuber nicht genau wissen, was sie da geraubt haben, muss man sie sofort warnen, sonst sind sie wegen der Strahlung alle Todeskandidaten. Wenn sie aber diesen Raub gut geplant und durchgezogen haben, wenn sie also wissen, dass sie einen hoch radioaktiven Stoff geraubt haben, muss die Öffentlichkeit sofort davon unterrichtet werden, denn mithilfe eines solchen Stoffes kann man eine ganze Landschaft ins Unglück stürzen. Ich will hier nicht versäumen anzufügen, dass dieser Polizist seit den Mittagsstunden des heutigen Tages massive persönliche Schwierigkeiten hat und seine Karriere wohl beendet ist, denn er hat erstens nicht seine Vorgesetzten informiert und zweitens nicht die zuständige Pressestelle der Polizei. Er hat zusätzlich noch etwas veranlasst: Er kennt eine Reporterin der ARD, die im Wesentlichen für den NDR arbeitet, und hat dieser Frau sofort gesagt, was geschehen ist. Es kam also ein Fernsehteam zum Ort des Überfalls. Es kommt noch etwas hinzu: Gegen fünfzehn Uhr mitteleuropäischer Zeit hat der arabische Fernsehsender Al-Dschasira ein Video ausgestrahlt, auf dem vier vermummte Krieger in arabischer Sprache mitteilen, dass sie in Deutschland zugeschlagen haben und die Unterdrückung des Islam mit allen Mitteln bekämpfen werden, auch in dem von den USA abhängigen Deutschland. In diesem Video sieht man eine Szene, die nur auf der Bundesstraße 321 gefilmt worden sein kann. Wir dürften also, meine Damen und Herren, in wenigen Stunden eine äußerst unschöne Krisensituation haben. Ich habe Sie zusammenkommen lassen, weil ich denke, dass möglicherweise jeder von Ihnen im eigenen Fachbereich etwas zur Klärung beitragen kann. Wir haben nicht die geringste Vorstellung, was die Täter mit dem radioaktiven Kobalt vorhaben, wir wissen nur: Es sollte uns stark beunruhigen. Alle wichtigen Hinweise bitte direkt an mich. Ich danke Ihnen.«
Es gab Stühlerücken, gedämpfte Gespräche, die meisten Teilnehmer verließen den Raum schweigend.
Müller blieb sitzen, weil er durch das Gehörte verwirrt war, weil das alles zu dem Achmed, den er kannte, nicht zu passen schien, weil es unvorstellbar war, dass Achmed auf einer deutschen Bundesstraße mit ungeheurer Brutalität einen tödlichen Stoff geraubt haben sollte.
Er sah zu Krause hinüber und sagte dumpf: »Das alles will mir nicht in den Kopf. Das passt nicht zu meinem Achmed, das ist ein anderer Achmed.«
Willi Sowinski lächelte. »Ich habe schon einmal auf Bargeld verwiesen. Wir sollten das nicht außer Acht lassen.«
Sie waren jetzt allein.
»Kann es denn nicht sein, dass diese Gangster das radioaktive Zeug geklaut haben, um es schlicht wieder zu verkaufen?«, fragte Müller.
»Damit wären wir beim Bargeld«, sagte Sowinski.
»Natürlich kann so etwas hinter dem Raub stecken«, sagte Krause. »Ich habe mich einmal schlau gemacht, was die wirtschaftliche Seite der Sache angeht. Kliniken, in denen Tumore bestrahlt werden, erhalten dieses Kobalt 60 in verschiedenen Formen. Generell sind es tennisballgroße Klumpen des Metalls oder aber winzige Kügelchen etwa von der Größe, wie wir sie bei Süßstofftabletten finden. Das Teuflische für den Laien ist, dass die winzigen Kügelchen exakt die gleiche Strahlkraft haben wie die Tennisbälle. Verschiedene Bestrahlungsgeräte erfordern unterschiedliche Massen des Metalls. Im Grunde ist der Bestrahlungsvorgang einfach: Das Kobalt 60 wird in eine riesige, massive Bleihülle gepackt. Diese Hülle hat ein einziges, winziges Loch. Das Loch wird auf den zu tötenden Tumor gerichtet, um möglichst wenig gesundes Gewebe zu zerstören. Ein Kügelchen von der Größe einer Süßstofftablette kostet ungefähr vierhundert Euro, misst vier bis sechs Millimeter im Durchmesser und wiegt fünf Gramm. Hochgerechnet auf unsere vier Tennisbälle, die geraubt wurden, bedeutet das, die Räuber haben Kobalt 60 im Wert von rund hundertsechzigtausend Euro erbeutet. Aus dieser Sicht also eine wirklich lohnende Sache. Aber mich überzeugt die wirtschaftliche Motivation nicht. Denn gerade in diesem Fall taucht sofort die Frage auf, warum man dann einen Syrer unter so komplizierten Bedingungen nach Berlin holt. Mir verrät das eine weitergehende Planung. Hat Achmed eigentlich Ahnung von Physik, von Chemie, von Nuklearwissenschaften?«
»Hat er«, bestätigte Müller dumpf. »Er interessiert sich grundsätzlich für Naturwissenschaften, der Kerl hat alles drauf, was man sich wünscht. Er hat mir mal in zwanzig Minuten Einstein erklärt, und er war dabei so begeistert, dass er wirkte, als habe er die allgemeine Relativitätstheorie gerade neu erfunden. Er begründete es so: Meine Söhne werden mir Fragen stellen, und ich will niemals antworten müssen, dass ich keine Ahnung habe. Ob er über Kenntnisse verfügt, die radioaktive Stoffe betreffen, weiß ich nicht.«
»Aber es wäre sehr gut, wenn wir es genauer wüssten«, sagte Krause. »Und jetzt taucht die Frage auf, was die Gangster noch alles mit dem Kobalt 60 anstellen können.«
»Sie können erpressen«, sagte Müller schnell. »Politisch erpressen. Sie sind Terroristen.«
»Sie können eine schmutzige Bombe bauen«, fügte Sowinski hinzu. »Vor Jahren schon stand im britischen Independent, dass Nuklearwissenschaftler befürchten, Terroristen könnten radioaktive Stoffe auf eine herkömmliche Sprengladung packen und sie hochgehen lassen. Zum Beispiel Cäsium 137, das ebenfalls zur Bestrahlung benutzt wird, das aber im Vergleich zu Kobalt 60 ein geradezu harmloser Stoff ist. Da gab es üble Zwischenfälle sowohl in den USA als auch in den ehemaligen sowjetischen Staaten. Bei Kobalt 60 haben wir es mit harter Gammastrahlung zu tun.«
»Wie wirkt diese Strahlung?«, fragte Krause.
»Na ja«, antwortete der Leiter Operative Sicherheit, »mein Wissen ist nicht gerade umfassend. Aber diese Gammastrahlung wirkt genau so, wie Krebspatienten es schildern. Diese Leute kotzen sich buchstäblich die Seele aus dem Leib, die Haare fallen ihnen aus, der Zustand verschlechtert sich immer mehr. Eine Überdosis führt schnell zum Tod. Genau das ist den Opfern von Tschernobyl passiert, die den GAU nur um Stunden überlebt haben.«
»Das würde Achmed nie tun«, sagte Müller wütend.
»Verdammt noch mal!«, fuhr Krause hoch. »Sie müssen doch endlich zur Kenntnis nehmen, dass Achmed möglicherweise einen Weg geht, der vor zwei Tagen noch unvorstellbar war. Auf jeden Fall traf er hier in Berlin auf Mitglieder der Dolgos. Das sind harte russische Gangster, und niemals hätten Sie Achmed damit in Verbindung gebracht. Irgendetwas ist passiert, und wir wissen immer noch nicht genau, was. Aber wir müssen es herausfinden. Unser Präsident wird so sicher wie das Amen in der Kirche ins Bundeskanzleramt gerufen und muss Auskunft geben. Und wir müssen ihm die Fakten beschaffen und können nicht sagen: Das hätten wir uns bei Achmed nicht träumen lassen.« Er stand auf, ging an das große Fenster und starrte hinaus.
»Sie werden jetzt in die Charité fahren, mein Lieber. Beide Fahrer sind dorthin geflogen worden und warten auf die großen Operationen. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt bei Bewusstsein sind, ich weiß nur, dass einer von ihnen von einem kleinen schmalen Mann mit einem Laptop gesprochen hat. Und dieser eine heißt Stahlmann und hat möglicherweise Achmed beschrieben. Niemand weiß, dass die Fahrer hier in Berlin sind, niemand darf das wissen. Ich ebne Ihnen den Weg.« Er zuckte hilflos die Achseln. »Ich weiß, dass es nahezu geschmacklos ist, Sie in dieser Situation um so etwas zu bitten, aber ich habe keine andere Wahl.«
»Das geht schon in Ordnung«, sagte der brave Soldat Müller.