Zwischenspiel
Benno Bohnen verließ
um sechs Uhr früh seine Wohnung, ging durch die Toreinfahrt zur
Garage und ließ den Mercedes-Sprinter ungefähr zehn Meter nach vorn
in den Hof rollen. Er war früh dran, und das war gut so, denn
möglicherweise würde sein Partner Stahlmann noch in der Falle
liegen und schnarchen. Weil er mal wieder die ganze Nacht in einem
Buch gelesen hatte. Stahlmann machte so etwas dauernd.
Er stieg aus und
schloss das Tor der Garage mit dem Schlüssel zu. Das hatten sie als
Bedingung genannt: Kein automatisches Tor! Ist zu anfällig! Sie
machen aus jedem Furz einen Blizzard, dachte er gut
gelaunt.
Er rief mit dem Handy
in der Zentrale an und flötete: »Hier ist der heiße Benno mit einer
Nachricht für euch Schnarchnasen. Es ist sechs Uhr null fünf. Ihr
könnt meine Ladefläche schließen, ich melde mich, wenn ich in
Hamburg bin.«
Ein Mann erwiderte
nicht sonderlich interessiert: »Gut, Benno. Ich nehme an, du bis
gegen neun in Hamburg. Du meldest dich vom Kai. Polizei und Zoll
sind verständigt. Ich schließe jetzt.«
Es klackte neben
Bohnen, dann gab es ein schleifendes Geräusch, die schweren
Stahlriegel schoben sich vor. Niemand, auch nicht Benno Bohnen
selbst, würde jetzt in den Laderaum kommen. Obwohl noch gar keine
Ladung an Bord war.
Bohnen setzte sich
hinter das Steuer und pfiff »Amazing Grace«.
Er dachte an Paula,
die gestern Abend endlich lächelnd zugestimmt hatte. Sie würde es
sich überlegen, das mit der Hochzeit. Wäre vielleicht angebracht.
Aber ihren Bratwurststand wollte sie unbedingt behalten. Weshalb
auch nicht? Sie hatte gesagt: »Ich weiß ja nicht, ob ich nicht kurz
nach der Hochzeit irgendwann allein herumstehe.« Mit ihrem voll
ausgebauten Häuschen in der Schrebergartenanlage und mit seiner
Wohnung in der Stadt wären sie so etwas wie ein komplettes Paar.
Sie machte rund zweieinhalbtausend netto, er genauso viel. Da
konnte doch gar nichts mehr schief gehen.
Er fühlte sie noch,
wie sie vor wenigen Minuten warm und verschlafen neben ihm gelegen
und sich genussvoll geräkelt hatte. Mann, konnte die sich räkeln –
wie ein Kind ohne Ahnung von der Welt.
Dann geschah das
Wunder des Tages: Stahlmann stand fix und fertig vor seiner Haustür
und brummte vorwurfsvoll: »Du bist schon wieder vier Minuten
drüber!«
»Wir sind doch kein
Linienbus«, antwortete Bohnen grinsend. »Jetzt steig ein, Alter,
steck uns eine Zigarette an und halt den Mund.«
Sie waren ein
eingespieltes Team, fuhren seit fünfzehn Jahren zusammen Gefahrgut.
Sie hatten noch nie einen Unfall gebaut und waren so etwas wie das
heißeste Duo der Branche. Ihr Chef, der Inhaber einer Berliner
Firma für Spezialtransporte, pflegte zu betonen: »Die haben die
schärfsten Chemiebomben durch Europa gekarrt, die fahren mit zehn
Gramm radioaktivem Plutonium am Arsch genauso ruhig durch die
Gegend wie unsereiner mit einem alten Mercedes. Bohnen und
Stahlmann sind einfach Spitze. Nerven wie Stahlseile.«
»Ruf die Zentrale,
dass du drauf bist. Der Laderaum ist gesichert«, sagte Bohnen.
»Ach, übrigens, ehe ich es vergesse: Kann sein, dass ich die Paula
heirate. Dieses Jahr noch.«
Stahlmann sah ihn von
der Seite an. »Und? Was soll ich da sagen? Herzlichen Glückwunsch?
Oder: Mein Beileid? Wird Zeit, dass deine Liebeskrankheit sich
legt, das ist die Hauptsache.« Schließlich grinste er und wünschte
ihm: »Alles Gute, Junge.«
Dann erledigte er den
Anruf. »Stahlmann. Ich bin drauf.«
»Steck uns endlich
eine Zigarette an«, sagte Bohnen.
Die erste Stunde
regnete es.
Bohnen nahm die A 10
im Norden Berlins und ging dann auf die A 24 direkt nach Hamburg.
Er fuhr wie immer um die hundert Stundenkilometer, und inklusive
einer Pinkelpause erledigten sie die rund zweihundertachtzig
Kilometer in drei Stunden. Der Himmel war grau, die Fahrbahn
trocken, es war angenehm zu fahren.
Außer einem normalen
Fahrtenschreiber war ein zweites, für den Fahrer nicht zugängliches
Aufzeichnungssystem eingebaut, das sogar Bremswege exakt
aufzeichnete und das Stehen im Stau auf die Sekunde genau
registrierte. Falls einer der Fahrer unterwegs eine schwere Tasche
aufnahm und sich dadurch das Gewicht des Fahrzeugs veränderte,
wurde auch das auf das Gramm genau aufgezeichnet.
Um 9.17 Uhr
erreichten sie den Hamburger Freihafen, durften passieren und
fuhren an den Kai, an dem die »Saragossa« festgemacht hatte. Das
Schiff kam direkt aus Kanada, sie kannten es, weil es seit Jahren
ihre Fracht transportierte. Niemals war etwas passiert, was Unruhe
verbreitet hätte.
Da Bohnen und
Stahlmann ein wenig zu früh dran waren, gingen sie in die
Heringsbude, tranken einen Kaffee, aßen ein Fischbrötchen und
sprachen gut gelaunt mit den Arbeitern, die dort Pause
machten.
Um 9.45 Uhr
schlenderten sie an den Kai.
Die übliche
Funkstreifenbesatzung war neben ihnen aufgefahren, zwei Zollbeamte
warteten schon, man kannte sich, die Szenerie war vollkommen
entspannt.
Einer der
Polizeibeamten fragte höflich: »Und was laden wir
heute?«
Bohnen antwortete:
»Vier Tennisbälle radioaktives Kobalt 60 für die Bestrahlung
Krebskranker in der Hauptstadt.«
Sowohl die Polizisten
als auch die Zollbeamten verlangten eine Unmenge Unterschriften und
mussten selbst all die Vordrucke unterschreiben, die Stahlmann
ihnen in einer Din-A4-Mappe vorlegte.
Bohnen rief die
Zentrale und bat knapp: »Öffnet mir die Ladefläche.«
Es gab ein paar
schabende und klickende Geräusche, dann konnte er die Hecktür
öffnen.
Nach wenigen
Augenblicken fuhr ein rot lackierter Gabelstapler aus der riesigen
Seitenluke des Schiffes heraus, auf einer Palette vier schwere
Kisten, jede einen Meter hoch und etwa achtzig Zentimeter breit mal
tief.
Der Fahrer hatte
wiederum eine Mappe mit Papieren bei sich, die sie alle abzeichnen
mussten, die Fahrer, die Polizei, der Zoll. Dann fuhr er an das
Heck des Kleinlasters, ließ die Last weit nach vorn herausragen und
setzte sie behutsam mitsamt der Palette ab.
Stahlmann und Bohnen
kletterten auf die Ladefläche und untersuchten jede der hölzernen
Kisten, ob nicht irgendein Brett eingedrückt war oder ein Spalt
klaffte. Die Kisten zeigten keinerlei äußere
Beschädigung.
Dann kam einer der
Zollbeamten mit dem »Piepser«, um zu kontrollieren, wie viel
Strahlung austrat. Das Gerät jaulte laut auf, zeigte jedoch einen
akzeptablen Wert.
Bei Einrichtung der
Sicherheitsvorschriften für den Transport radioaktiven Materials
hatte die Bundesrepublik Deutschland alle Handelspartner an den
Rand des Wahnsinns getrieben, weil ihre Forderungen nach aktiver
wie passiver Sicherheit dieser Kisten an behördliche Hysterie
grenzten.
Die Kisten enthielten
einen starkwandigen Bleikern, in dem das tennisballgroße, tödlich
strahlende Metall-Ei auf einer weichen Polsterung ruhte. Um diesen
Bleikern war eine massive Blechkanne geformt, deren Öffnung
sicherheitshalber verlötet war. Die Blechkanne wurde dann in genau
passende Styroporformen gezwängt, die dreifach gelegt waren. Um
diesen Kunststoff herum war eine Holzkiste von millimetergenau
vorgeschriebener Größe gebaut. Um sicherzugehen, dass eine solche
Ladung auch bei schwersten Unfällen dicht blieb, wurde die Kiste
von einem Kran auf achtzehn Meter Höhe gehievt und dann auf Beton,
auf Wasser, auf Erdreich fallen gelassen, bis Beschädigungen nicht
einmal mehr dann auftraten, wenn die immer gleiche Kiste zwanzigmal
aus achtzehn Metern Höhe gefallen war.
»Kann los!«,
entschied der Zollbeamte. »Bis zum nächsten Mal,
Jungs.«
Stahlmann nickte. Er
würde den Rückweg fahren.
Sie waren so
aufeinander eingespielt, dass sie sogar die gleiche Pinkelpause
benötigten. Als einmal Bohnen einen wässrigen Durchfall hatte und
häufiger eine Toilette in Anspruch nehmen musste, waren sie ganz
aus dem Konzept geraten und hatten sich noch wochenlang über die
»Tour de la Kack« erheitert.
Auf Hamburger Gebiet
ging es langsam, aber stetig voran, und Bohnen ließ sich genussvoll
darüber aus, dass er in Zukunft eine Sommer- und eine Winterwohnung
haben würde.
»Du kannst dir gar
nicht vorstellen, wie schön Sex ist, wenn draußen der Wind durch
die Pfirsichbäume weht.«
»Gott steh mir bei!«,
kommentierte Stahlmann. »So ein Schweinkram!«
Der Himmel war
hellgrau, die Fahrbahn trocken, sie rollten dahin.
»Und was ist mit
deiner Trude?«, fragte Bohnen.
»Sie heißt nicht mehr
Trude«, entgegnete Stahlmann. »Die Gegenwärtige heißt Swetlana und
ist so feurig, wie man es nach der Lektüre russischer Romane
erwartet.«
Zuweilen machte
Stahlmann so geschraubte Bemerkungen, und Bohnen nahm es nicht
übel, weil er wusste, dass Stahlmann vor vielen Jahren begonnen
hatte, Germanistik zu studieren. Bis sein Vater plötzlich gestorben
war, was alle Hoffnungen zunichte machte. Jetzt pflegte er seine
bettlägerige Mutter und hatte einmal kommentiert: »Ich lass die
alte Dame nicht im Stich. Und so lange will ich keine feste
Frau.«
Anfangs war Bohnen
verwirrt gewesen über die hohen, prall gefüllten Bücherregale in
Stahlmanns Wohnung, und der schweigsame Stahlmann war anfangs auch
nicht bereit gewesen, irgendetwas zu erklären. Ganz langsam,
tropfenweise hatte er dann von seinem Lebensweg berichtet. Jetzt
hatte Bohnen dem Freund sogar eine komplette Lichtenberg-Ausgabe
zum letzten Geburtstag geschenkt, mit der seiner Meinung nach
witzigen Bemerkung, er habe vorher nie gewusst, was Bildung
wirklich wert ist.
Es passierte
südöstlich von Parchim, zwei Kilometer von der Ausfahrt Suckow
entfernt, und alles verlief zunächst ganz unscheinbar.
Ein alter, an den
Kanten verrosteter Nissan-Pkw, besetzt mit drei Männern, quetschte
sich zwischen den vorausfahrenden Lastzug und Stahlmann. Das
Manöver war ein wenig riskant, und Stahlmann reagierte wütend:
»Dieser Blödmann!« Er bremste ab.
Auf der Rückbank des
Nissan saß ein Mann, der dauernd seinen Kopf hin und her drehte.
Der Kopf war vollkommen bedeckt. Dann hob der Mann seine rechte
Hand, in der irgendetwas stumpf Blaues schimmerte.
»Wieso trägt der eine
Skimaske?«, fragte Bohnen verwundert.
Stahlmanns Stimme war
plötzlich hoch. »Und er hat eine Waffe. Guck mal.«
Bohnen rief: »Waffe?
Das ist keine Waffe, das ist irgendwas anderes.«
»Aber es sieht aus
wie eine. Und er zielt auf uns«, sagte Stahlmann
entgeistert.
»Da ist doch das Glas
zwischen«, sagte Stahlmann etwas ruhiger. »Aber das stimmt, er
zielt auf uns.«
Der Mann auf dem
Rücksitz des Nissan drehte jetzt den Kopf in Fahrtrichtung, und das
waffenähnliche Instrument verschwand.
»Und er trug so etwas
wie einen Riesenhandschuh«, sagte Stahlmann.
Als das
Tausend-Meter-Schild der Ausfahrt kam, wurde der Nissan
langsamer.
Stahlmann fluchte und
wollte auf die linke Fahrbahn. Das ging aber nicht, weil dort mit
gleicher Geschwindigkeit ein Kleinlaster neben ihnen herfuhr. Weiß
lackiert, ohne jede Aufschrift, ein Ford Transit.
Das war vor allem
deshalb merkwürdig, weil der Kleinlaster links von ihnen ebenso
kontinuierlich langsamer wurde wie der Nissan vor
ihnen.
In dem Kleinlaster
saßen drei Männer, die neugierig zu ihnen hinüber starrten. Und
auch diese Männer trugen Sturmhauben, ihre Gesichter waren
unkenntlich.
»Scheiße!«, sagte
Bohnen nervös, weil er etwas ahnte.
Hinter ihnen hupte
ein Lkw-Fahrer wild.
»Was soll das?«,
fragte Stahlmann verwirrt.
Dann blinkte der
Nissan nach rechts in die Ausfahrt, und der Kleinlaster blinkte
ebenfalls und drängte Stahlmann rüde nach rechts.
Atemlose Sekunden
folgten.
»Mach keinen Scheiß,
geh mit!« forderte Bohnen. »Sie kommen sowieso nicht
rein.«
»Hinter uns ist noch
so ein Arsch, so ein Transporter«, sagte Stahlmann nervös. »Ich bin
mir sicher, der gehört auch dazu.« Er zog nach rechts in die
Ausfahrt hinter dem Nissan her.
»Jetzt Gas und
geradeaus wieder drauf!«, schrie Bohnen.
Stahlmann wollte
genau das tun, aber der Kleinlaster links von ihnen schob sich
unter grellem Schleifen der Bordwände an ihnen vorbei und stellte
sich quer, sodass sie die Ausfahrt nehmen mussten und nicht erneut
die Autobahn erreichen konnten.
»Das ist die B 321«,
stellte Stahlmann fest. »Was wollen die denn?«
»Wir rufen jetzt«,
bestimmte Bohnen.
Er nahm sein Handy,
drückte zwei Knöpfe und sagte ohne Übergang: »Wir werden
überfallen. A 24 Richtung Berlin auf der Höhe Suckow, wiederhole
Ausfahrt Suckow, an der Ausfahrt zur B 321.«
Keine
Antwort.
»Junge, tu was!«,
schrie Bohnen. »Mayday, Mayday!«
Die Verbindung riss
ab, Bohnen hörte nur noch ein Rauschen. Der Nissan fuhr betulich
langsam nach links in Richtung Parchim, Stahlmann musste folgen,
denn einer der Kleinlaster hinter ihnen zog rechts vorbei und
blockierte die Bundesstraße in diese Richtung.
Stahlmann spürte
sekundenlang den Wunsch, der auf der Bundesstraße herrschende
Verkehr könnte den Kontakt zu dem Nissan vor ihnen unterbrechen.
Aber auf der Bundesstraße gab es keinen Verkehr, nicht ein einziges
Fahrzeug.
»Diese Sauhunde!«,
rief Stahlmann. »Und jetzt?«
»Ich weiß nicht. Sie
kommen ja nicht rein«, sagte Bohnen. Er wusste, dass er hilflos
klang, und schon das machte ihn wütend.
»Hau das Blaulicht
raus!«, befahl Stahlmann. »Raus damit!«
Bohnen ließ das
Fenster hinuntergleiten und setzte das Blaulicht schräg auf das
Dach. Dann schloss er die Scheibe wieder.
Sie rollten jetzt
hinter dem Nissan her, das Blaulicht warf Blitze.
Dann peitschte von
hinten eine Serie von Schüssen, es knallte mörderisch auf dem
Blech, das Flackern des Blaulichts erlosch.
Der Nissan vor ihnen
zog nicht mehr als dreihundert oder vierhundert Meter die
Bundesstraße in Richtung Parchim entlang, dann setzte er die
Warnblinkleuchte, glitt rechts an den Straßenrand.
»Gib Vollgas!«,
forderte Bohnen.
Aber genau das konnte
Stahlmann nicht mehr tun.
Der erste Transporter
hinter ihnen verhinderte das. Er schoss so schnell und eng vor sie,
dass er ihren linken Rückspiegel abriss. Es gab einen hell
explodierenden Laut wie einen Schuss. Dann standen
sie.
Stahlmann sah nach
links. Er war von dem Beifahrer im Kleinlaster nicht weiter als
fünfzig Zentimeter entfernt.
»Du Blödhammel!«,
schrie Stahlmann entnervt.
Aber der Mann war
vermummt, blickte nur nichts sagend und rutschte dann nach links,
um aus dem Wagen herauszukommen.
Drei Männer kamen die
wenigen Schritte bis vor den Wagen und hatten Waffen in den Händen.
Das waren die Männer aus dem Nissan. Drei weitere waren aus dem
Kleinlaster links von ihnen gestiegen. Sie alle trugen schwere
dunkelgraue Waffen quer vor dem Bauch.
Stahlmann dachte: Es
sind UZIs oder Kalaschnikows, ich weiß es nicht. Wieso ist hier
kein Verkehr, wieso kommt denn keiner vorbei?
Dann knallte es über
ihnen, ihr Auto wirkte wie das Innere einer großen Trommel. Es
knackte vernehmlich, darauf folgten erneut dröhnende Schritte.
Jemand ging auf ihrem Fahrzeugdach herum.
»Schick den
automatischen Notruf!«, sagte Bohnen heiser. »Sie orten uns über
GPS.«
»Wieso kommt hier
keiner?«, fragte Stahlmann verwirrt. »Kein Mensch fährt hier.« Er
drückte einen Knopf am Armaturenbrett.
Eigentlich hätte eine
grüne Lampe aufblinken müssen.
»Das funktioniert
nicht.« Bohnen war fassungslos. »Das kann nicht sein.«
Stahlmann knurrte:
»Die werden sich wundern. So einfach läuft das nicht.«
Die sechs Männer vor
ihnen führten einen seltsamen Tanz auf. Sie waren alle vermummt,
trugen alle Jeans und dunkelblaue Sweatshirts. Alle sechs schauten
sich an, glitten ein wenig auseinander, als wollten sie dem
Nachbarn artig »Bitte, nach Ihnen!« sagen. Dann bauten sie sich auf
wie ein Erschießungskommando und begannen übergangslos zu
feuern.
Selbstverständlich
war der Kleinlaster gepanzert, selbstverständlich hielten auch die
Scheiben stand. Aber die Scheiben sprangen und waren in Sekunden
vollkommen blind, zerrissen von irrlichternden
Sprüngen.
»Heilige Scheiße!«,
hauchte Bohnen.
»Sie kommen nicht
rein«, sagte Stahlmann atemlos, als sei er Kilometer gelaufen. Es
klang wie ein Gebet.
Dann war es sehr
still, nur der eigene Motor war zu hören.
»Wieso kommt die
Zentrale nicht über Funk?«, fragte Stahlmann. Er starrte auf das
Funkgerät. Das kleine grüne Licht rechts zeigte an, dass das Gerät
eingeschaltet war. Aber niemand sagte etwas.
Schemen huschten
draußen vorbei, vollkommen verzerrt durch die gesprungenen
Scheiben.
Wieder war jemand auf
dem Dach. Es gab Schritte, hin und her, es dröhnte.
Stahlmann schaltete
den Motor aus.
Keiner der Männer
draußen sagte irgendetwas. Sie waren vollkommen still, was immer
sie taten, sie taten es lautlos.
Bohnen griff erneut
nach seinem Handy. Er drückte irgendeine Taste, er sagte verblüfft:
»Da tut sich überhaupt nichts.«
Stahlmann
kommentierte wütend: »Das kann gar nicht sein«, griff nach seinem
Handy, drückte Tasten, murmelte: »Das geht auch
nicht.«
Dann hörten sie, wie
die Stahlriegel der Ladefläche zurückglitten.
Stahlmann hauchte
ungläubig: »Die sind drin.«
Bohnen antwortete:
»Red jetzt keinen Scheiß.« Stahlmann wiederholte: »Die sind drin.«
Dann beugte er sich weit nach vorn, als habe er rasende
Kopfschmerzen. Er legte die Stirn auf das Lenkrad, er murmelte
zittrig: »Ich mach jetzt die Verriegelung auf. Ich will die
sehen.«
Bohnen
schwieg.
Stahlmann drückte auf
den Knopf der Zentralverriegelung und sagte verblüfft: »Wir sind
schon offen.«
Bohnen murmelte: »Na,
denn.«
Er öffnete langsam
die Tür und blickte nach rechts.
Da stand ein Mann in
der Sturmhaube, und er hielt eine Kalaschnikow im
Anschlag.
Bohnen hob die Hände
und sagte zittrig: »Ich steige aus.«
Der Mann bewegte sich
kaum, machte nur eine knappe, wischende Geste mit der
Waffe.
Bohnen nahm das als
Aufforderung und tastete mit dem rechten Schuh nach der Stufe im
Ausstieg. Er fand sie, drehte sich leicht nach rechts und stieg
aus. Er sah im äußersten Winkel seines Blickfeldes, dass auch
Stahlmann ausstieg. Er drehte den Körper nach rechts, um nach
hinten zum Heck des Wagens zu gehen, aber der Vermummte machte eine
unwillige Geste mit der Maschinenpistole, und Bohnen blieb einfach
stehen und bewegte sich nicht mehr.
Er hörte, wie
Stahlmann brüllte: »Was soll der Scheiß hier?«, und dann gab es ein
scharfes, klatschendes Geräusch. Irgendetwas schlug dumpf gegen das
Blech der Ladefläche.
Bohnen riskierte
einen Blick, indem er den Kopf nach links drehte, um durch das
Fahrerhaus etwas von Stahlmann zu sehen. Aber der Vermummte ihm
gegenüber war nicht damit einverstanden. Er schoss sofort. Er
schoss irgendwohin, und Bohnen dachte fassungslos eine halbe
Sekunde lang: Ich kriege keine Luft mehr. Er fühlte in seinem
Körper nach, ob er getroffen sein könnte. Aber da war nichts. Eine
panische Angst stieg in ihm auf, seine Beine könnten unter ihm
einknicken. Er schien zu wackeln, aber nichts passierte, er blieb
stehen.
Dann sah er den
Rückspiegel unmittelbar vor seinem Gesicht. Der Spiegel war stark
abgeknickt, er war von den Schüssen getroffen worden. Er zeigte auf
der halben Breite etwas vom Dach des Wagens. Sie hatten zuerst die
Funkantenne abgebrochen, erkannte Bohnen. Aber wieso hatten die
Handys nicht funktioniert? So etwas gab es doch gar
nicht.
Dann löste Bohnen
sich quälend von diesen sinnlosen Überlegungen, machte einen
Schritt nach vorn, um aus der Enge neben der Tür herauszukommen,
und fragte laut: »Stahlmann?«
Der Vermummte schoss
erneut sofort. Er schoss in den Boden zu Bohnens
Füßen.
Das ist gar nicht so
laut wie in den Filmen, dachte Bohnen. Er fragte noch einmal:
»Stahlmann?«
Der Vermummte vor ihm
machte einen schnellen Schritt nach vorn, hob die Waffe, legte sie
sich quer vor den Bauch, und dann kam der eiserne Kolben hoch und
traf ihn im Gesicht.
Bohnen war sofort
bewusstlos.
Stahlmann lag neben
dem Wagen mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt und kam ganz
langsam wieder zu sich. Er spürte Blut im Gesicht, es war warm und
schmeckte süßlich.
»Bohnen!«, nuschelte
er.
Dann hob er den Kopf
und sah die Autos und die Bundesstraße entlang. Wieso fährt hier
niemand?
Anfangs konnte er
einige Sekunden lang nicht genau sehen, die Bilder zeigten sich
doppelt. Das machte ihm Angst. Aber er konnte erkennen, dass
jeweils zwei der vermummten Männer eine Kiste trugen und sie hinten
auf den zweiten Kleinlaster luden.
Und einer der
Vermummten stand abseits auf der Fahrbahn der Bundesstraße, weniger
als fünf Meter von Stahlmann entfernt, und hielt einen Laptop auf
den weit gespreizten Fingern der linken Hand. Er wirkte grotesk wie
ein Kellner mit einem Tablett, und er erweckte den Eindruck, als
mache er so etwas öfter, als sei er das gewohnt.
»Scheiße!«, sagte
Stahlmann heftig, obwohl er normalerweise nicht zu Kraftausdrücken
neigte.
Dann musste er sich
quälend und schmerzhaft übergeben und legte den Kopf zur Seite,
weil das so peinlich und ekelhaft war.
Aus dieser Position
sah er unter dem Fahrzeug hindurch Bohnen. Und neben Bohnen zwei
Beine in Jeans und Sportschuhen.
Bohnens Gesicht war
in ein erschreckendes Farbengemisch getaucht.
»Mein Gott!«, stöhnte
Stahlmann. Er dachte: Das ist ein Horrorgesicht! Das sieht so aus
wie tot.
Dann schlug Bohnen
die Augen auf.
»Bohnen«, fragte
Stahlmann krächzend. »Was ist?«
Bohnen wirkte
erstaunlicherweise klar. »Das sind doch Selbstmörder«, sagte er
unter dem Fahrzeug hindurch. »Die krepieren doch.«
Sein Gesicht hatte in
einer schlammigen Pfütze gelegen. Zusammen mit dem Blut gab das
einen scheußlichen Anblick.
»Beweg dich nicht«,
murmelte Stahlmann. Dann hob er unter Schmerzen den Kopf ein wenig
hoch. »Die sind fertig, die haben abgeladen«, sagte er. »Kannst du
aufstehen?«
»Vielleicht«, sagte
Bohnen undeutlich.
Aber sie konnten sich
nicht aufrichten, sie kamen zu keiner Bewegung mehr.
Der Mann neben Bohnen
schoss vollkommen ungerührt erst Bohnen durch die rechte Kniekehle,
kam dann mit wenigen, schnellen Schritten um das Fahrzeug herum und
machte dasselbe bei Stahlmann.
Es war genau 11.38
Uhr, wie wenig später aus dem internen zweiten Überwachungssystem
des Transporters hervorging.
Karl Müller machte
sich eine Liste mit den Dingen, die er einkaufen wollte. Da stand:
für Karen Blumen ins Hotel, nach Teppichboden gucken, Spray gegen
Pilzbefall, möglicherweise auch Teppichschaum, blühende Blumen!
Zwei, drei Bäume Grünzeug, möglichst groß, oder Ähnliches. Nach
einem billigen, kleinen Fernseher schauen. Ein paar Konserven wie
Erbsen- und Linsensuppe, ein paar Sachen zum Spielen für A.
M.
Dann starrte er seine
Gardinen vor dem Fenster an. Es war weitmaschiger, netzartiger,
ehemals weißer Stoff, nun vergilbt, der sich fettig anfühlte. Also
schrieb er: Vorhänge! Und machte sich daran, die Größe
auszumessen.
Um 8.16 Uhr meldete
sich sein Handy.
Melanie sagte
atemlos: »Guten Morgen. Ich habe nachgedacht, ich gehe heute nicht
arbeiten. Ich kann das einfach nicht. Und ich muss mit dir
reden.«
Plötzlich fühlte
Müller eine wilde, überbordende Freude.
»Das können wir
doch«, sagte er mit einem Kloß im Hals. »Ich muss nur abwarten, was
heute im Büro anliegt. Das weiß ich erst in einer Stunde. Ich rufe
dich an.«
»Das … das passt
mir«, entgegnete sie knapp und unterbrach die
Verbindung.
Drei Minuten später
kam ein Anruf seiner Mutter.
Sie sagte tonlos und
hohl: »Papa ist nicht mehr.«
Er wusste nichts zu
antworten, er hatte keine Sprache mehr.
»Junge? Junge, bist
du noch da?«
»Ja, ich bin da. Bist
du im Krankenhaus?«
»Ja.«
»Ich komme
hin.«
Er rief das
Geschäftszimmer im Amt an und bat, Krause vom Tod seines Vaters zu
unterrichten. Routinemäßig setzte er hinzu: »Ich bin ständig
erreichbar.«
Dann überfiel ihn ein
jähes Zittern, und er setzte sich auf den scheußlichen rosafarbenen
Sessel. Er war unfähig zu weinen oder seiner Trauer einen anderen
Ausdruck zu geben. Er fühlte sich erstarrt.
Er fuhr wie
betrunken, und er konnte sich später an keine Einzelheiten seines
Weges erinnern. Zum Beispiel wusste er nicht mehr, wie er über
verschiedene stark befahrene Kreuzungen gekommen war.
Auf der
Intensivstation fand er ein merkwürdiges Bild vor. Seine Mutter saß
auf diesem Stuhl, der immer schon wie festgenagelt neben diesem
Bett gestanden hatte. Nur das Bett war nicht mehr da. Einige der
Geräte blinkten noch, durchsichtige Plastikschläuche hingen nutzlos
herum.
Seine Mutter schaute
zu ihm auf und flüsterte: »Sie haben ihn weggebracht. Sie brauchen
das Bett, verstehst du?«
»Ja, natürlich.«
Müller nickte.
Hinter ihnen war die
Schwester mit dem Protesthaar. Sie murmelte: »Mein Beileid. Ihr
Beerdigungsunternehmer wird alles Weitere veranlassen. Sie brauchen
ihn nur anzurufen. Diese Leute sind sehr professionell und
erledigen auch sämtliche Papiere.«
»Wie ist er denn
gestorben?«, fragte Müller.
Die Schwester
antwortete schnell und ohne eine Sekunde der Überlegung: »Ihr Vater
ist ganz still gegangen. Er hatte keine Schmerzen, er ist einfach
entschlafen, ohne zu leiden.«
»Und die Todeszeit?
Nicht, dass es wichtig wäre, aber …«
»Die Todeszeit war
sieben Uhr, die Todesursache die Folgen des Schlaganfalls. Das
bekommen Sie selbstverständlich mit den Papieren.«
»Ja«, murmelte
Müller. »Wir gehen dann.«
Er sah das Paket mit
den Papiertaschentüchern auf dem Beistelltisch und steckte es ein,
als sei es ein bemerkenswertes Überbleibsel.
»Dann wollen wir
gehen«, sagte er.
Er fuhr mit seiner
Mutter in sein Elternhaus, und sie sprachen unterwegs kein Wort
miteinander. Sie weinten nicht, es war, als habe die Welt einen
Moment lang ihre Geschäftigkeit angehalten und als hätten sie zu
warten, bis die Nachricht ihre Seelen erreicht hatte.
Dann geschah etwas,
was Müller erstaunte.
Seine Mutter stieg
aus, ging sehr aufrecht durch den Vorgarten, schloss die Haustür
auf und sagte fast burschikos in der offenen Tür: »Ich koche uns
erst einmal einen starken Kaffee, Junge.«
»Das Leben geht
weiter, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie
lächelnd. »Es ist ganz einfach, es geht weiter.« Mit diesen Worten
verschwand sie in der Küche.
Müller ging in das
Arbeitszimmer seines Vaters und sah sich aufmerksam um. In diesem
Raum hatte sich seit dreißig Jahren nichts verändert, wie immer
roch es muffig.
Müller rief seine
Frau an.
»Mein Vater ist eben
gestorben. Kannst du bitte hierher zu meiner Mutter
kommen?«
»Und
Anna-Maria?«
»Die bringst du
selbstverständlich mit.«
Er erwartete
Widerworte, Erschrecken, Widerstreben. Aber sie sagte nur: »Wir
kommen.«
»Wie heißt der
Beerdigungsunternehmer?«, fragte er laut. »Der in der
Masurenallee.«
»Rentsch«, rief seine
Mutter aus der Küche. »Rentsch heißt der. Ein sehr solider Betrieb.
Wir müssen uns auch um eine Todesanzeige kümmern und so
etwas.«
»Das macht dann
dieser Rentsch«, sagte er. »Hast du irgendetwas zu essen? Ich habe
noch nichts gegessen.«
»Ich mach dir ein
Brot«, rief sie.
Müller begann zu
telefonieren, und er war dankbar für diese Aufgabe, denn sie lenkte
ihn ein wenig ab.
Wenig später kam die
Mutter mit einem Brot und einem Becher Kaffee zu ihm und stellte
beides vor ihn hin.
»Und wer redet mit
seinen Brüdern?«, fragte sie fast angriffslustig.
»Das mache ich«,
erwiderte Müller, der selbstverständlich aus langer Erfahrung
wusste, dass seine Mutter die beiden Brüder des Vaters nie gemocht,
sie manchmal sogar gehasst hatte. Er wusste nicht, warum dieser
Hass aufgekommen war, er wusste nur, dass sein Vater sich darüber
aufgeregt und seiner Mutter scharfe Vorwürfe gemacht
hatte.
»Sag mal, hat er
eigentlich ein Testament aufgesetzt?«
»Ja«, antwortete sie.
»Es liegt da im Schreibtisch rechts in der dritten Schublade von
oben. Und ich weiß, was drin steht. Ich erbe alles mit Ausnahme der
Bücher. Die sollst du kriegen. Oder du kannst dir aussuchen, welche
du haben willst. Das haben wir uns so ausgedacht.« Sie wirkte
sachlich und erstaunlich heiter.
»Was soll ich mit so
vielen Büchern? Du lieber Himmel, dann muss ich ein Haus um die
Bücher bauen.«
»Na ja, du kannst
auch dieses Haus haben.« Sie lächelte matt. »Du kannst es mir
abkaufen.«
»Das ist nicht dein
Ernst«, sagte Müller verblüfft.
»Doch, doch«,
antwortete seine Mutter. Dann setzte sie sich in den Schaukelstuhl
ihres Mannes, der dicht vor den Fenstertüren zum Garten stand, und
erklärte ihrem Sohn mit weit ausholenden Handbewegungen: »Weißt du,
ich habe jede Nacht, die er im Krankenhaus verbracht hat, hier in
diesem Stuhl gesessen. Ich konnte nicht schlafen, in meinem Alter
braucht man das nicht mehr. Ich habe kein Licht angemacht, Licht
stört dann nur. Ich habe überlegt, was ich mit meinem Leben
anfange. Und ich habe gedacht: Ich will dieses verdammte Haus
loswerden, ich will hier nur so lange bleiben, wie es unbedingt
sein muss. Ich will es verkaufen, und dann will ich irgendwohin, wo
ich in Ruhe überlegen kann, wo und wie ich leben will. Verstehst
du?«
Er schwieg eine
Weile, dann sagte er: »Das kommt überraschend. Das hört sich so an,
als … Na ja, hat er dich etwa eingesperrt?«
»Hat er!«, sagte sie.
»Aber er hat es natürlich nicht gewusst. Er hat mich überhaupt
vergessen in den letzten Jahren. Weißt du, wenn du vierzig Jahre
lang deinen Urlaub entweder an der Nordsee oder im Schwarzwald zu
verbringen hast, fragst du dich natürlich, was du für ihn bist.
Eine Ehefrau oder ein Gegenstand der ständigen Einrichtung um ihn
herum.«
Müller sagte: »Das
habe ich nicht gewusst.« »Das musst du ja auch nicht, mein Junge.
Das musst du wirklich nicht.« Damit stand sie auf und ging
hinaus.
Müller hätte sie gern
etwas gefragt. Ob sie zum Beispiel erleichtert sei über den Tod
seines Vaters. Aber da er die Antwort zu kennen glaubte, schwieg er
und telefonierte stattdessen weiter, wobei es ihm schwer fiel, sich
auf nüchterne Vorgänge zu konzentrieren. Flüchtig kam ihm in den
Sinn, dass seine Mutter schon genug über den elenden Zustand und
den Tod seines Vaters geweint hatte. Vielleicht gab es eine
zuversichtliche Gelassenheit jenseits der Tränen, vielleicht hatte
sie diese Gelassenheit erreicht und verdient. Aber er konnte den
Gedanken nicht verdrängen, dass seine Mutter ein wenig zu
triumphieren schien.
Sie hat überlebt,
dachte er verblüfft, sie ist eine echte Überlebende!
Dann schellte der
Beerdigungsunternehmer, und Müller hörte ihm geduldig zu, was zu
tun sei. Er unterschrieb zahllose Formulare.
Als der Mann ging,
gab er Melanie die Klinke in die Hand, die mit Anna-Maria ein wenig
verloren vor dem Haus in der Sonne stand.
»Mein kleiner
Liebling«, rief seine Mutter übertrieben und ging in die Knie, um
die Kleine an ihr Herz zu drücken.
Müller verschwand
schnell im Arbeitszimmer seines Vaters, um Vordrucke auszufüllen
und gewisse Einzelheiten der Versicherungen seines Vaters
abzuklären, mit der Bank zu sprechen, eine Liste all der Leute
zusammenzustellen, die eine Todesanzeige zu bekommen hatten.
Schnell saß er vor einem Wust an Unterlagen, die er im Minutentakt
anders ordnete, durch Telefonate klärte, mit Fragezeichen
versah.
Dann meldete sich
Krause.
»Wie fühlen Sie
sich?«
»Schlecht«,
antwortete Müller.
»Es ist schwierig,
mit dem Tod des Vaters umzugehen, weil man plötzlich begreift, wie
wenig man gewusst hat.«
»Ja«, sagte
er.
»Ich melde mich, wenn
ich Sie brauche.«
Müller fühlte sich
beengt, er stieß die Türen zum Garten auf und ging auf dem Rasen
hin und her.
Das Eichhörnchen, das
seit drei Jahren in der hohen Weißtanne hauste, kam am Stamm
herunter, lief über den Rasen, stellte sich auf und sah zu ihm hin.
Sein Vater hatte es Oswald getauft.
Rechts neben ihm
hatte seine Mutter ein großes Beet Kornblumen gepflanzt. Sie hatte
jedes Mal darum kämpfen müssen, welche Farbe in welchem Beet
vorzuherrschen hatte. Der Vater hatte lächelnd gemeint, sie habe
keine Ahnung von Landschaftsarchitektur. Sie hatte kläglich
erwidert: »Ich dachte doch nur an blühende Blumen.«
Er ging wieder
hinein, setzte sich in den Bürostuhl und fand, dass seine Mutter
finanziell bestens abgesichert war, dass alles, was er erledigen
konnte, auf einem guten Weg war und dass sie jetzt nur zu warten
hatten auf das, was man so Beerdigung nannte.
Anna-Maria öffnete
die Tür mit einem Knall. Sie wollte etwas sagen, aber Melanie war
plötzlich hinter ihr und zischte: »Papa macht etwas Wichtiges, Papa
braucht jetzt Ruhe.« Dann schloss sie die Tür
geräuschlos.
Müller begann ohne
großes Interesse, den Schreibtisch seines Vaters zu durchsuchen. Er
fand das Testament in einem verschlossenen Umschlag und öffnete es
nicht. Er fand all den Krimskrams, der sich in einem Lehrerleben
ansammelt, unendliche Mengen von Kugelschreibern, Füllfederhaltern
und Bleistiften und kleine Glasgefäße mit roter Tinte. Er fand eine
Menge persönlicher Briefe, Mappen mit Unterlagen über Themen, die
seinen Vater gefesselt hatten. Er fand große Mengen von Dias, die
der Vater in den Ferien gemacht hatte, eine Reihe von Fotoalben mit
meist langweiligen Fotos, die nichts besagten, die nicht einmal
irgendeine Besonderheit hatten, die immer nur die Mutter und ihn
zeigten. Er fand sehr viele dünne Pappmappen in allen Farben, die
irgendwelche schulischen Dokumente und Kopien irgendwelcher
Vorgänge enthielten, die todsicher inzwischen ohne jede Bedeutung
waren. Es war ein sehr großer Schreibtisch, und er enthielt ein
ganzes Leben.
Als er ganz unten
rechts im hintersten Winkel der untersten Schublade das dicke Heft
mit den farbigen Pornofotos entdeckte, schloss er die Augen und
dachte, dass das an Trivialität nicht zu überbieten sei. Er schlug
eine Seite auf, die eine Frau zeigte, die breitbeinig zur Kamera
saß und sich mit beiden Händen genussvoll lächelnd die Vulva
spreizte.
Eine Sekunde lang
überfiel ihn panisch der Gedanke, dass er diese Wichsvorlage seines
Vaters schleunigst vernichten sollte. Aber im gleichen Augenblick
wusste er, dass seine Mutter dieses Magazin längst gefunden hatte.
Er fragte sich verwirrt, weshalb sie es im Schreibtisch gelassen
hatte. Damit der Sohn es fand? So viel schien ihm sicher: Er würde
sie niemals fragen. Er legte das Heft an die alte
Stelle.
Seine Mutter kam
herein und sagte: »Wir wollen einen Happen essen.«
»Das ist gut«,
antwortete er.
Melanie konnte mit
der Trauer anderer Menschen nicht umgehen, weil sie selbst wohl
keine empfand. Sie wies ununterbrochen die kleine Anna-Maria
zurecht, die lebhaft und aufgedreht wissen wollte, wo der Opa denn
jetzt wäre und ob Tod so etwas wie Verschwinden wäre oder so etwas
wie weggefahren oder so etwas wie weg sein auf ewig bis nächste
Woche.
»Lass sie doch«,
sagte Müller. »Sie wird damit klarkommen, wenn wir ihr sagen, dass
Tod zum Leben gehört.«
»Es ist so, mein
Liebes«, erklärte seine Mutter. »Wir sterben alle einmal, und der
Opa ist jetzt für immer fort.«
Anna-Maria weinte und
stellte wütend fest: »Das will ich nicht.« Dann war sie verwirrt,
stand auf und ging in das Wohnzimmer, um Bilderbücher
anzuschauen.
»Sie rafft das
einfach nicht«, sagte Melanie seufzend.
»Sie wird es lernen«,
entgegnete Müller. »Sie muss es lernen, wir alle müssen das
lernen.« Dann wandte er sich an seine Mutter. »Ich bin klar mit
allen Unterlagen. Gleich werden die Drucksachen geliefert, wir
können sie dann fertig machen und aufgeben.«
»Das mache ich. Ich
muss bei einigen ja noch ein paar zusätzliche Zeilen schreiben. Und
du? Musst du nicht in den Dienst?«
»Ich bin in
Bereitschaft, ich kann dir helfen. Aber ich möchte auch noch mit
Melanie reden. Ich brauche ein paar Sachen aus unserem
Haus.«
»Dann macht das
jetzt, das ist doch wichtig.« Müllers Mutter lächelte flüchtig und
unsicher und ging dann zu dem Kind hinüber.
Müller und Melanie
gingen in den Garten auf die Bank unter der
Hängebirke.
»Kommst du klar, hast
du eine Bleibe?«, fragte sie und sah ihn nicht an.
»Ja, alles klar«,
murmelte er. »Ich finde es gut, dass du reden willst.«
Sie sagte kühl: »Das
müssen wir wohl. Ich will alles glatt ziehen, damit es keine
Missverständnisse gibt. Du willst dich ja wohl schleunigst scheiden
lassen.«
»Das will ich nicht«,
sagte er verblüfft. »Wie kommst du darauf?«
»Bei Birte war das
auch so. Ihr Mann hat gesagt, dass er sich auf Probe trennt, und
dann kam nach vier Tagen ein Brief von einem Anwalt.«
»Ich bin aber nicht
Birtes Mann«, fauchte er in jähem Ärger.
Sie schwieg eine
Weile und stellte dann kühl fest: »So läuft das aber doch
immer.«
Es ist ein
geschäftlicher Vorgang, dachte er verblüfft. Es ist nichts als eine
kleine Akte auf dem Schreibtisch, die man abarbeitet. Sie will
nicht um uns kämpfen, sie will nur sich selbst ordnen, aufstellen
für ein neues Leben.
»Was willst du?«,
fragte er.
»Ich will nur sagen,
dass ich alles bedacht habe. Ich habe auch schon ausgerechnet, was
du für Anna-Maria monatlich zahlen musst. Und ich habe
rumtelefoniert, weil ich ausziehen will und woanders eine günstige
Wohnung für uns finden muss. Das Haus ist mir zu teuer und zu groß.
Ich brauche das nicht. Ich habe alles aufgeschrieben. Wo soll ich
es hinschicken?«
»Schick es
hierher.«
»Damit deine Mutter
es liest?«
»Sie weiß es schon,
also kann sie es auch lesen.«
Sie ordnet, sie zieht
glatt, sie macht eine Bilanz und steigt in die neue Phase ein,
dachte Müller. So einfach ist das.
»Ich habe noch jede
Menge Sachen im Haus. Einiges davon brauche ich«, sagte er mit
trockenem Mund.
»Ja, gut. Ich stell
dir das zusammen, und dann kannst du es abholen.«
»Wie ist das mit
Anna-Maria? Ich möchte sie sehen. Wenigstens einmal pro
Woche.«
»Sicher kannst du sie
sehen. Wenn du in der Stadt bist. Das lässt sich einfach regeln.
Wir telefonieren, und dann kannst du kommen und sie sehen.« Ihr
Gesicht war weiß und voller Kanten.
»Du meinst, ich komme
zu dir und sehe sie? Ich darf nicht mit ihr spazieren gehen oder
so?«
»Spazieren gehen ist
auch möglich. Sicher.«
Er wollte nicht mehr
mit ihr reden, er hielt die Kälte nicht aus. Er sagte: »Ich gebe
dir meine Telefonnummer, damit du mich erreichen
kannst.«
»Ja, gut.« Dann wurde
Melanie plötzlich wütend. »Ich will weg von diesem Haus. Deine
Mutter behandelt mich, als wäre ich eine Schlampe. Und dann wollte
ich nur noch sagen, dass ich nicht frigide bin, wie du anscheinend
annimmst. Also, das bin ich einfach nicht, und du solltest das auch
nicht bei deinen Kolleginnen und Kollegen rumerzählen, was Männer
ja wohl immer tun. Ich hatte was mit Strothmann, dem vom
Controlling, drei, vier Monate lang, fast jeden
Donnerstagnachmittag, weil das terminlich gut hinkam. Ich bin ja
schließlich nicht aus Eis. Nur, dass du das weißt. Und es hat mir
nicht Leid getan.« Plötzlich weinte sie und sagte heftig: »Du bist
ein unbeschreibliches Riesenarschloch, du hast mich total allein
gelassen.« Sie stand auf und ging mit schnellen Schritten ins
Haus.
Müller blieb lange
Zeit sitzen, war wie betäubt. Endlich begann er zu lachen. Zuerst
war es ein Glucksen, dann ein hohes Kichern, schließlich lachte er
schallend und beugte sich dabei weit vor. Irgendwann weinte er, und
er konnte gar nicht aufhören damit.
Auf einmal saß seine
Mutter neben ihm auf der Bank, legte ihm einen Arm um die Schultern
und sagte: »Ach, mein Junge, das wird schon wieder werden. Das
Leben geht doch weiter, das Leben hört doch nicht auf. Ich glaube,
es ist das Beste, ich schlage dir ein paar Eier in die
Pfanne.«
Unvermittelt setzte
sie wütend hinzu: »Vielleicht ist es ja besser so, wenn Melanie
woanders lebt. Du weißt, dass Papa nie begeistert von ihr war.
Vielleicht ist es besser. Und Anna-Maria ist ja nicht
verloren.«
Sie gingen in das
Haus zurück, und wenig später kam ein Bote mit den Drucksachen. Sie
setzten sich an den Küchentisch und machten sich an die
Arbeit.
Irgendwann schaute er
auf die Uhr, es war 15.20 Uhr. Er fragte sich, was Karen tun
mochte, er sehnte sich nach ihrer Stimme, ging in den Garten und
rief sie an.
»Hier ist Karl«,
sagte er langsam. »Ich will nur wissen, wie es dir
geht.«
»Ich denke an dich.
Den ganzen Tag schon. Wo steckst du?«
»Im Haus meiner
Eltern. Mein Vater ist heute Morgen gestorben.« Ihre Stimme tat ihm
gut, sie machte ihn ruhig.
»Oh, das ist
schlimm.«
»Ja. Wie lief es bei
dir?«
»Ich wollte gar nicht
arbeiten, keine Leute treffen, ich war nicht richtig bei der Sache.
Ich habe so gedacht … Aber hör mal, das interessiert dich doch
jetzt gar nicht. Du hast doch weiß Gott andere
Sorgen.«
»Ich rufe dich an,
weil ich deine Stimme brauche.«
Eine Weile schwiegen
sie.
»Das ist schön«,
sagte sie leise. »Du sagst schöne Sachen so behutsam. Ich kann mir
aussuchen, ob ich sie mag oder nicht. Weinst du?«
»Ich habe geweint,
ja. Jetzt verwalte ich seinen Tod, jetzt kann ich ausweichen. Hast
du schon jemanden verloren?«
»Ja, meine Mutter.
Das war ganz schlimm. Wir hatten gerade beschlossen, dass sie mit
mir in Frankfurt leben sollte. Sie fiel einfach um und war tot. Wir
führten oft eine Art Zickenkrieg, und der fehlt mir jetzt.« Sie
lachte ganz sanft.
»Und wohin verschwand
Herr Swoboda?«
»Nach Australien. Er
fand eine Witwe mit viel Geld.«
»Hast du ihn
ausgehalten?«
»Ja, schon. Er liebte
die Börse und behauptete jeden Tag, er werde am Abend ein reicher
Mann sein. Und ich verdiente die Kohle, die wir brauchten, um die
Miete zu zahlen.«
Müller riskierte die
Frage: »Gibt es denn einen Lebensgefährten?«
»Gibt es nicht.
Spätestens nach einem Monat wollen mir alle ins Geschäft reden,
wissen alles besser. Einer wollte sofort mein Geschäftsführer
werden, und ein anderer sagte mir nach zweiundsiebzig Stunden, mein
Wissen sei schon sehr beschränkt für eine eigene geschäftliche
Existenz. Und sie alle nahmen mein Geld.«
»Sie haben dich
ausgenützt, oder?«
»Allerdings.« Karen
lachte. »Glaubst du, du kannst heute Abend
vorbeikommen?«
»Ja, irgendwie wird
das gehen. Ich rufe dich an.«
Er unterbrach die
Verbindung und wollte ins Haus gehen, als Krause sich
meldete.
»Ich weiß, es ist
nahezu zynisch. Aber ich brauche Sie eine halbe Stunde. Wir haben
etwas Merkwürdiges entdeckt.«
»Ich werde gern
abgelenkt, das ist schon in Ordnung«, erwiderte er.
Es war wie eine
Wiederholung. Krause, wie immer gemütlich wirkend, an seinem
Schreibtisch, hinter ihm Goldhändchen mit der Fernbedienung, auf
der anderen Seite des Tisches Willi Sowinski.
Sie standen alle drei
auf und gaben ihm die Hand. Sie murmelten: »Mein Beileid«, und
Müller wollte dem verlegen ausweichen und sagte: »Es ist schon
gut.«
»Wir haben etwas, was
Sie erstaunen wird«, sagte Krause. »Aber Sie müssen es wissen,
damit wir möglicherweise in dieser Sache weiterkommen. Hatte Achmed
jemals Verbindung zu Russen?«
»Nein«, antwortete
Müller. »Klar, Russen sind in Syrien, vor allem in Verbindung mit
Waffenlieferungen. Auch russische Agenten sind im Lande. Aber
Achmed selbst und Russen? Nie.«
»Was ist mit diesem
Onkel Hussein?«, fragte Willi Sowinski.
Müller überlegte
einen Augenblick. »Onkel Hussein ist ein Strippenzieher mit dem
Segen von ganz oben. Ich gehe davon aus, dass er Russen kennt,
Verbindungen zu ihnen hat. Aber Achmed hat niemals einen bestimmten
Russen erwähnt. Daran würde ich mich erinnern.«
»Dann passen Sie
jetzt mal gut auf«, sagte Krause. »Was Sie sehen, ist ein
Fußgängerüberweg am Europacenter, an der
Gedächtniskirche.«
»Polizeikamera?«,
fragte Müller.
»Ja«, nickte
Goldhändchen. »Aufgenommen heute Mittag, vierzehn Uhr
fünfzig.«
Es war ein
Schwarzweißvideo. Achmed war gut zu sehen in der ersten Reihe der
Fußgänger, die auf Grün warteten. Dann gingen sie los. Nach einem
Schritt schon drehte Achmed sich um und verharrte eine Sekunde.
Links und rechts von ihm tauchten junge Männer auf, mit denen er
lebhaft und offensichtlich freundschaftlich sprach. Dann drehte er
den Kopf und redete zu zwei weiteren jungen Männern, die hinter ihm
gingen.
»Stopp! Stehen
lassen!«, sagte Krause.
Das Bild
stand.
Offensichtlich waren
die fünf jungen Leute gut gelaunt, sie lachten über irgendetwas.
Achmed trug Jeans, Sportschuhe und ein einfaches weißes T-Shirt
ohne Aufdruck. Die Kleidung der anderen Männer war ähnlich einfach.
Allerdings fiel bei ihnen auf, dass sie schwere Halsketten
trugen.
»Kenne ich nicht«,
sagte Müller. »Keinen von ihnen. Nie gesehen.«
»Das glaube ich«,
entgegnete Sowinski.
»Es sind Russen«,
erklärte Krause. »Aber ganz besondere Russen. Es sind Mitglieder
der Dolgoprudnenskaya-Gruppe. Nennen wir sie Dolgos, damit wir uns
nicht die Zungen zerbrechen. Prostitution, Drogenhandel,
Auftragsmorde, Raubüberfälle. Die Gruppe ist groß. Man schätzt sie
insgesamt auf mehr als zweihundert Mitglieder, und sie ist bekannt
für besonders brutales Vorgehen. Ihr Auslandssitz Nummer eins ist
Berlin.«
Eine Weile sagte
niemand etwas.
»Das verwirrt mich«,
kommentierte Müller. »Nein, es überwältigt mich. Achmed war für
mich niemals ein Gesetzesbrecher. Was er mit diesen Leuten zu tun
hat, verstehe ich nicht.«
»Nehmen wir mal
Bargeld an«, bemerkte Sowinski trocken.
»Also, jemand besorgt
Achmed ein gefälschtes Visum und lässt ihn über Kairo nach Berlin
fliegen. Und hier bringt er ihn zusammen mit einer Hand voll der
schärfsten Gangster, die man sich vorstellen kann. Lieber Karl
Müller, was fällt Ihnen dazu ein?« Krause drehte seinen Stuhl
leicht hin und her.
»Nichts«, antwortete
Müller.
Sowinski sah ihn
eindringlich an, lächelte kurz und stellte fest: »Das ist unter
diesen Umständen zu akzeptieren.«
»Ich habe aber
Fragen«, sagte Müller. »Ich wiederhole die Frage, wie denn Achmed
von Damaskus nach Kairo gekommen ist. Und ich habe die Frage, ob
man über die Dolgos die Frage klären könnte, wo zum Teufel Achmed
in Berlin untergekrochen ist.«
»Frage eins können
wir immer noch nicht beantworten. Unserer Meinung nach muss Achmed
auf privatem Weg nach Kairo gekommen sein. Sprich: mit einer
privaten Maschine. Wir haben vier Leute dran, zwei in Damaskus,
zwei in Kairo, und wir beten, dass sie etwas finden.« Krause gab
seinem Stuhl einen kleinen Kick nach hinten und faltete die Hände
über dem Bauch. »Frage zwei. Die Dolgos sind Profis. Natürlich
haben sie zum Teil hier in Berlin ihre Familien, ihre Restaurants,
ihre Kneipen. Aber die haben sie nur, wenn sie auf einen Einsatz
warten. Sind sie auf einem Einsatz, halten sie sich komplett fern
von diesen fixen Stationen. Die vier Männer, die um Achmed herum zu
sehen waren, sind außerdem vor drei Tagen noch in Moskau gewesen.
Das hat unsere befreundete Bruderschaft eindeutig festgestellt. Das
heißt: Sie sind von dort aus hierher in Marsch gesetzt worden, um
irgendeine Sache zu drehen. Aber wir haben nicht die geringste
Vorstellung, welche Sache das sein könnte. Und Sie, mein lieber
Müller, müssen anscheinend von dem Gedanken Abstand nehmen, dass
Achmed sauber spielt. Ich bin Sowinskis Ansicht: Achmed wurde
gekauft. Aber: von wem und weswegen?«
Das grüne Telefon auf
dem Tisch summte leise. Krause nahm ab, hörte zu und reichte dann
den Hörer an Goldhändchen weiter: »Ihre
Forschungsabteilung.«
»Ja«, sagte
Goldhändchen. Dann bekam er kugelrunde Augen, beugte sich weit vor
und sagte zischend: »Mitschneiden, mitschneiden! Und die
Übersetzung, sofort!« Er reichte den Hörer zurück und erklärte:
»Al-Dschasira sendet gerade ein Video. Sie behaupten, irgendwo in
Deutschland wurde zugeschlagen. Ich muss das sehen.« Er drehte sich
um und verschwand.
Eine Weile herrschte
Schweigen, dann meinte Krause nachdenklich: »Ich habe den Eindruck,
wir schliddern gerade in eine Krisensituation.« Er wandte sich an
Müller: »Wenn Sie noch eine halbe Stunde erübrigen könnten, wäre
das gut.«
Sowinski stand auf
und bewegte sich zur Tür hin. »In Deutschland zuschlagen?
Al-Dschasira? Ich kontaktiere mal die Bruderschaft der
Gesetzeshüter.« Dann war auch er verschwunden.
»Ich bin in meinem
Büro«, erklärte Müller. »Ich wäre nur dankbar, wenn ich so schnell
wie möglich zu meiner Mutter zurückkehren dürfte. Sie ist jetzt so
allein, und eigentlich kann ich das nicht
verantworten.«
»Wir machen es
anders«, sagte Krause. »Sie gehen heim und stehen Ihrer Mutter bei.
Sie haben ja Recht, Junge. Und ich werde Sie über alles
informieren, was hier aufläuft. Ist das gut so?«
»Ja, danke«, sagte
Müller. In der Tür drehte er sich und fragte: »Soll das etwa
heißen, dass diese Dinge zusammenhängen?«
»Lasset uns beten«,
antwortete Krause und hielt den Kopf gesenkt, als bete er
wirklich.
Es hatte leicht zu
regnen begonnen, ein Sommerregen, der warm und sanft
war.
Seine Mutter saß am
Schreibtisch seines Vaters und hatte das Testament vor sich
liegen.
»Schön, dass du
kommst, Junge. Willst du es lesen?«
»Nein«, sagte er.
»Vielleicht später einmal. Entschuldigung, dass ich manchmal ein
paar Stunden in den Dienst muss, aber es geht nicht
anders.«
»Das verstehe ich
schon. Wir haben einen Termin für die Beerdigung. Übermorgen um
elf. Was meinst du, würde er Orgelmusik wollen?«
»Das denke ich
schon«, antwortete er. »Was ist mit dem Chor seiner
Schule?«
»Ich weiß nicht, ob
ich seine Kolleginnen und Kollegen wiedersehen will. Aber ich kann
es ja nicht vermeiden, ein paar werden wohl kommen. Und dann ist da
diese Trulla, diese junge Germanistin. Mit der hatte er mal was.
Also, ich weiß ja nicht, wie weit das ging, aber das ist ja auch
egal.«
»Hatte er was?«,
fragte Müller verblüfft.
»Ja, ja, ich hab so
getan, als würde ich nichts merken. Und er war dreißig Jahre älter,
das muss man sich mal vorstellen. Und er rannte mit ihr durch den
Park und hielt Händchen.« Sie stand auf. »Ich glaube, ich mache uns
einen Kaffee. Und? Was hat Melanie gesagt?«
»Dass wir uns erst
einmal trennen und abwarten wollen«, antwortete er. »Sie hat keine
feste Vorstellung, aber sie hat schon ausgerechnet, was ich
monatlich bezahlen muss.«
»Ach, du lieber Gott,
ein Rosenkrieg, die Frau Banker«, murmelte sie und ging hinaus.
Dann sagte sie laut aus der Küche: »Ich habe dir oben das Bett
gemacht. Dann brauchst du nicht in deine neue Behausung. Was ist
eigentlich eine Einraumwohnung genau?«
»Etwas Praktisches«,
antwortete er.
Dann meldete sich
sein Handy.
Krause sagte: »Wir
haben eine echte Krise. Und weil sie mit Achmed in Verbindung
stehen könnte, brauche ich Sie. Darf ich mit Ihrer Mutter
reden?«
»Aber ja«, sagte er
hastig und reichte den Hörer weiter.
»Ja, bitte, Müller«,
sagte sie förmlich. Dann hörte sie zu und nickte sehr heftig.
»Natürlich, wenn es so ist, wie Sie sagen. Er will dich noch mal,
Junge.«
»Kommen Sie bitte
rein«, sagte Krause. »Sie sind der Einzige, der Achmed riechen
kann.«
Es war 16.55
Uhr.
Krause hatte in den
Konferenzraum gebeten, weil zwölf Frauen und Männer teilnehmen
mussten. Müller kam zuletzt, als alle schon saßen.
»Ging nicht
schneller«, erklärte er und lächelte flüchtig in die
Runde.
Willi Sowinski
lächelte zurück, Goldhändchen auch. Krause nickte ihm zu und
presste dabei seine Lippen aufeinander, weil es ihm sicher peinlich
war, Müller zurückgeholt zu haben.
»Meine Damen und
Herren«, begann Krause, »ich fürchte, wir haben eine
Krisensituation, die unseren Dienst zunächst nur indirekt betrifft.
Betroffen sind der Generalbundesanwalt, der Verfassungsschutz, das
Bundeskriminalamt, das Landeskriminalamt Berlin und
selbstverständlich das Bundesinnenministerium sowie die neue
Behörde für Terrorismusbekämpfung. Ich habe Sie zusammengerufen,
weil Sie auf Ihren jeweiligen Sektoren über große Erfahrung und
Wissen verfügen. Ich denke, wir leben gegenwärtig in einer
Bedrohungssituation, über deren Ausmaß wir wenig wissen. Heute ist
in den Mittagsstunden ein Spezialtransporter einer Berliner Firma
überfallen worden. Die beiden Fahrer transportierten vier Pakete
mit radioaktivem Kobalt, Kobalt 60 genannt. Der Stoff war für
Kliniken in Berlin bestimmt. Er ist zur Bestrahlung von
Krebspatienten vorgesehen. Darf ich die Technik bitten, den Raub
dieses Materials, soweit bekannt, zu beschreiben.«
Eine blasse, etwa
vierzigjährige Frau mit langen blonden Haaren und einer randlosen
Brille lächelte nervös, nickte dann und sah auf ein Blatt mit
Notizen hinunter. In knappen Worten schilderte sie den Überfall.
Sie fuhr fort: »Ich bin gebeten worden, mich auf die mögliche
Technik dieses Raubes zu konzentrieren. Der Transporter war
GPS-überwacht, die Handys der Fahrer direkt mit der Zentrale ihrer
Firma in Berlin verbunden. Diese Zentrale allein konnte den
Laderaum des Kleinlasters öffnen und schließen. Wir denken, dass
der Raub mit einem so genannten EMI begann, einem
elektromagnetischen Impuls. Beide Fahrer haben in einem ersten
Verhör betont, dass ein maskierter Mann mit einer Art Waffe auf den
Wagen gezielt hat. Wahrscheinlich handelte es sich um eine bei der
Polizei benutzte Radarpistole. Sie sendet bei höchster Leistung
einen starken elektromagnetischen Impuls aus, der das GPS
gewissermaßen tötet und zugleich die Handys gebrauchsunfähig macht.
Aber diese massive Störung kann ich mit einem EMI nur für einige
Minuten aufrechterhalten. Anschließend muss ich damit rechnen, dass
die zentrale elektronische Steuerung des gesamten Systems, die bei
der Zentrale der Firma hier in Berlin ihren Sitz hat, diese
Funktionen wieder aufbaut, also das GPS neu startet und die Handys
wieder gebrauchsfähig macht. Genau das ist aber nicht passiert. Das
heißt, dass sämtliche Türsicherungen des Kleinlasters auf null
gefahren wurden, dass also sowohl das Fahrerhaus wie die Ladefläche
zugänglich waren und unbegrenzt zugänglich blieben. Der Kleinlaster
hatte zusätzlich eine ganz normale Funkeinrichtung an Bord. Die
Antenne des Gerätes wurde bei Stillstand des Kleinlasters sofort
abgebrochen. Die Täter haben sich also nicht allein auf den
elektromagnetischen Impuls verlassen. Sie müssen außerdem auf uns
unbekannten Wegen an die exakte Bandbreite des GPS-Signals
herangekommen sein. Ebenso auf die stehenden Leitungen der Handys
zur Zentrale des Spediteurs. Das kann unserer Ansicht nach nur
erreicht werden, wenn jemand zum Beispiel mit einem Computer und
den nötigen Kenntnissen dafür sorgt, dass die Sicherheitssysteme
gestört bleiben. Ich verweise hier auf eine grundsätzliche
Tatsache: Elektronische Verbindungen können tatsächlich auf null
gefahren werden. Polizeibeamte haben noch eine Stunde nach dem Raub
festgestellt, dass sowohl das GPS wie auch die beiden Handys der
Fahrer nicht funktionierten. Zusätzlich ist festgestellt worden,
dass die Bundesstraße 321, auf der der Raub vonstatten ging, in
beiden Richtungen abgesperrt wurde. Angeblich von Männern, die
Polizeiuniformen trugen, aber keine Polizisten waren. Die
Schnelligkeit des Raubes, wir veranschlagen etwa vier Minuten und
dreißig Sekunden, deutet auf eine präzise Planung hin. Beide Fahrer
wurden zuerst besinnungslos geschlagen und anschließend mit einem
Schuss durch die rechte Kniekehle bewegungsunfähig gemacht. Das
hatte Hinrichtungscharakter und deutet auf eine ungeheure
Brutalität hin. Beendet wurde der Überfall gegen elf Uhr
achtunddreißig. Sämtliche verwendeten Autos der Gangster waren
vorher gestohlen worden. Die vier Kisten mit dem Kobalt 60 sind
seitdem spurlos verschwunden. Vom Fluchtfahrzeug der Gangster ist
nichts bekannt.«
»Danke«, sagte
Krause. »Natürlich fragen Sie sich, warum wir hier über diesen Fall
sprechen, der doch eindeutig in die Verantwortlichkeit der Polizei
und des Verfassungsschutzes fällt. Nun, wir halten die Möglichkeit
für gegeben, dass eine bestimmte menschliche Quelle aus dem Nahen
Osten bei diesem Überfall beteiligt war. Diese Quelle ist uns
verloren gegangen und wenig später hier in Berlin eindeutig
identifiziert worden. Es handelt sich um einen Mann mit
außergewöhnlichen Fähigkeiten auf dem Sektor der elektronischen
Medien. Er könnte auf der Bundesstraße 321 einen Laptop bedient
haben. Ich lasse jetzt ein Bild dieses Mannes verteilen und bitte
Sie, alle in Ihren Möglichkeiten stehenden Informationen
einzuholen, um ihn zu identifizieren. Wir nennen diesen Mann jetzt
Achmed. Seit etwa einer Stunde wissen wir, auf welchem Wege dieser
Mann hierher nach Berlin gekommen sein könnte. Er wurde
möglicherweise vom deutschen Kaufmann Helmut Breidscheid in einer
Privatmaschine von Damaskus nach Kairo gebracht, dort mit einem
gefälschten Visum ausgestattet und ist dann mit einer normalen
Linienmaschine weiter nach Berlin geflogen. Das bedeutet nicht,
dass dieser Breidscheid irgendetwas mit diesem Raub zu tun hat,
aber auszuschließen ist diese Möglichkeit nicht, wenngleich wir
bisher keine Motivation sehen. Ihre zweite Zielperson heißt also
Breidscheid. Ferner muss ich darauf hinweisen, dass Achmed zusammen
mit Mitgliedern der russischen Dolgoprudnenskaya-Gruppe gesichtet
wurde.« Krause lächelte ein wenig resigniert. »Es kommt, meine
Damen und Herren, etwas hinzu, was uns veranlasste, diese kleine
Zusammenkunft zu arrangieren. Wir können alle Umstände dieser
Begebenheiten kaum in Ruhe diskutieren und nach möglichen
Folgerungen suchen, denn der Raub des radioaktiven Materials wird
spätestens gegen Abend im deutschen Fernsehen in den Nachrichten zu
sehen sein. Das hat damit zu tun, dass ein hoher Polizeioffizier
kurz nach dem Raub des radioaktiven Materials auf der Bundesstraße
321 dort eintraf und daraus durchaus logische Schlussfolgerungen
zog. Er sagte sich: Wenn die Räuber nicht genau wissen, was sie da
geraubt haben, muss man sie sofort warnen, sonst sind sie wegen der
Strahlung alle Todeskandidaten. Wenn sie aber diesen Raub gut
geplant und durchgezogen haben, wenn sie also wissen, dass sie
einen hoch radioaktiven Stoff geraubt haben, muss die
Öffentlichkeit sofort davon unterrichtet werden, denn mithilfe
eines solchen Stoffes kann man eine ganze Landschaft ins Unglück
stürzen. Ich will hier nicht versäumen anzufügen, dass dieser
Polizist seit den Mittagsstunden des heutigen Tages massive
persönliche Schwierigkeiten hat und seine Karriere wohl beendet
ist, denn er hat erstens nicht seine Vorgesetzten informiert und
zweitens nicht die zuständige Pressestelle der Polizei. Er hat
zusätzlich noch etwas veranlasst: Er kennt eine Reporterin der ARD,
die im Wesentlichen für den NDR arbeitet, und hat dieser Frau
sofort gesagt, was geschehen ist. Es kam also ein Fernsehteam zum
Ort des Überfalls. Es kommt noch etwas hinzu: Gegen fünfzehn Uhr
mitteleuropäischer Zeit hat der arabische Fernsehsender
Al-Dschasira ein Video ausgestrahlt, auf dem vier vermummte Krieger
in arabischer Sprache mitteilen, dass sie in Deutschland
zugeschlagen haben und die Unterdrückung des Islam mit allen
Mitteln bekämpfen werden, auch in dem von den USA abhängigen
Deutschland. In diesem Video sieht man eine Szene, die nur auf der
Bundesstraße 321 gefilmt worden sein kann. Wir dürften also, meine
Damen und Herren, in wenigen Stunden eine äußerst unschöne
Krisensituation haben. Ich habe Sie zusammenkommen lassen, weil ich
denke, dass möglicherweise jeder von Ihnen im eigenen Fachbereich
etwas zur Klärung beitragen kann. Wir haben nicht die geringste
Vorstellung, was die Täter mit dem radioaktiven Kobalt vorhaben,
wir wissen nur: Es sollte uns stark beunruhigen. Alle wichtigen
Hinweise bitte direkt an mich. Ich danke Ihnen.«
Es gab Stühlerücken,
gedämpfte Gespräche, die meisten Teilnehmer verließen den Raum
schweigend.
Müller blieb sitzen,
weil er durch das Gehörte verwirrt war, weil das alles zu dem
Achmed, den er kannte, nicht zu passen schien, weil es
unvorstellbar war, dass Achmed auf einer deutschen Bundesstraße mit
ungeheurer Brutalität einen tödlichen Stoff geraubt haben
sollte.
Er sah zu Krause
hinüber und sagte dumpf: »Das alles will mir nicht in den Kopf. Das
passt nicht zu meinem Achmed, das ist ein anderer
Achmed.«
Willi Sowinski
lächelte. »Ich habe schon einmal auf Bargeld verwiesen. Wir sollten
das nicht außer Acht lassen.«
Sie waren jetzt
allein.
»Kann es denn nicht
sein, dass diese Gangster das radioaktive Zeug geklaut haben, um es
schlicht wieder zu verkaufen?«, fragte Müller.
»Damit wären wir beim
Bargeld«, sagte Sowinski.
»Natürlich kann so
etwas hinter dem Raub stecken«, sagte Krause. »Ich habe mich einmal
schlau gemacht, was die wirtschaftliche Seite der Sache angeht.
Kliniken, in denen Tumore bestrahlt werden, erhalten dieses Kobalt
60 in verschiedenen Formen. Generell sind es tennisballgroße
Klumpen des Metalls oder aber winzige Kügelchen etwa von der Größe,
wie wir sie bei Süßstofftabletten finden. Das Teuflische für den
Laien ist, dass die winzigen Kügelchen exakt die gleiche
Strahlkraft haben wie die Tennisbälle. Verschiedene
Bestrahlungsgeräte erfordern unterschiedliche Massen des Metalls.
Im Grunde ist der Bestrahlungsvorgang einfach: Das Kobalt 60 wird
in eine riesige, massive Bleihülle gepackt. Diese Hülle hat ein
einziges, winziges Loch. Das Loch wird auf den zu tötenden Tumor
gerichtet, um möglichst wenig gesundes Gewebe zu zerstören. Ein
Kügelchen von der Größe einer Süßstofftablette kostet ungefähr
vierhundert Euro, misst vier bis sechs Millimeter im Durchmesser
und wiegt fünf Gramm. Hochgerechnet auf unsere vier Tennisbälle,
die geraubt wurden, bedeutet das, die Räuber haben Kobalt 60 im
Wert von rund hundertsechzigtausend Euro erbeutet. Aus dieser Sicht
also eine wirklich lohnende Sache. Aber mich überzeugt die
wirtschaftliche Motivation nicht. Denn gerade in diesem Fall taucht
sofort die Frage auf, warum man dann einen Syrer unter so
komplizierten Bedingungen nach Berlin holt. Mir verrät das eine
weitergehende Planung. Hat Achmed eigentlich Ahnung von Physik, von
Chemie, von Nuklearwissenschaften?«
»Hat er«, bestätigte
Müller dumpf. »Er interessiert sich grundsätzlich für
Naturwissenschaften, der Kerl hat alles drauf, was man sich
wünscht. Er hat mir mal in zwanzig Minuten Einstein erklärt, und er
war dabei so begeistert, dass er wirkte, als habe er die allgemeine
Relativitätstheorie gerade neu erfunden. Er begründete es so: Meine
Söhne werden mir Fragen stellen, und ich will niemals antworten
müssen, dass ich keine Ahnung habe. Ob er über Kenntnisse verfügt,
die radioaktive Stoffe betreffen, weiß ich nicht.«
»Aber es wäre sehr
gut, wenn wir es genauer wüssten«, sagte Krause. »Und jetzt taucht
die Frage auf, was die Gangster noch alles mit dem Kobalt 60
anstellen können.«
»Sie können
erpressen«, sagte Müller schnell. »Politisch erpressen. Sie sind
Terroristen.«
»Sie können eine
schmutzige Bombe bauen«, fügte Sowinski hinzu. »Vor Jahren schon
stand im britischen Independent, dass
Nuklearwissenschaftler befürchten, Terroristen könnten radioaktive
Stoffe auf eine herkömmliche Sprengladung packen und sie hochgehen
lassen. Zum Beispiel Cäsium 137, das ebenfalls zur Bestrahlung
benutzt wird, das aber im Vergleich zu Kobalt 60 ein geradezu
harmloser Stoff ist. Da gab es üble Zwischenfälle sowohl in den USA
als auch in den ehemaligen sowjetischen Staaten. Bei Kobalt 60
haben wir es mit harter Gammastrahlung zu tun.«
»Wie wirkt diese
Strahlung?«, fragte Krause.
»Na ja«, antwortete
der Leiter Operative Sicherheit, »mein Wissen ist nicht gerade
umfassend. Aber diese Gammastrahlung wirkt genau so, wie
Krebspatienten es schildern. Diese Leute kotzen sich buchstäblich
die Seele aus dem Leib, die Haare fallen ihnen aus, der Zustand
verschlechtert sich immer mehr. Eine Überdosis führt schnell zum
Tod. Genau das ist den Opfern von Tschernobyl passiert, die den GAU
nur um Stunden überlebt haben.«
»Das würde Achmed nie
tun«, sagte Müller wütend.
»Verdammt noch mal!«,
fuhr Krause hoch. »Sie müssen doch endlich zur Kenntnis nehmen,
dass Achmed möglicherweise einen Weg geht, der vor zwei Tagen noch
unvorstellbar war. Auf jeden Fall traf er hier in Berlin auf
Mitglieder der Dolgos. Das sind harte russische Gangster, und
niemals hätten Sie Achmed damit in Verbindung gebracht. Irgendetwas
ist passiert, und wir wissen immer noch nicht genau, was. Aber wir
müssen es herausfinden. Unser Präsident wird so sicher wie das Amen
in der Kirche ins Bundeskanzleramt gerufen und muss Auskunft geben.
Und wir müssen ihm die Fakten beschaffen und können nicht sagen:
Das hätten wir uns bei Achmed nicht träumen lassen.« Er stand auf,
ging an das große Fenster und starrte hinaus.
»Sie werden jetzt in
die Charité fahren, mein Lieber. Beide Fahrer sind dorthin geflogen
worden und warten auf die großen Operationen. Ich weiß nicht, ob
sie überhaupt bei Bewusstsein sind, ich weiß nur, dass einer von
ihnen von einem kleinen schmalen Mann mit einem Laptop gesprochen
hat. Und dieser eine heißt Stahlmann und hat möglicherweise Achmed
beschrieben. Niemand weiß, dass die Fahrer hier in Berlin sind,
niemand darf das wissen. Ich ebne Ihnen den Weg.« Er zuckte hilflos
die Achseln. »Ich weiß, dass es nahezu geschmacklos ist, Sie in
dieser Situation um so etwas zu bitten, aber ich habe keine andere
Wahl.«
»Das geht schon in
Ordnung«, sagte der brave Soldat Müller.