Zwischenspiel

 
Achmed schlang das letzte Klebeband um Bombe Nummer zwei. Dabei sah er, dass er am rechten Unterarm Wunden hatte, die wie Verbrennungen aussahen. Schmerzen spürte er nicht.
Er malte auf beide Bomben mit schwarzem Filzstift ein großes A. Dann malte er einen Kreis um die Zonen, die für die Zünder vorgesehen waren. Es gab nichts mehr zu tun, er war mit seiner Arbeit fertig.
Auf der anderen Seite des kleinen Lastwagens schlief Pjotr mit seinen beiden Leuten auf den alten Kornsäcken. Pjotr hatte seine schwere Automatik zwischen beiden Händen liegen, und mit Sicherheit war er fähig, innerhalb einer halben Sekunde aufzuwachen, ein Ziel anzuvisieren und zu töten. Pjotr war ein Tier.
Achmed war müde und hoffnungslos. Zunächst hatte er angenommen, sein Hilferuf sei gehört worden. Aber nichts war geschehen.
Er redete ununterbrochen mit Nour, aber sie konnte ihn ja nicht hören.
Es war morgens um 6 Uhr, die Sonne schien milchig über dem Land, in den Bäumen sangen Vögel.
Was würde passieren, wenn er sich einfach eine Waffe nahm und Pjotr und die anderen beiden erschoss? Dann würde die große Stille herrschen, und wahrscheinlich würde er sich vor Erleichterung übergeben müssen. Aber er würde frei sein. Er würde den Laster nehmen und nach Berlin fahren. Er hatte Charlies Adresse. Es konnte nicht schwierig sein. Er würde berichten, was er erlebt hatte, er würde Nour anrufen und sagen: Ich komme bald heim!
Charlie würde alles richten, Charlie war ein Freund. Na sicher, Charlie war ein Spion, und ein guter dazu, aber in erster Linie war er ein Freund, auf den man sich verlassen konnte.
Achmed ging leise an den drei Männern vorbei und sah Dimitris Sporttasche im Halbdunkel an einer Bretterwand. Er hoffte, dass in der Tasche eine Waffe war, denn als Dimitri starb, hatte er keine bei sich getragen.
Achmed nahm Dimitris Tasche hoch und ging mit ihr auf die andere Seite des Kleinlasters.
Die Reißverschlüsse waren laut.
»Damaskus, du brauchst gar nicht nachzuschauen«, bemerkte Pjotr schläfrig. »Dimitris Waffe ist hier bei mir.«
»Schade«, sagte Achmed. »Die Bomben sind okay. Soll ich sie dir erklären?«
»Später«, bestimmte Pjotr. »Hau dich hin und schlaf eine Weile. Wir haben noch viel zu tun.«
»Ich habe nichts mehr zu tun«, entgegnete Achmed. »Ich bin fertig.«
»Ja. Aber ich muss dich mitschleppen, also hast du noch genug zu tun.«
»Lass mich doch einfach laufen«, bemerkte Achmed. »Ich bin nicht gefährlich für dich.«
»Bist du doch«, sagte Pjotr. »Du bist nämlich ein Schwätzer, Damaskus. Und Schwätzer muss man bewachen.«
»Ich bin nicht gefährlich«, widersprach Achmed. Er fand es erstaunlich, dass er plötzlich gelassener war. »Ich denke, ich könnte dich nicht einmal töten, wenn ich eine Waffe hätte und du keine. Wieso wirst du eigentlich beim kleinsten Geräusch wach?«
Pjotr lachte leise. »Ich bin wie eine Katze, Damaskus, ich schlafe niemals richtig.« Dann lachte er lauter. »Es gibt nur eine Position, in der ich wirklich schlafe. Wenn ich auf meiner Frau liege und weiß, dass auch sie wie eine Katze schläft.«
»Was macht ihr mit den Bomben, Pjotr? Lasst ihr euch ein paar Millionen dafür zahlen, dass sie nicht explodieren?«
»Nein, so läuft das nicht. Wir haben andere Pläne, ganz andere Pläne. Aber erst einmal müssen wir mit den Dingern nach Berlin rein.«
»Hast du keine Angst vor Polizeikontrollen oder Straßensperren oder so etwas?«
»Nein. Aber leg dich hin, Damaskus, und schlaf eine Weile, bis wir abgeholt werden.«
»Wir werden abgeholt?«
»Ja. Hau dich hin und sei friedlich, Damaskus.«
Achmed suchte sich ein paar der Kornsäcke zusammen und lag dann wach und starrte in die dämmrige, blaue Tiefe unter dem Dach der Scheune.
Nour, das Beste ist, du nimmst die Jungs und verschwindest aus der Stadt, dachte er. Es reicht für mich, wenn du deine Adresse zu Hause lässt, damit ich nachkommen kann. Das Beste ist, du gehst in den Libanon und kaufst dir und den Jungs Flugtickets. Gut gefälschte Ausreisevisa kriegt du bei Ermann, du weißt schon, wen ich meine. Am besten nach Kanada oder auch Neuseeland. Es wäre vielleicht gut, vorher unauffällig ein paar Adressen zu sammeln, damit du weißt, an wen du dich wenden kannst, wenn du dort bist. Überall in der Welt sitzen Syrer, und sie werden froh sein, jemanden zu Gast zu haben, der aus der Heimat kommt. Dann kannst du dich in Ruhe umschauen und deine Entscheidungen treffen. Denk dran, dass dort eine Universität sein muss, weil die Jungs doch studieren sollen.
Ich komme nach, Nour, ich verspreche es.
Hier in Berlin ist etwas passiert, mit dem ich nicht gerechnet habe. Ein paar Tricks mit dem Laptop hieß es, solle ich machen, ein paar chemische und physikalische Kleinigkeiten aus dem Internet ziehen. Ich dachte: Es läuft auf eine kleine Erpressung hinaus, auf ein gigantisches Gelächter, auf irgendetwas Festliches wie den donnernden Shakespeare im alten London. Und der Mann hat es auch so formuliert. Er hat gesagt: Ich will meinen Landsleuten richtig Beine machen. Sie sollen aufhören zu jammern und endlich beginnen zu gehorchen. Er erklärte: Ich will nicht ernst machen, kein Blutvergießen, niemandem wird ein Haar gekrümmt. Den Spaß, hat er gesagt, will ich mir etwas kosten lassen, und du, mein Lieber, bist mein technischer Direktor.
Na ja, und da war das Geld. Ich hätte nachdenklich werden müssen, aber ich habe gedacht: Er hat so viel Geld, da kommt es ihm nicht so darauf an. Aber kaum war ich hier, habe ich verstanden, dass es blutiger Ernst ist. Ich sollte meinen Laptop mitbringen, aber nicht ins Internet gehen. Keine Spielerei am Rande, nichts Privates! Dein Laptop, so sagte er, ist unsere Geheimwaffe in den Händen eines Künstlers. Bewahre ihn auf für einen gigantischen Gag. Und dann benutzte ich diesen Laptop für ein Spielchen nach dem alten Muster: Achmed macht nur einen Scherz. Ich stoppte nur ein Auto, und in Sekunden steckte ich tief in dieser Sache, und ich hatte nicht den Hauch einer Chance, zu flüchten oder auszusteigen. Und dann haben sie meinen Laptop mit einem Vorschlaghammer zertrümmert. Anfangs gab es noch Gelächter, sie haben ihren Wodka wie Wasser getrunken und Scherze gemacht. Jetzt trinken sie immer noch Wodka, aber nur, um schlafen zu können.
Nein, liebe Nour, der Mann macht keine Späße, der Mann ist humorlos. Und wir alle sind seine Opfer.
Ich musste eine Bombe bauen, Nour. Dabei habe ich dauernd überlegt, wie ich diese Leute betrügen kann, wie ich statt des Pulvers irgendetwas anderes auf die Bombe packen könnte. Ich versuchte, Sand zu nehmen, aber Pjotr war genau informiert, und ich hatte keine Chance damit.
Ich denke dauernd an dich, Nour. Wenn ich nicht schlafen kann, denke ich an dich und unsere Jahre miteinander. Ich habe immer diese Minuten am frühen Morgen geliebt, wenn du neben mir im Bett liegst und ganz warm bist und dich streckst und dann deine Arme um mich legst, als müsstest du unbedingt beschützt werden. In Wahrheit schützt du mich. Ich hoffe, dass Allah mir die Sekunden zugesteht, die ich brauche, um an irgendeiner fremden Ecke in diesem fremden Land die Kurve zu kriegen und zu verschwinden.
Irgendwann schlief er ein.
 
Er wurde wach, weil Pjotr gegen seine Schuhe trat und sagte: »Damaskus, aufstehen! Erklär mir jetzt die Bomben.«
»Okay, okay«, erwiderte Achmed. »Es ist ganz einfach.«
Er rappelte sich hoch, streckte sich und ging zur Werkbank. »Du hast hier zwei identische Sprengkörper, je zwölf Kilo. Insgesamt gibt es vier elektronische Zünder, die du mithilfe deiner Fernsteuerung auslösen kannst. Hast du die Zünder und den kleinen schwarzen Kasten?«
»Klar«, sagte Pjotr.
»Schau, hier habe ich einen Kreis aufgemalt und die Haftbänder ausgespart. Dort kannst du die Zünder reindrücken in das Material. Okay?«
»Ja, kapiert.«
»Hier habe ich dir angezeigt, wo bei den Bomben oben ist. Da steht ein A. Also: Bei null die Zünder reindrücken und A nach oben.«
»Auf welche Entfernung tut es der Impulsgeber?«
»Du kannst ein paar hundert Meter entfernt sein. Ich denke, ab fünfhundert Meter wird es kritisch. Ideal sind rund zweihundert Meter. Dann stört auch ein Gebäude dazwischen nicht. Und du bist in Deckung und kannst verschwinden.«
»Und du hast keine Schweinerei eingepackt?«
»Was für eine Schweinerei?«
»Na ja, irgendetwas, was mich erledigt.«
»Ich bin doch ein Weichei, warum sollte ich das tun?«
»Na ja, weil du wütend bist.«
»Du könntest mir ein Handy geben, dass ich meine Frau anrufen kann.«
»Ich habe keins«, sagte Pjotr. »Niemand von uns hat eins, solange diese Sache läuft.« Er grinste. »Du bist doch der Zauberer bei uns, Damaskus. Du weißt doch: Wer ein Handy hat, ist auch jederzeit auszumachen. Egal, wo er ist.«
»Darüber würde ich an deiner Stelle nachdenken«, regte Achmed an. Ihm war etwas eingefallen. »Sag mal, Pjotr, hast du schon einmal überlegt, warum du als Chef des Unternehmens auch kein Handy hast?«
»Damit niemand herausfindet, wo ich bin.«
»Damit er dich am Ende kaltmachen kann, weil du erst dann auf ewig die Schnauze halten wirst.«
Pjotr sah ihn an und lächelte. »Bei mir ist das etwas anderes, Damaskus. Ich bin gekommen, um die Sache durchzuziehen, aber niemand weiß, auf welchem Weg ich rausgehe aus Deutschland. Das weiß nur ich allein, mein Freund.«
»Aha«, sagte Achmed und ließ den Stachel tief im Fleisch. »Also, ich packe mal meine Tasche.«
Er brach sich ein Stück Brot ab und aß ein paar Oliven. Dann stopfte er seine Habseligkeiten in die Sporttasche und ging aus der Scheune in die Sonne. Er setzte sich abseits in das Gras, sodass er den Grabhügel von Dimitri sehen konnte. Und er hörte das Gluckern des kleinen Bachs.
Die Russen kamen heraus und setzten sich samt ihren Taschen zu ihm.
»Was machst du mit dem übrigen Material?«, fragte Achmed Pjotr.
»Nichts, das bleibt hier. Wir brauchen es nicht mehr. Wir brauchen auch den Laster nicht mehr, gar nichts mehr.«
»Aber die Scheune ist voller Spuren. Fingerabdrücke, was weiß ich nicht alles.«
Pjotr lächelte milde. »Damaskus. Kannst du dir vorstellen, dass ein deutscher Fahnder mit meinen Fingerabdrücken in Kirgisien auftaucht? Oder mit Jaromirs DNA in Wladiwostok? Wir sind wie Gespenster, Damaskus, wir tauchen auf und wieder unter.«
»Was ist mit euren verdammten Waffen?«
»Wir nehmen sie auf, wenn wir ankommen, wir benutzen sie, und wir lassen sie hier, wenn wir verschwinden. Waffen, Damaskus, gibt es wie Sand am Meer, niemand zählt sie. Und niemand stellt sie bei uns fest. Wenn wir gehen, sind wir Spaziergänger, die freundlich lächeln und kleinen Kindern ein Eis spendieren.«
»Und wenn du dann wieder nach Deutschland musst, wirst du geschnappt, weil sie hier deine Daten haben.«
»Wann muss ich nach Deutschland, Damaskus? Nach drei Jahren, nach fünf Jahren? Das ist morgen, ich lebe heute.« Er sagte: »Du wolltest mir noch die Namen deiner Freunde in Berlin nennen.«
»Ich habe keine«, wiederholte Achmed.
Dann war plötzlich entfernt ein Motor zu hören, und Pjotr griff nach der Maschinenpistole. Er sagte ein scharfes Wort zu den beiden Männern, die sich nicht bewegten, und huschte dann mit unglaublicher Leichtigkeit hinter den dicken Stamm einer Pappel.
Ein weißer Kleinlaster rumpelte heran.
 
 
 
 
Müller erreichte das Haus um 7.45 Uhr, schloss nicht auf, sondern schellte und wartete.
Anna-Maria öffnete ihm und rief entzückt: »Papa!« »Ja«, sagte er und kniete sich neben sie. »Wie geht es dir denn, mein großer Spatz?«
»Ich bin traurig. Gleich kommt Opa in die Erde.«
»Ja, das stimmt.«
»Wohnst du jetzt wieder hier?«
»Nein. Ich will nur ein paar Sachen holen.«
Melanie war in der offenen Tür. »Ich habe dir drei Koffer gepackt und lauter Kisten mit Büchern und Kleinkram. Steht hier alles fix und fertig.«
»Ich brauche den schwarzen Anzug«, sagte er. »Und irgendeine schwarze Krawatte.«
»Ich habe ein schwarzes Kleid«, sagte Anna-Maria. »Das sieht hübsch aus, mit so einem weißen Kragen. Das haben wir gekauft.«
»Am besten ist, du lädst das alles ein. Dann hast du es hinter dir. In dem hellen Koffer ist der schwarze Anzug.« Melanie drehte sich um und verschwand wieder.
Sie macht Tabula rasa, sie schottet sich ab, dachte er flüchtig. Dann nahm er seine Tochter auf den Arm und ging ins Haus.
»Es steht alles im Wohnzimmer«, rief Melanie aus der Küche. »Anna-Maria, komm, wir frühstücken.«
Er setzte seine Tochter ab. »Nun geh, du musst frühstücken. Das wird ein langer Tag.«
»Kommst du manchmal, wenn wir frühstücken, Papa?«
»Ja, mein Schatz.«
Dann sah er die Koffer und Kisten in dem dämmrigen Raum stehen, in dem wie üblich die Rollos halb heruntergelassen waren. Er dachte panisch: Ich weiß nicht, ob ich das wollte.
»Da war so ein komischer Anruf auf dem Anrufbeantworter.« Melanies Stimme kam völlig desinteressiert von irgendwoher.
»Ja, ich weiß«, sagte er augenblicklich. »Eine fehlgeleitete Nachricht, tut mir Leid. Wird nicht wieder vorkommen.«
Dann bückte er sich und nahm zwei Koffer. Er brauchte eine halbe Stunde, um alles in seinem Auto zu verstauen.
»Wir sehen uns dann auf dem Friedhof«, sagte er. Er bemühte sich, freundlich zu sein, aber er war es nicht wirklich. Er küsste Anna-Maria aufs Haar und ging dann mit einem stummen Nicken in Richtung Melanie.
Als er am Steuer saß und den Motor startete, war ihm für eine Sekunde klar, dass er in Selbstmitleid ertrank. Er beschimpfte sich und war bemüht, diese Minuten als einen Neubeginn zu begreifen. Aber er konnte es nicht. Er dachte an die Augen seiner Tochter und fand, dass sie alt ausgesehen hatten, so, als habe das Kind alles längst begriffen. Ich bin gescheitert, dachte er, ich bin elend gescheitert.
 
Er fuhr zu seinem Elternhaus und fand seine Mutter mit Tante Trude am Küchentisch. Sie tranken Kaffee, waren blass und schweigsam und lächelten ihm flüchtig zu.
Er trug die Koffer und Kisten in sein altes Zimmer hinauf und starrte nachdenklich auf das, was von mehr als zehn Jahren geblieben war. Es war erschreckend wenig. Dann nahm er die Tageszeitung und ging mit einer Tasse Kaffee in das Zimmer seines Vaters.
Der Kobalt-Raub war noch immer auf den Titelseiten. Kommentatoren ließen sich weiterhin darüber aus, was wohl geschehen könnte, und die Zitate der Politiker wirkten plump und hilflos. Der Kanzler hatte verlauten lassen, er sehe keinen Grund dafür, dass eine schmutzige Bombe für eine Erpressung herhalten könnte. Die Deutschen hätten ihre muslimischen Nachbarn längst als Freunde begriffen, es gebe im internationalen Konzert keinen Beobachter von Rang, der die These vertrete, die Deutschen seien gegen den Islam. Der Kanzler bemerkte, es sei gerade jetzt an der Zeit, Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. Schließlich sei man nicht eine Sekunde lang bereit gewesen, den Krieg gegen den Irak zu unterstützen. Das werde sich auszahlen.
Unter dem Titel »Bodenloser Leichtsinn« konzentrierte sich ein anderer, großer Beitrag auf mögliche Folgen einer schmutzigen Bombe. Tschernobyl lautete das Schlüsselwort. Man habe die Katastrophe so wenig aufgearbeitet, dass selbst nach Jahrzehnten immer noch nicht bekannt sei, wie viele Tote es denn eigentlich gegeben habe: zehntausend oder zweihundertfünfzigtausend. Im technisch hochgerüsteten Amerika seien in kürzester Zeit rund tausenddreihundert Strahlenquellen verschwunden, größtenteils wohl einfach in den Müll gewandert. In einer brasilianischen Stadt sei auf einer Mülldeponie ein komplettes Bestrahlungsgerät entdeckt worden. Kinder hätten es geöffnet und sich das grellgrüne Zeug ins Gesicht geschmiert. Man müsse dort von etwa vierzig- bis fünfzigtausend Verstrahlten ausgehen. In Georgien hätten Waldarbeiter mit Cäsium 137 gefüllte Benzinkanister gefunden und neben ihnen geschlafen, weil die Kanister so schön warm gewesen seien. Nach vierundzwanzig Stunden seien sie allerdings tot gewesen. Und eine komplett gebaute schmutzige Bombe habe als Warnung an die Regierung eines Tages in einem Moskauer Park gelegen. Es sei sehr wahrscheinlich, dass das in Deutschland geraubte Material nicht in Deutschland verwendet werde, aber die Politiker müssten sich fragen lassen, wie es denn sein könne, dass hoch radioaktives Material bar jeder Sicherheitsmaßnahme fröhlich hin und her gekarrt werde.
Achmed, dachte Müller, wo bist du?
Weil er sich fürchtete, in grenzenlosen, ekelhaften Fantasien zu versinken, rief er Karen an.
»Ich wollte dir nur Guten Morgen sagen.«
»Das ist schön. Geht es dir besser?«
»Ja«, antwortete er. »Und ich hoffe, dass ich diese Träume verliere.«
»Du kannst sie nur verlieren, wenn du sie begreifst. Eines Tages werden sie vergangen sein«, sagte sie lebhaft. »Hol dir Hilfe. Ich habe mir große Sorgen gemacht. Deine Seele ist voll gepackt mit Schwierigkeiten.«
»Ja, das sieht so aus.«
»Sehen wir uns heute noch? Ich meine, ich muss morgen eigentlich nach Frankfurt zurück.«
»Dann geht es nicht mehr«, sagte er mit einem hohlen Gefühl im Magen. »Ich habe heute Nachmittag etwas Wichtiges zu erledigen. Dienstliches. Das kann ich nicht verschieben.«
Plötzlich war ihre Stimme ganz fern. »Da haben wir beide aber Pech.«
»Ja, das haben wir.« Weshalb bat er sie nicht darum, noch zwei Tage zu bleiben? »Dann brauche ich deine Frankfurter Adresse.«
»Ja, klar«, sagte sie. »Hast du etwas zu schreiben?« Sie war freundlich und weit entfernt.
»Ja, klar, habe ich.«
Sie diktierte, er schrieb mit.
»Tja, es wäre ja schön, wenn ich dich mal in Frankfurt sehen könnte.«
Eine plötzliche Wut schoss in ihm hoch, weil er fand, dass sie wie die Verkäuferin im Fleischerladen klang: »Darf es ein wenig mehr sein?«
»Ich finde das nicht gut«, sagte er.
»Was findest du nicht gut?«
»Dass du so einfach verschwindest. Und ich kann nichts dagegen tun.«
Sie schwieg sehr lange.
»Das haben wir aber doch gewusst. Ich meine, das war doch von Anfang an klar, oder?« Sie klang wirklich wie eine Verkäuferin.
»Ja«, antwortete er.
»Warte mal«, sagte sie, »du überlegst dir das. Und dann rufst du mich einfach an und sagst: Ich bin gleich in Frankfurt.«
»Ja, gut. Und pass auf dich auf.«
»Das werde ich.« Sie lachte und unterbrach die Verbindung.
Vielleicht hat sie immer so gelebt, überlegte er wütend. Mal hier etwas mitnehmen, mal da etwas mitnehmen. Warum auch nicht? Das Leben ist kurz, wie solche Leute wahrscheinlich betonen. Und warum sollte sie sich binden? Sie war verheiratet und geschieden. Also hatte sie die Erfahrung schon. Vorausgesetzt, das stimmte. Hieß sie wirklich Karen Swoboda? Hatte sie wirklich eine Werbefirma in Frankfurt? Und wollte er wirklich eine Antwort auf diese Fragen?
 
Bald nahm der Betrieb dieses besonderen Tages ihn voll in Anspruch. All jene Menschen aus der engeren Bekanntschaft und Verwandtschaft, die sich für gute Freunde seines Vaters hielten, klingelten und wollten versorgt werden. So war er denn der trauerumwölkte Sohn, der mit Thermoskannen bewaffnet Kaffee und Tee verteilte, auf einem großen Tablett Sekt und Orangensaft reichte oder belegte Brötchen servierte.
Dazwischen die hohe Stimme seiner Mutter. »Das ist Tante Gerlinde, Karl. Aber du kennst doch Tante Gerlinde noch?« Oder die Feldwebelstimme von Tante Trude: »Wie, du bist der kleine Steppke von vor fuffzehn Jahren? Nicht zu fassen!«
Irgendwann machte die Trauergemeinde sich auf den Weg zum Friedhof, und seine Mutter behielt Recht: Es waren mehr als zweihundertfünfzig Leute, die sich zum Gottesdienst einfanden.
Seine Mutter raunte, als sie in der ersten Bankreihe Platz nahmen: »Also, das geht schief. So viel Platz haben Grüns ja gar nicht.«
»Das regelt sich«, beschwichtigte er.
Dann war plötzlich Anna-Maria neben ihm, und er wurde ein wenig ruhiger, setzte sich und nahm sie auf den Schoß.
Da sein Vater im religiösen Leben der Gemeinde nicht die geringste Rolle gespielt hatte, war dem Pfarrer die schwere Aufgabe übertragen, so zu tun, als habe er ihn gekannt. Der Pfarrer versuchte das jedoch erst gar nicht, sondern erklärte in dürren Worten, der Herr habe den Herrn Müller zu sich in sein Reich gerufen. Und nun wollen wir beten … Der Gottesdienst war erfreulich kurz, der Weg zum offenen Grab auch. Dann stand Müller neben seiner Mutter eine Dreiviertelstunde lang am offenen Grab und musste vielen Menschen die Hand schütteln, von denen er nicht genau wusste, wer sie waren und warum sie seinen Vater verabschiedeten.
Dann sah er Krause.
Er stand in seinem unvermeidbaren beigefarbenen Trenchcoat einhundert Meter entfernt neben zwei Scheinzypressen, hielt die Arme locker vor dem Bauch verschränkt und wirkte wie ein interessierter Spaziergänger, der bei seinem Gang durch den Friedhof zufällig auf Lebende trifft.
Müller war augenblicklich beglückt, denn das war ohne Zweifel eine Ehre. Und mehr noch fühlte Müller, dass dieser Krause es war, bei dem er ein Zuhause gefunden hatte.
»Junge«, sagte seine Mutter neben ihm mahnend, »das ist Klara, mit der du mal im Sandkasten gespielt hast.«
»Hallo, Klärchen«, sagte Müller. »Schön, dich zu sehen.«
»Ich lebe jetzt in Bremen«, sagte Klara aufgedreht. »Und ich habe vier Kinder.«
»Das ist schön!«, sagte Müller wenig überzeugend.
Als er den Kopf wieder hob, um nach Krause Ausschau zu halten, war er nicht mehr zu sehen, der Platz neben den Zypressen leer.
Er hat einen Spaziergang gemacht, dachte er. Das tut er oft. Diesmal, weil mein Vater beerdigt wurde, hierher auf diesen Friedhof. Es ist gut, dass ich Teil dieses Mönchsordens bin.
»Ich habe schon einhundertvier Leute zu Grüns eingeladen«, tuschelte seine Mutter.
»Das packen wir«, sagte er beruhigend.
»Wir gehen dann heim«, bemerkte Melanie. »Ich muss noch einmal in die Bank.«
»Aber natürlich, mein Liebchen«, sagte seine Mutter mit dem Charme einer Eisenfeile.
Dann standen sie endlich allein vor dem Schacht des Grabes, seine Mutter nahm eine Hand voll Erde und ließ sie auf den Sarg fallen. Sie sagte: »Du weißt ja gar nicht, wie sehr er mir fehlen wird. Wenn du fünfzig Jahre lang neben einem Menschen am Morgen aufwachst, dann kannst du dir nicht vorstellen, wie es ist, ohne ihn aufzuwachen.«
»Ich bin da, auch wenn ich ihn nicht ersetzen kann«, sagte er. »Ich verspreche dir, da zu sein.«
Dann sah er Karen.
Sekundenlang hatte er das Gefühl einer Sinnestäuschung, aber Zweifel gab es nicht. Auch sie trug einen Trenchcoat. Sie war nicht weiter entfernt als dreißig oder vierzig Meter. Gelassen ging sie auf einem schmalen Pfad zwischen Gräberreihen, schaute zu ihm hin, nickte und ging weiter. Zweifelsfrei: Karen Swoboda mit der Löwenmähne.
»He, Moment mal«, sagte er hastig und laut. Er wollte losstürzen. Aber dann merkte er, dass Karen offensichtlich kein Treffen wollte, denn ihre Schritte wurden immer schneller, und Müller war der Weg durch viele Menschen versperrt, die nur langsam vorwärts kamen.
»Was ist denn, mein Junge?«, fragte seine Mutter irritiert.
»Eine alte Freundin«, sagte er. »Ich bin erstaunt, sie hier zu sehen.«
»Dann lass uns jetzt zu Grüns fahren. Wieso alte Freundin?«
Er musste lächeln. »Na ja, eine wirklich gute alte Freundin eben.«
»So was hast du, Junge?«
»So was habe ich, Mama.« Er fasste sie behutsam am Ellenbogen, und sie gingen langsam von dem Grab fort.
»Und wann siehst du Anna-Maria? Geht das so wie nach den modernen Ehescheidungen? Zwei Stunden alle vierzehn Tage, und wenn du zweieinhalb Stunden daraus machst, bricht die Welt zusammen?«
»Ich hoffe nicht«, sagte er. »Und jetzt geht es zur Fütterung der Raubtiere.«
Er fragte sich, warum Karen gekommen war. Ausgerechnet zur Beerdigung seines Vaters. Und warum sie nicht einfach zu ihm hingekommen war, obwohl sie doch wissen musste, dass ihm das geholfen hätte. Erst Krause, dann Karen. Er war sehr verwirrt.
Bei Grüns hatte man das Personal verdoppelt, der Saal war voll, es herrschte Lärm wie in einem überfüllten Bahnhof. Mit Erleichterung stellte Müller fest, dass seine Mutter sich begeistert ins Gewühl stürzte und mit allen möglichen Leuten gleichzeitig sprach, wobei sie sich groteskerweise dauernd wie eine Tänzerin drehte.
Jemand dicht vor ihm sagte erleichtert: »Mein Junge, endlich kriege ich dich zu fassen! Ich wollte ja etwas zum Tod meines Bruders sagen, und ich habe seit Tagen darüber nachgedacht, wie ich das tun kann, dass es wirklich jedem, der hier ist, etwas gibt. Wir Älteren haben ja die Pflicht, nicht einfach irgendetwas zu sagen, sondern etwas, das bleibt, über das man nachdenken kann, was einem einfällt, ehe man abends einschläft. Und da mein Bruder ja eine tief gläubige Person war, ist mir Folgendes eingefallen. Wir waren doch vier Geschwister daheim …«
Er hatte aufdringlich gelbe Zähne und heftigen Mundgeruch. Ich mag ihn nicht, dachte Müller.
»… und da gibt es eine köstliche Begebenheit, die uns allen tief im Gedächtnis geblieben ist. Eines Abends kam unser Vater, den dein Vater ja sehr verehrt hat, leicht bedudelt nach Hause und rief die Familie zusammen. Du siehst, ich will auf die Familie hinaus, deshalb erzähle ich diese Geschichte, deshalb ist sie so wertvoll. Also, unser Vater ruft die Familie zusammen, sitzt da in seinem Sessel und dröhnt: Nun hört mal gut zu! Also, so würde ich gern anfangen, wenn du nichts dagegen hast. Und dann kann man ohne Schwierigkeiten überleiten zu meinem eigentlichen Anliegen. Das heißt: Familie und Gott, und ich denke mir das so, dass …«
»Hör zu«, sagte Müller scharf. »Mein Vater ist beerdigt worden, dein Bruder. Du kannst um ihn trauern. Aber wenn du eine Rede schwingen willst, obwohl hier alle nur etwas essen und sich friedlich unterhalten wollen, dann schwinge diese Rede draußen auf dem Parkplatz. Mein Vater war niemals eine tief gläubige Person, und ich verbiete dir, hier laut zu werden. Ist das klar?«
 
 
 
 
Gegen 14 Uhr verließ Müller die Trauergesellschaft, fuhr nach Hause und zog sich um. Als er in die Kühle der Tiefgarage des Amtes tauchte, wurde er augenblicklich ruhiger und fand es richtig, Karen nicht angerufen zu haben. Welche Beweggründe sie auch immer gehabt hatte, auf dem Friedhof zu erscheinen, sie würde es ihm erklären. Dann stahl sich für eine Sekunde die Frage in sein Bewusstsein, ob Karen Swoboda möglicherweise hatte prüfen wollen, ob er tatsächlich einen Vater hatte, der verstorben war und an diesem Tag beerdigt wurde.
Auf seinem Besuchersessel hatte jemand die komplette Ausrüstung eines SEK-Mitgliedes ausgebreitet. Darauf lag ein Zettel: »Ich hoffe, du hast dir keinen Bauch angefressen. Mach es gut und viel Glück! Herbie.«
Er begann sofort, sich umzuziehen, und wurde von einem Sturm an Erinnerungen überwältigt. An das oberste Prinzip des SEK, die Freiwilligkeit. Wer gehen wollte, sollte gehen. Der Dienst ging immer vor. Wenn er gerufen wurde, durfte er niemandem je sagen, wohin. Er war Teil einer Elite gewesen. Chancenlos, die Überstunden zu zählen. Das, was wirklich zählte, war der Korpsgeist. Der war beim SEK stärker als jede Verbindung zu einer Frau.
Es klopfte, und Krause stand in der Tür.
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«
»Natürlich.«
»Es ist ziemlich denkwürdig, Sie zu sehen, wie Sie sich in einen Kampfanzug der Polizei zwängen, junger Freund. Sie sind beigeordnet, also hinten bleiben und nichts riskieren. Die Leute des SEK wissen, dass Sie ein BND-Mann sind. Es ist ihnen aber nicht klar gesagt worden, weshalb Sie eigentlich dabei sind. Das Ziel ist: mögliche Zielpersonen, den Kobalt-Raub betreffend, festzustellen und unschädlich zu machen. Wir sind in dieser Sache sehr vorsichtig vorgegangen und haben uns beim SEK wie auch beim Bundeskriminalamt mit Leuten zusammengetan, die wir kennen und denen wir vertrauen. Wir haben bewusst darauf verzichtet, den Verfassungsschutz oder den Militärischen Abschirmdienst zu verständigen. Die einfache Begründung: Wir wollen keinerlei Wirbel und schon gar keine Hektik. Und wir wollen undichte Stellen zu den Medien unter allen Umständen auf ein Minimum beschränken. So lange wir kontrollieren können, wem wir was sagen, so lange können wir davon ausgehen, dass die Fährtensuche intensiv, aber ohne jede Hetze durchgeführt wird. Unser Achmed hat viele Fragen aufgeworfen. Eine nur scheinbar deutliche Spur ist das Video vom Fernsehsender Al-Dschasira, worin diesem Land gedroht wird. Im Grunde hängt diese Spur aber genauso in der Luft wie die zu Helmut Breidscheid. Bei Breidscheid haben sich zwar merkwürdige Aspekte ergeben, aber nichts deutet bisher darauf hin, dass er kriminell ist. Er ist ein knallharter, international arbeitender Geschäftsmann, was aber nicht bedeuten muss, dass er Kobalt klauen lässt. Es fehlt bisher jegliches Motiv. Die dreihunderttausend Dollar bei Achmed unterm Bett deuten zwar Skurriles an, aber Beweise irgendwelcher Art, die eindeutig kriminelle Hintergründe haben, konnten wir nicht finden. Die Hinzuziehung von Russen oder Bewohnern ehemaliger Ostblockstaaten ist zwar eindeutig bewiesen, führt aber keinesfalls direkt zu Achmed oder aber zu Breidscheid. Das heißt, uns fehlen die Beweise für irgendwelche handfesten Verbindungen, wir haben einen Brei, ein Durcheinander an Dingen, die eigentlich nicht zueinander passen, aber offensichtlich miteinander zu tun haben. Achten Sie also auf Verbindungsstücke. Wir müssen den Kreis Achmed-Breidscheid-Russen-Kobalt schließen, und ich sage Ihnen ganz offen, dass ich das für ein sehr trübes Gewässer halte. Zuweilen aber kann sich durch ein bisher nicht bekanntes Segment alles zusammenfügen. Achten Sie auf solche Segmente.« Er grinste leicht.
Müller lächelte. »Ich wollte Ihnen danken, dass Sie bei der Beerdigung waren.«
»Oh, das war reiner Egoismus. Ich brauche Müller pur, nicht irgendeinen Verschnitt. Ich wollte einfach sehen, wie es Ihnen geht. Goldhändchen wird Ihnen nach Ihrer Rückkehr einiges über Breidscheid verklickern. Der Mann ist ein Phänomen, das verspreche ich. Und jetzt machen Sie es gut. Ich muss mich jetzt meinem Freund vom Mossad widmen. Sie sind schon alle da: das FBI, die CIA, der Mossad und selbstverständlich die Russen. Und das alles zusammen ergibt einen teuflischen Eintopf.« Er lächelte schmal und ging hinaus.
Dann ging es sehr schnell. Jemand kam herein, sagte: »Mein Name ist Schneider, Vorname Jürgen. Und du bist Karl oder Charlie oder der Kleine, wenn mich nicht alles täuscht.« Er war ein schmaler Zweimetermann mit einem offenen, sympathischen Gesicht. »Ist die Ausrüstung okay?«
Müller nickte.
»Gut. Hier ist eine P226 für dich.«
»Die will ich nicht«, sagte Müller hastig.
»Du wirst sie nehmen«, bestimmte Schneider. »Du musst sie bei dir tragen. Für den Fall einer Selbstverteidigung. Vorschrift.«
»Na ja, denn«, murmelte Müller und steckte die Waffe in die Lederschlaufe am Gürtel. »Wir können.«
»Und bei Kampfhandlungen will ich dich ganz hinten sehen. Hinterm warmen Ofen.«
»Gut«, nickte Müller.
 
Der Bus des SEK war ein dunkelblauer Mercedes und vollkommen zivil, nichts ließ Polizei erkennen, nur die Scheiben waren stark getönt. Müller grüßte vage in die Runde und ließ sich auf einen freien Sitz unmittelbar hinter dem Fahrer sinken. Mit dem Fahrer zusammen waren sie jetzt vierzehn Männer, mit Ausnahme von Müller alle bis an die Zähne bewaffnet, niemand trug einen Helm.
»Also, Kinder«, sagte Schneider und drehte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten. »Der Mann, den wir eingeladen haben, war mal viele Jahre bei unserem Verein. Er heißt Charlie für euch, für den Fall, dass ihr den Namen braucht. Bei eventuellen Auseinandersetzungen wird er ganz hinten sein, ist aber unbedingt zu schützen. Das geschieht nach Schema elf. Wir nehmen die Autobahn 11 und gehen dann auf die 20 bis zur Ausfahrt Pasewalk. Vier Kilometer vor Pasewalk liegt ein Ort namens Rollwitz. Das ist Ziel Nummer eins. In diesem Rollwitz gibt es eine alte, längst aufgelassene Gastwirtschaft. Dort finden Treffen unbekannter Art angeblich von Ausländern aus den östlichen Nachbarstaaten statt. Die örtliche Polizei sagt, dass deswegen keine Unruhe herrscht und niemals irgendwelche Zwischenfälle gemeldet wurden. Keinerlei Auffälligkeiten also. Wie die Polizei weiter sagt, haben sie sich auch deshalb nicht darum gekümmert, weil sie hoffnungslos unterbesetzt sind. Wir kommen von hinten rein, gehen rein, nehmen fest oder auch nicht. Es muss schnell gehen. Wir gehen nach Schema vier vor. Wir werden dann an die örtliche Polizei übergeben und verschwinden. Ziel Nummer zwei klingt abartig, aber da wir schon mal in der Gegend sind, wollen wir uns das auch noch ansehen. Nach Mitteilung eines Bürgers aus Pasewalk, der sich ganz ernsthaft als der Sohn von Spiderman bezeichnet und der auch so gekleidet ist, müssen wir zu einer Scheune, die mitten in der Pampa liegt. Angeblich finden wir dort jede Menge Russen, Georgier, Rumänen, Bulgaren, Polen. Sagt Spiderman junior. Wir werden sehen. Bisher hat es verdeckte Erhebungen gegeben durch die Bundeswehr, die Spähtrupps durch die Region laufen ließ. Kein Ergebnis. Dann haben rund zwanzig zivile Fahnder sich über die ganze Region verteilt, aber ebenfalls nichts gefunden. Zu eurer Kenntnis: Wir haben die Spuren Nummer dreihundertfünfundsechzig und sechshundertelf zugeteilt bekommen. Und wahrscheinlich müssen wir wieder damit rechnen, nichts zu finden.«
Der Fahrer war sehr schnell und blieb konstant auf der linken Fahrspur. Müller schätzte, dass er mit hundertachtzig Stundenkilometern fuhr.
»Seid ihr ständig mit diesem Kobalt-Fall beschäftigt?«, fragte Müller.
Schneider nickte. »Wir erledigen pro vierundzwanzig Stunden drei bis sechs besondere Ziele, bei denen unklar ist, was sie bedeuten. Das hat schon drei Stunden nach dem Raub des Materials begonnen. Wir haben kaum geschlafen. Was glaubt ihr denn? Haben wir eine schmutzige Bombe im Raum Berlin?«
»Wir müssen sicherheitshalber davon ausgehen«, sagte Müller. »Sonst könnten wir am Ende dämlich aussehen.« Dann schwieg er, weil er nicht wusste, was Schneider wissen durfte und was nicht.
Nach etwas mehr als einer Stunde hatte der Fahrer die Ausfahrt Pasewalk erreicht und nahm die Bundesstraße 109. Vor der Einfahrt in den Ort Rollwitz hielt er an.
Schneider bediente eine Reihe kompliziert aussehender Geräte vor ihm, setzte sich Kopfhörer auf und sprach in ein Mikrofon. Nach drei Minuten wandte er sich um und sagte: »Wir haben eine Lage. Das Gebäude dieser Gaststätte liegt etwas zurück von der Straße. Davor ist ein großer Parkplatz. Unmittelbar an das Hauptgebäude schließt sich nach hinten ein großer Saal an. Rechts in diesem Saal liegen die Toiletten. Hinter dem Gebäude liegt ebenfalls ein großer Parkplatz. Vor dem Gebäude parkt niemand, dahinter etwa fünfundzwanzig Pkw. Von diesem Platz kommen wir auf zwei Wegen in den Saal, ein Eingang rechts, ein Eingang links. Von vorn gibt es nur den Eingang durch die Gaststätte. Ich will, dass drei Leute links hineingehen, drei Leute rechts. Achtung, die drei Leute rechts: Ihr kommt an den Toiletten vorbei, nichts übersehen. Ich gehe mit drei Männern von vorne hinein. Conny und Albert, ihr passt auf Charlie auf. Die Übrigen sichern das Gebäude durch bis in den Dachboden. Wichtig zu wissen: Das gesamte Gebäude ist offiziell unbewohnt, auch im ersten Stock. Die Gaststätte ist seit etwa zwölf Jahren außer Betrieb, der Eigner ist festgestellt, will aber mit den Fremden in seinem Haus angeblich nichts zu tun haben. Es wird vermutet, dass er den gesamten Komplex einfach vermietet hat. Wir können, Schorsch, und der Zugriff erfolgt genau in null plus zwei Minuten. Alles wie gehabt, Einteilung ist bekannt. Helm auf zum Gebet.«
Der Fahrer Schorsch fuhr mit Vollgas seitlich an dem Gebäude vorbei und parkte unmittelbar auf der Rückseite. Die Männer waren sofort draußen, kannten ihre Zuordnungen und verloren keine Zeit. Sie standen mit entsicherten Waffen an den Eingängen.
Müller hielt sich an Schneider, der im Laufschritt an der linken Seite des Gebäudes entlanglief und dann vor dem Haupteingang stehen blieb. Es war vollkommen still, bis Schneider »Zugriff!« in sein Mikrofon sagte.
 
Die Eingangstür war verschlossen.
Jemand sagte knapp: »Hebel rein!«
Einer der Männer trat nach vorn und setzte einen stählernen Hebel an. Es knallte und splitterte, die Tür schwang auf.
Müller dachte: Schade, es war eine schöne alte Eichentür. Er ließ die Männer an sich vorbeigleiten und kam dann selbst in die uralte Dorfkneipe. Es roch stark nach Hefe. Einen Augenblick lang störten ihn die zwei schweigsamen Männer hinter ihm. Er dachte: Wenn ich jetzt angegriffen werde, will ich diese verdammte Pistole nicht berühren. Ich kann es einfach nicht.
Rechts von der Theke war eine Tür, über der ein Schild mit der Aufschrift SAAL angebracht war. In der Mitte hinter der Theke führte eine Tür offensichtlich in die Küche, denn Müller sah weiß geflieste Wände. Er ging langsam durch die Tür in Richtung Saal, die beiden Begleiter links und rechts einen Schritt hinter ihm.
Sie gerieten in eine bizarre Szene.
Im Hintergrund an zwei langen, aneinander gestellten Tischen saßen vier Männer in Hemd, Krawatte und Anzug. Vor ihnen standen vier Telefone und einige Flaschen mit Mineralwasser. Genau vor diesen Tischen standen Bankreihen, insgesamt sechs. Und auf diesen Bänken hockten Männer, einige hatten Frauen neben sich. Fast alle Männer rauchten und hatten Aschenbecher auf dem Fußboden stehen. Es wirkte wie die Versammlung eines Bürgervereins.
Schneiders Männer sicherten ab, und ein paar von ihnen sammelten die Ausweise der Leute ein. Niemand sprach ein Wort.
Schneider kam zu Müller und fragte: »Wofür hältst du das hier?«
»Für ein illegales Arbeitsamt«, sagte Müller.
Schneider nickte. »Kann stimmen. Aber Kobalt gibt es hier nicht. Ich fürchte, wir müssen weiter zu Spiderman.«
In diesem Augenblick löste sich ein junger Mann mit hellblondem Haar aus der letzten Bankreihe und rannte mit weit vorgestrecktem Kopf blitzschnell auf den linken hinteren Ausgang des Saales zu.
»Oha!«, sagte Schneider neben Müller ganz ruhig.
Es gab keine Sekunde der Aufregung, niemand brüllte irgendetwas, nur das Trommeln der Schuhe des Flüchtenden war zu hören.
Dann traf er auf den SEK-Mann, der den Ausgang sicherte. Der Mann zeigte keinerlei Reaktion. Der Flüchtende versuchte ihm in vollem Lauf auszuweichen, drehte unwillkürlich nach rechts, streckte die Hände weit vor und prallte dann gegen einen mannshohen gusseisernen Kanonenofen, der wahrscheinlich schon viele Generationen von Dörflern gewärmt hatte. Der Junge blieb liegen.
»Ich brauche einen Arzt«, sagte Schneider in sein Mikrofon.
»Und ich brauche diesen Jungen«, bat Müller.
»Geht klar«, nickte Schneider. »Falls er sich nicht das Kreuz gebrochen hat.«
Weil Unruhe hochkam und einige Leute anfingen, sich schnell und unkontrolliert zu bewegen, ging Schneider nach vorn und sagte: »Keine Angst! Niemand wird verhaftet, niemandem geschieht Unrecht. Bleiben Sie ruhig.«
Dann wandte er sich einem seiner Leute zu und sagte: »Von den vier Chefs hier vorne tragen die beiden rechten Waffen. Im Jackett. Nimm sie ihnen ab.«
Der Angesprochene nickte nur und sagte in sein Mikrofon: »Ich brauche Deckung.«
Sofort kamen zwei SEK-Mitglieder aus dem Hintergrund des Saales. Sie stellten sich neben den vier Chefs auf, die nach wie vor vollkommen reglos auf ihren Stühlen hockten, und richteten ihre Maschinenpistolen auf sie. Dann gaben sie kurze, knappe Befehle. »Aufstehen! Rücken zu mir! Hände auf den Kopf! Keine Bewegung!«
Nach einer Weile sagte jemand: »Es sind alte Walther PPK. Wunderbar gepflegt, richtig schöne Stücke.«
Schneider kam zurück zu Müller. »Es sind außer den vier Chefs sechsundvierzig Leute. Alle wollen Arbeit, sonst nichts. Sie haben alle Touristenvisa, und wahrscheinlich sind die sogar echt.«
Von hinten kam ein Mann mit einer schweren Arzttasche nach vorn, in seinem Gefolge zwei Sanitäter. Sie gingen zu dem Kanonenofen und knieten sich neben den jungen Mann.
Es war still, kein Laut war zu hören. Schneider ging wieder nach vorn und erklärte: »Schreiben Sie bitte Ihren Namen und die gültige Adresse auf Zettel, die ich jetzt verteilen lasse. Sie können bald nach Hause gehen.«
Der Arzt am Kanonenofen stand auf und sagte laut: »Alles klar hier. Kein körperlicher Schaden, aber leichter Schockzustand. Ich vermute, das war die Aufregung.«
Müller ging hin und sagte zu dem Jungen: »Ich möchte mit dir sprechen.«
»Ich nicht sprechen«, antwortete der Junge. Er saß mit angezogenen Knien auf dem alten Bretterboden. »Nix deutsch.«
Müller versuchte es auf Englisch. »Kann ich mit dir reden?«
»Englisch geht klar«, sagte der Junge und stand auf.
»Dann komm, wir gehen in die Gaststätte.« Er fragte zu Schneider hinüber: »Wie viel Zeit habe ich?«
»Zehn Minuten.«
Der Junge war vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt, und er zitterte vor Angst und Aufregung. Er setzte sich ein wenig holprig in Bewegung und legte dabei beide Hände auf den Kopf.
»Wir sind nicht im Krieg«, sagte Müller. »Du bist ein freier Mann. Nimm die Hände runter.«
Als der Junge sich setzte, machte Müller eine unvermutet heftige Bewegung, und der Junge zuckte ängstlich zusammen.
Er hatte ein längliches, sehr blasses Gesicht mit klugen, unruhigen Augen. Seine Hände waren lang, elegant und gepflegt. Seine Kleidung war billig und oben am Hals war sie leicht ausgefranst und mit Schweißflecken durchsetzt.
»Alles klar«, sagte Müller eindringlich. »Du brauchst keine Angst zu haben. Keine Ausländerbehörde. Mein Name ist Charlie. Wie heißt du?«
»Vitali.«
»Aus welchem Land kommst du?«
»Rumänien.«
»Wie alt bist du?«
»Dreiundzwanzig.«
»Wie lange bist du in Deutschland?«
»Achtundzwanzig Monate.«
»Mit einem Touristenvisum? Und das ist natürlich längst abgelaufen?«
»Ja.«
»Okay. Vitali, ich brauche Hilfe. Kennst du diesen Mann?« Er ließ ein Foto von Achmed über den Tisch segeln.
Die Antwort kam sofort und energisch: »Kenne ich nicht.«
»Arbeit bekommst du von den vier Männern da im Saal?«
»Ja. Sie werden angerufen, du kannst mich buchen. Ich koste zehn Euro die Stunde.«
»Und wie viel davon bekommst du?«
»Vier Euro.«
»Und du arbeitest mal hier und mal da?«
»Ja. Meistens in Berlin. Ich mache Gärten und so was. Manchmal passe ich auch auf Kinder auf oder helfe in Restaurants. Was eben so anfällt.«
»Du weißt, dass radioaktiver Stoff geraubt wurde?«
»Jeder weiß das. Die Leute haben Angst.«
»Das stimmt. Hast du in Berlin irgendetwas gehört von einer Gruppe, die etwas mit diesem Stoff zu tun hat?«
»Nicht direkt.«
»Was heißt: nicht direkt?«
»Na ja, man hat gesagt, das wären Russen oder Polen oder Leute aus Georgien. Sie bringen Unglück, sie bringen Gerüchte. Ich habe Russen getroffen, die waren stinksauer deswegen.«
»Hast du jemals gehört, wo diese Gruppe steckt? Wo sie sich versteckt hält?«
»Nein. Muss ich jetzt sofort nach Rumänien zurück?«
»Ich werde versuchen, etwas für dich zu tun, versprochen. Hast du jemals von einem Mitglied dieser Gruppe etwas gehört? Einen Namen? Einen Spitznamen?«
»Ja. Einer soll Pjotr heißen. Das soll der Chef sein. Aber ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt. Dann habe ich von einem Mann gehört, der Dimitri der Riese genannt wird. Aber sonst nichts.«
»Was sagen die Leute so? Was hat diese Gruppe vor?«
»Niemand weiß Genaues. Die meisten denken: Die werden eine schmutzige Bombe bauen und dann irgendeinen erpressen. Den Staat. Was weiß ich.«
»Und niemand hat etwas darüber gesagt, wo diese Leute sich aufhalten?«
»Sie sagen: Die halten sich da auf, wo du keinen Russen suchst. Aber ich weiß nicht, wo das ist.«
»Was ist mit Terrorismus?«
»Na ja, ein paar denken, es sind Terroristen. Aber die meisten glauben, es sind keine Terroristen. Die wollen nur reich werden und wieder verschwinden.«
Schneider kam aus dem Saal. »Charlie, wir müssen!«
»Ich habe ein Problem«, sagte Müller. »Mit dem Jungen hier müsste mein Chef dringend reden. Ist das hinzukriegen?«
»Schwierig. Sollen wir ihn mit einem Dienstwagen nach Berlin schicken? Und du garantierst mir dafür, dass er dann dem LKA oder BKA überstellt wird? Sagen wir: zehn Stunden für euch?«
»Das wäre gut.«
»Dann arrangiere ich das schnell. Ich kläre das später mit meinem Chef. Das kann ich verantworten.«
Müller reichte Vitali die Hand und sagte: »Okay. Du gehst jetzt auf eine kleine Reise nach Berlin. Keine Angst, Vitali. Vielleicht finden wir eine Lösung.«
Dann rief er Krause an, erreichte ihn nicht und sprach stattdessen kurz auf das Band: »Ich schicke einen jungen Rumänen, der etwas von Pjotr weiß, der der Chef der Kobalt-Räuber ist. Nach zehn Stunden müsst ihr ihn überstellen.«
Draußen hatte mittlerweile die SEK-Gruppe an die Polizei übergeben.
Müller war einen Augenblick lang in Versuchung, Karen anzurufen, ließ es dann aber sein, weil er nicht wusste, was auf ihn zukam und wann er wieder in Berlin sein würde. Er hoffte inständig, dass sie noch da war.
Als alle wieder im Bus waren, griff Schneider zum Mikrofon und bedankte sich für die schnelle und gründliche Arbeit. »Wir fahren jetzt zu Spiderman, der behauptet hat, die Gruppe um den radioaktiven Stoff zu kennen oder im Traum gesehen zu haben. Wie auch immer, wir haben noch keine Lage und treffen zunächst Spiderman bei einem praktischen Arzt namens Kirsch in Pasewalk. Das erledige ich mit Charlie. Schorsch, wir können.«
Schorsch brauchte nur ein paar Minuten, hielt dann vor einem Einfamilienhaus in einem großen Garten und sagte: »Hier müsst ihr rein.«
Der Arzt öffnete die Tür und lächelte sie an. Er war etwa fünfzig Jahre alt und hatte ein von Falten vollkommen zerklüftetes Gesicht. Er erklärte: »Spiderman erwartet Sie, meine Herren. Und er ist sehr aufgeregt: Er wird wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben ernst genommen. Zu Spiderman selbst sage ich Ihnen nur, dass er vollkommen verrückt ist. Aber auf eine sehr verträgliche, nette Art. Er hat noch niemals Gewalt angewendet. Er ist zweiundvierzig Jahre alt und lebt mit seiner Mutter zusammen. Niemand kennt seinen Vater. Er war anfangs wahrscheinlich ein Borderliner, entwickelte sich dann aber immer weiter in Richtung klassisch verrückt. Aber: Er ist durchaus nicht zurückgeblieben, und wenn er meint, er hat in der alten Stockmannscheune Russen und Polen gesehen, dann können dort durchaus Leute sein. Bei ihm weiß man nie so genau, was reine Fantasie ist und was von der Wirklichkeit angestoßen wurde. Ich bin nur der Mann, der gelegentlich mit Mittelchen eingreift, wenn seine Verrücktheiten überhand nehmen. Ich bitte Sie nur herzlich, nicht hart mit ihm umzuspringen.« Dann drehte er sich um und führte sie in ein kleines, gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Spiderman saß in einem Sessel, sprang auf, als sie eintraten, blieb in Habachtstellung stehen und strahlte sie an.
Er hatte ein pausbäckiges Gesicht, wirkte sehr friedlich und war eigentlich nur ein halber Spiderman: Er trug ein feuerrotes Hemd mit Kapuze über dem Kopf, auf die die Spinnennetzlinien gezeichnet waren, aber unten normale Jeans und helle Sportschuhe.
»Ich bin geehrt«, erklärte er zackig.
Sie reichten ihm die Hand und setzten sich in kleine, bequeme Sessel.
Schneider beugte sich vertrauensvoll vor. »Mister Spiderman, wir sind außerordentlich dankbar, dass Sie uns helfen wollen. Können Sie uns schildern, was Sie beobachtet haben?«
»Aber ja, meine Herren«, sagte Spiderman. »Es ist einfach so, dass ich in meiner Welt zuweilen Dinge sehe und erfahre, die den normalen Sterblichen verschlossen bleiben. Will heißen: Die sehen das alles nicht, die hören das alles nicht. So hatte ich vor ein paar Tagen im Traum die Eingebung, dass hier in meiner unmittelbaren Nähe etwas ablief, was möglicherweise den deutschen Staat in seinen Grundfesten erschüttern könnte. Will sagen: Ich erlebte am Fernseher den Raub des radioaktiven Materials, machte mich dann auf eine nächtliche Patrouille, flog bei der Gelegenheit über die alte Stockmannscheune, sah mich um und fand ein Grab.«
»Was war in dem Grab?«, fragte Müller.
»Ich bin nicht indiskret, meine Herren. Will sagen: Ich ließ mich nicht dort nieder, um in der Erde zu stochern. Das Grab blieb unberührt.«
Müller nickte. »Wen sahen Sie denn noch? Ich meine, bewegten sich dort Menschen?«
»Beim ersten Überflug nicht. Allerdings beim zweiten. Will sagen: Ich entdeckte dann eine beträchtliche Anzahl ausländischer Besucher. Will heißen: Sie sahen östlich aus.«
»Wie viele waren es denn?«, fragte Schneider.
»Ich landete vorübergehend auf einer Pappel. Dort stehen Pappeln, meine Herren. Ich sah zunächst mindestens vier Männer.«
»Wann genau war das?«, fragte Müller.
»Vorgestern.«
»Und was taten diese Männer?«
»Was Männer so tun, meine Herren. Will sagen: Sie kamen mal raus aus der Scheune, mal gingen sie rein. Da sie mich nicht sehen können, wenn ich fliege, bewegten sie sich natürlich.«
»Wann sind Sie zuletzt über diese Scheune geflogen?«, fragte Schneider.
»In der vergangenen Nacht. Da ich wusste, dass meine Beobachtungen wichtig sind, habe ich die Patrouillenflüge verdoppelt.«
»Und da gab es noch immer Männer?«
»Ich sah drei. Deutlich.«
»Waren diese Männer bewaffnet?«, fragte Müller.
»Das war das Erstaunliche. Will sagen: Sie waren bewaffnet. Mit Maschinenpistolen. Und Pistolen im Gürtel.«
Müller zog Achmeds Foto aus der Tasche und hielt es Spiderman hin. »War dieser Mann dabei?«
Spiderman betrachtete das Foto nur den Bruchteil einer Sekunde. »Aber ja. Positiv. Ich nehme an, er ist ein international gesuchter Gangster oder Terrorist. Will sagen: Ist er Ihre Zielperson?«
»Ja«, bestätigte Müller.
Schneider beugte sich vor. »Wissen Sie, ob diese Männer jetzt noch in der Scheune sind?«
»Das weiß ich nicht. Will sagen: Die meisten wissen nicht, dass ich nicht hellsehen kann. Ich bin Spidermans Sohn, aber kein Zauberer.«
»Sie werden sich wundern, meine Herren, über seine geschliffene Ausdrucksweise«, erläuterte der Arzt. »Aber mein Freund Hartmut, wie er im bürgerlichen Leben heißt, liest pro Tag etwa drei bis vier Stunden. Und falls Sie wissen wollen, wann Goethe in Weimar zum letzten Mal im Theater war: Hartmut weiß es.«
»Das ist sehr schön«, sagte Müller. »Ich bin beeindruckt, und ich danke sehr für die Auskünfte. Wo genau liegt diese Scheune?«
»Das ist einfach. Wenn Sie die Straße vor meinem Haus bis zum Ende fahren, beginnen drei Feldwege. Nehmen Sie den mittleren. Er führt Sie geradeaus etwa vier Kilometer weit, ist teilweise geteert, teilweise Sand, aber befahrbar. Dann kommt so etwas wie eine Kreuzung. Nehmen Sie den Weg nach rechts und folgen Sie ihm zwei Kilometer. Dort teilt sich der Weg. Nehmen Sie den nach links. Nach tausend Metern kommen Sie direkt zur Scheune.«
»Augenblick«, sagte Schneider. »Wie liegt diese Scheune? Das heißt, von welchem Punkt aus kann ich sie sehen?«
»Das ist noch einfacher«, sagte Spiderman. »Will sagen: Sie sehen aus ungefähr tausend Metern Entfernung zunächst die Pappelreihe. Dann sehen Sie das Dach der Scheune, weil die in einer Falte im Gelände liegt. Will heißen: Nach taktischen Gesichtspunkten müssten Sie Ihr Fahrzeug etwa tausend Meter vor der Scheune abstellen und den Rest zu Fuß hinter sich bringen. Als Deckungsmöglichkeit gibt es Felder mit halbhohem Mais und Weizen.«
Müller murmelte: »Verblüffend. Ich danke Ihnen noch einmal.«
Sie schüttelten ihm die Hand und gingen hinaus.
»Lass mich mit meinen Leuten konferieren«, bemerkte Schneider. »Wie schätzt du Spiderman ein?«
»Ich nehme ihn ernst, bitterernst.«
»Ich auch. Ich bin in drei Minuten fertig.« Er stieg in den Bus.
Achmed, dachte Müller, ich hoffe, ich finde dich nicht in dem Grab.
Die Tür des Busses öffnete sich, und Schneider sagte: »Wir können, Charlie.«
Dann sprach er in sein Mikrofon mit irgendwelchen Institutionen und Menschen, von denen Müller nicht die geringste Vorstellung hatte, während Schorsch mit hoher Geschwindigkeit durch die Felder fuhr.
»Kalli und Bruno Schutzkleidung komplett«, ordnete Schneider an. »Die Übrigen Helme auf, Gegensprechanlagen durchtesten, Waffen fertig machen. Damit das klar ist: Wir machen die klassische Zangenbewegung. Das heißt drei Mann rechts, drei Mann links. Erst wenn wir die Scheune sehen können, kommen die Übrigen in drei Gruppen zu zwei Mann aus den Feldern oberhalb der Scheune. Zu Charlies Bedeckung brauchen wir niemanden mehr. Er wird nachkommen.« Er machte eine kleine Pause. »Ich habe mich entschieden, in Anbetracht unseres Zieles hart vorzugehen. Bei Gegenwehr töten wir.«
»Ich sehe die Pappeln«, sagte Schorsch hinter dem Steuer.
»Okay, wir halten an und starten. Charlie, dringender Appell an deine Disziplin: Bleib hier beim Bus, bis meine Stimme über Lautsprecher kommt. Dann kannst du den Bus mitbringen.«
Achmed, dachte Müller, bring dich in Sicherheit, sonst bist du tot. Karen, warte auf mich in Berlin. Papa, ich gehe jede Wette ein: Wenn du mich jetzt sehen könntest, wärst du wahrscheinlich stolz. Und Mama, du würdest jetzt ganz ernsthaft behaupten: Mein Sohn rettet gerade das Vaterland.
Er musste grinsen, als er das dachte, denn im Moment war er sehr weit vom Krieg entfernt, und andere trugen ihre Haut zu Markte. Aber wenn er in sich hineinhorchte, war er stolz, wenigstens besuchsweise zu diesem Haufen zu gehören. Er ertappte sich dabei, dass er dauernd auf die Uhr sah. Null plus vier Minuten, null plus sechs Minuten. Sie würden schon da sein.
Über dem Land lag eine unglaubliche Stille, vor seinen Füßen summte eine Erdwespe herum und untersuchte seine Stiefel. Zwei Meter weiter blühte eine violette Malve, und auf einer dieser Blüten saß ein Blutstropfen. Anna-Maria, ich habe in der vergangenen Nacht gedacht, dass du möglicherweise ganz gern in meiner neuen Wohnung herumtollen willst, dachte Müller.
»Charlie«, kam es aus dem Lautsprecher, »setz dich hinters Steuer und komm her. Wenn der Weg sich zur Scheune senkt, lass den Bus stehen.«
Er fuhr den Bus dorthin, hielt an, und zu seiner Verblüffung stand die ganze Gruppe in der scharfen Linksbiegung, die zu der Scheune hinunterführte.
»Keine Gefahr«, sagte Schneider. »Aber alles verstrahlt. Das Grab gibt es auch. Auch verstrahlt. Wir gucken gleich, wer drinliegt. In der Scheune steht ein Kleinlaster, darin stehen drei unversehrte Pakete mit Kobalt. Das heißt, dass wir fünfundsiebzig Prozent des verschwundenen Materials gefunden haben. Ein Paket wurde geöffnet, der Inhalt ist verschwunden, nur Reste sind an der Werkbank nachweisbar. Und offensichtlich hat sich niemand die Mühe gemacht, Spuren zu vertuschen. Wenn du mich fragst, sind das ganz miese Zeichen. Und ich stehe jetzt vor dem Problem, dass ich bei meiner Meldung ein riesiges Chaos auslöse, weil sie alle kommen wollen. Und weil ich niemanden kenne, der sie davon abhalten kann. Das betrifft sämtliche beteiligten Ministerien ebenso wie das Kanzleramt, das federführende Innenministerium, das neue Amt für Terrorismusbekämpfung wie den Militärischen Abschirmdienst, den Verfassungsschutz, das Landeskriminalamt Berlin, das Bundeskriminalamt und das Bonner Amt für Krisen. Weißt du was, Charlie? Ich erhöre in diesem Moment jeden, der meinen Job übernehmen will.«
Ein paar der Männer lachten unterdrückt.
»Haben wir eine Vorstellung, wie die Strahlung wirkt?«, fragte Müller.
Schneider nickte. »Die Krebsrate in der unmittelbaren Umgebung erhöht sich augenblicklich um fünfhundert Prozent, das heißt, Krebs wird sich auch bei Leuten zeigen, die normalerweise bis zu ihrem Tod nicht davon betroffen sind.«
»Wie lange kann ich diese Strahlung ohne unmittelbare Folgen aushalten?«, fragte Müller.
»Vorsichtig geschätzt zwei bis drei Minuten, anschließend bist du ein Todeskandidat. Direkte Folgen sind schwere Übelkeit mit Erbrechen, Haarausfall und Wunden auf der Haut, die wie Verbrennungen aussehen. Also dieselben Erscheinungen, wie sie bei bestimmten Bestrahlungstherapien auftreten.«
»Hör zu«, sagte Müller. »Ich muss wissen, wer in dem Grab liegt.« Dann überlegte er Schneiders Situation. »Ich würde dir raten, dir Zeit zu nehmen und mit deinem Chef zu sprechen. Ihr müsst vermeiden, dass hier ein Chaos entsteht und der Tatort versaut wird. Und die Journalisten auf dem verstrahlten Boden rumrobben. Hast du irgendeine sichere Direktleitung? Aber noch einmal: Ich muss wissen, wer in dem Grab liegt. Jetzt.«
»Okay. Kalli und Bruno. Schaut in dem Grab nach.«
»Ich muss selbst reinsehen«, sagte Müller.
»Dreißig Sekunden, nicht mehr«, bestimmte Schneider. Dann ging er abseits, um zu telefonieren.
Es dauerte acht Minuten, bis jemand quäkend über die Lautsprecher kam. »Wir haben den Toten frei. Zumindest das Gesicht.«
Müller nickte. »Ich gehe jetzt hin.«
Jemand bemerkte: »Dreißig Sekunden. Gott schütze deine Eier.«
»Danke«, murmelte Müller und ging los.
Achmed, mach jetzt keinen Scheiß. Zeig mir, dass du nicht in dieser Erde liegst. Im Grunde war der Platz vor der Scheune idyllisch und grün, heimelig fast. Ideal für einen Friedhof.
Die beiden in den Schutzanzügen traten beiseite.
Der Mann, der in der Erde lag, war nicht Achmed. Nach der vagen Beschreibung konnte es Dimitri der Riese sein.
»Das hat gut getan«, seufzte Müller erleichtert und ging wieder davon.
Schneider kam zu ihm und sagte: »Okay, wir haben eine Entscheidung getroffen. Wir müssen hier abhauen. Wir wollen keine Medien. Wir sperren ein Quadrat von etwa sechs Kilometern Seitenlänge vollkommen ab. Die Einheiten der Schutzpolizei werden mit Bussen angekarrt. Die sind schon unterwegs. Zusätzlich haben wir etwa zehn Streifenwagen zur Verfügung. Will heißen: Hier wird alles dicht gemacht, wie Spiderman sagen würde. Wir können dann verschwinden, eine Pressekonferenz wird es im Innenministerium geben, aber vermutlich erst morgen früh. Details unseres Fundes gehen nur an die Spitzen der beteiligten Behörden mit Hinweis auf absolute Vertraulichkeit. Kommst du mit uns zurück?«
»Ja, das ist am einfachsten.«
»In etwa einer Viertelstunde geht es los. Ich muss meine beiden Kollegen in den Schutzanzügen hier lassen. Wir können sie nicht mitnehmen, sie strahlen. Das ist vielleicht ein Scheißding.«
»Du sagst es.«
Müller entfernte sich ein paar Schritte, um Krause anzurufen, und er erreichte ihn direkt.
»Haben Sie ein paar Minuten?«
»Ja«, sagte Krause. »Kann ich auf Lautsprecher gehen? Herr Sowinski ist auch hier.«
»Selbstverständlich.« Müller berichtete schnell und konzentriert.
»Gut. Kommen Sie zurück und dann bitte direkt zu mir«, sagte Krause. »Ich habe ein paar Kleinigkeiten.«
Müller fühlte sich erschöpft durch die stundenlange Anspannung, er setzte sich auf einen Grasfleck.
Er ärgerte sich jetzt, dass er Karen auf dem Friedhof nicht angesprochen hatte. Er ärgerte sich, dass er sie nicht angerufen hatte, dass er sie nicht gebeten hatte, ein paar Tage länger in Berlin zu bleiben. Er fühlte sich einsam.
Sie fuhren ein paar Minuten später, und Schorsch beeilte sich, nach Berlin zu kommen. Sie setzten Müller beim BND ab, Schneider sagte: »Es war mir eine Ehre.«
Müller ging in sein Büro, zog sich um und stellte fest, dass er vergessen hatte, Schneider die P226 zurückzugeben. Er nahm sie in die Hand und betrachtete sie, als habe er eine solche Waffe noch nie gesehen. Er spürte eine tiefe Furcht, weil er mit einer solchen Waffe einen Menschen getötet hatte.
Krause war nicht allein, Sowinski saß mit am Tisch. Sie sahen ihm entgegen, und er hatte instinktiv das Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben. Ihre Augen waren hart wie Stein.
»Setzen Sie sich. Mein Freund Uri ist in der Stadt, einer der Mossad-Häuptlinge. Wir verstehen uns seit zwanzig Jahren sehr gut. Er saß da, wo Sie gerade sitzen. Und natürlich will er den gesamten Hintergrund von mir haben, weil er nicht ganz zu Unrecht vermutet, dass man auch in Tel Aviv oder in Jerusalem eine schmutzige Bombe einsetzen könnte. Kennen Sie Uri?«
»Nein, nicht persönlich.«
»Aber er kennt Sie.« Krause warf ein Foto flach über den Tisch.
Das Foto zeigte Müller in Damaskus auf einer der schmalen Altstadtgassen mit den schönen Innenhöfen. Müller ging durch die Sonne und wirkte wie ein neugieriger Tourist.
Müller war augenblicklich wütend.
»Das trifft mich nicht sonderlich. Ich habe in Damaskus wiederholt Mitglieder befreundeter Dienste fotografiert. Präzise sechs Mal. Davon waren drei, zwei Männer und eine Frau, für den Mossad tätig, einer für die CIA, zwei konnten wir den Russen zuordnen. Die Fotografien sind aktenkundig. Außerdem will ich darauf aufmerksam machen, dass Damaskus ein Tummelplatz der Dienste ist. Ich würde an zwei guten Tagen allein von Seiten der Syrer zehn bis fünfzehn Agenten verifizieren können. Achmed hat sie mir gezeigt.«
»Stimmt«, nickte Sowinski.
»Gut«, murmelte Krause. »Gehen wir mal weiter.«
Das nächste Foto kam herangesegelt.
Es zeigte Müller mit Karen Swoboda in der Bar, vor ihnen ein Salat mit Geflügel. Ein weiteres folgte. Es zeigte dieselbe Szene, aber diesmal küsste Müller Karen.
»Noch nicht lange her«, murmelte Krause. »Wer ist die Frau?«
»Eine Frau aus der Werbebranche. Sie heißt Karen Swoboda, ist zu Hause in Frankfurt am Main. Gegenwärtig verhandelt sie mit den Freien Demokraten über eine Werbekampagne.«
Mein Gott, dachte Müller fiebrig, ich muss hier raus, ich kriege keine Luft mehr.
»Und diese Frau hat Sie angesprochen oder Sie diese Frau?«
»Die Frau mich. In der Bar, in der wir da sitzen und Salat essen. Sie wollte einfach Siebzehnundvier spielen.«
»Und Sie haben das geglaubt?« Krauses Fragen stachen wie scharfe Messer.
»Ja, ich habe das geglaubt. Und, ehrlich gestanden, glaube ich das immer noch.«
Er dachte verbissen, ich lasse mir das nicht nehmen.
»Kann es sein, dass diese Frau an Sie herangespielt wurde?« Krause schloss kurz die Augen.
»Darüber habe ich keine Sekunde nachgedacht, wenn ich ehrlich sein will. Das erscheint mir zu abwegig. Die erste Gegenfrage würde lauten: Warum sollte sie auf mich angesetzt werden? Und: Ich habe ihr nicht gesagt, wer ich bin, vor allem nicht, in welcher Arbeit ich stecke.«
»Aber Sie haben mit ihr geschlafen?«
»An der Stelle werde ich wütend, weil es um mein Privatleben geht.« Müller sah, dass Krause noch eine weitere Anlage vor sich liegen hatte, und er wusste, dass es noch nicht zu Ende war.
»Also, diese Karen Swoboda hat keine Ahnung von Achmed? Keine Ahnung von Damaskus? Keine Ahnung von Herrn Breidscheid? Und keine Ahnung von den möglichen Zusammenhängen?«
»Exakt«, sagte Müller.
»Seien Sie nicht so sicher«, bellte Krause. Er schob Müller einen Zeitungsausschnitt zu und blaffte: »Nur die Bildunterschrift, bitte!«
Da war Karen mit zwei Männern zu sehen. Alle drei hatten Sektgläser erhoben, alle drei strahlten. Die Bildunterschrift lautete: »Ein Prosit auf kommende gute Geschäfte. Die Werbefrau Karen Swoboda, der Stuttgarter Maschinenbauer Matthias Hechtsheim, der Generalvertreter Helmut Breidscheid.«
In Müllers Gesicht bewegte sich nichts, seine Augen waren hart wie Kiesel, seine Hände lagen ruhig auf der Tischplatte.
»Darf ich erfahren, wer das Foto mit mir und Frau Swoboda in der Bar gemacht hat?«
»Einer von Uris Leuten«, sagte Sowinski. »Das hat damit zu tun, dass Uris Truppe gut ist und Gott sei Dank zu unseren Freunden zählt. Wir sind aber nicht sicher, ob nicht auch Leute der CIA dort waren und Sie identifiziert haben. Oder die Russen, zum Beispiel, die ja auch nicht schlecht sind. Im Gewerbe geht seit Tagen das Gerücht, dass nur einer aus dem Metier eine brauchbare Szenerie für die schmutzige Bombe hat. Und dass wir die Hüter dieser brauchbaren Szenerie sind und Sie der Hauptdarsteller.«
»Uri weiß, dass Sie es sind«, setzte Krause leise und bekümmert hinzu. »Es bringt überhaupt nichts, ihm etwas anderes zu erzählen. Und es ist nicht zu vermeiden, dass alle anderen bald auf unserer Matte stehen.«
»Von wem ist der Zeitungsausschnitt?«
»Aus dem öffentlich zugänglichen Material, auf das sich Goldhändchen gestürzt hat«, sagte Krause. »Er hat erstaunliche Entdeckungen gemacht, die auch Sie sicherlich entzücken werden.«
»Sie war auch auf der Beerdigung«, murmelte Müller tonlos.
Er spürte seine Wut wie einen heißen Ball im Bauch, und er wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich abzuschotten.
»Ohne dass Sie vorher davon wussten?«, fragte Sowinski schnell.
»Sie hat mir vorher nichts gesagt. Sie war einfach da.«
»Ein außergewöhnlicher Liebesbeweis«, sagte Krause höhnisch.
»Aber wer hat sie geschickt, verdammt noch mal?«, fragte Müller.
»Es klingt jedenfalls nach einer größeren Dimension«, sagte Sowinski.
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Ich nehme Sie vollkommen raus«, sagte Krause. »Ich muss Sie rausnehmen. Es wird eine Untersuchung geben.«
»Moment«, schnappte Müller. »So einfach ist das alles nicht. Ich falle doch nicht wie ein heuriger Hase auf die erstbeste hübsche Frau rein.«
»Genau das ist aber passiert.« Sowinski war erbarmungslos. »Sie verlieren Ihre Familie, Ihre Frau, Ihren Vater, Sie sind angreifbar. Und da taucht wie aus dem Nichts eine gewisse Karen auf, mit der Sie ins Bett hüpfen, weil Sie doch ach so einsam sind. Und diese Frau hat mit Breidscheid, von dem wir noch nicht wissen, wie er da hineinpasst, Champagner getrunken auf irgendein Geschäftchen. Das sieht ziemlich beschissen aus, mein Lieber.«
Schweigen.
»Es geht noch weiter«, knurrte Krause. »Selbstverständlich haben wir den Zeitungsausschnitt gegengecheckt, und wir sind auf etwas Komisches gestoßen. Die Staatsanwaltschaft Wirtschaftsvergehen Stuttgart hat eine Ermittlung gegen diesen Maschinenbauer Hechtsheim und Breidscheid eingeleitet. Grund: Es bestand der dringende Verdacht, dass die beiden im Rahmen größerer Maschinenausfuhren drei Maschinen gebaut haben, die zusammengekoppelt ein wunderbares Gerät zur Herstellung von Gewehrmunition ergeben. Die Staatsanwaltschaft kam zu spät, die Maschinen waren raus. Und bis heute weiß niemand, wohin genau.«
»Scheiße!«, rief Müller. »Sie werden zwanzig, dreißig Firmen finden, für die Karen Swoboda gearbeitet hat. Ach was, fünfzig. Ich möchte die Chance haben, die Frau zu fragen.«
»Auf keinen Fall«, murmelte Krause kopfschüttelnd. »So läuft das nicht, mein Freund. Ich denke, es ist das Beste, Sie gehen heim und schlafen sich ein paar Tage aus.«
»Heißt das, ich bin suspendiert?«, fragte Müller entgeistert.
»Was denn sonst?«, bellte Sowinski. »Sollen wir jetzt auch noch Händchen halten und Taschentücher reichen?«
»Ich habe das eingebrockt, ich löffle das aus«, sagte Müller. »Wenn die Frau an mich herangespielt worden ist, werde ich die Frau umdrehen und an Sie heranspielen.«
»Wie bitte?«, fragte Krause verblüfft. »Haben Sie überhaupt registriert, um was es hier geht? Es gibt ein festgeschriebenes Gesetz beim Bundesnachrichtendienst: Wenn ein Mitglied der Bruderschaft, weiblich oder männlich, sich in jemanden verliebt, muss das dem Vorgesetzten gemeldet werden. Mit Namen und Adresse und allem Drum und Dran. Wir prüfen dann, ob die Sache sauber ist oder nicht. Ist Ihnen diese Vorschrift jemals zur Kenntnis gebracht worden?«
»Ja.«
»Und warum, verdammt noch mal, sind Sie nicht zu mir gekommen und haben das auf den Tisch gelegt?«
Er ist persönlich beleidigt, dachte Müller verblüfft. Wieso denn das?
Weil du so etwas wie sein Ziehsohn bist, sagte das andere Ich.
»Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, weil ich vollkommen durch den Wind war. Ich habe in zweiundsiebzig Stunden mehr schlucken müssen, als ich verdauen konnte. Ich habe in Achmed wirklich einen Freund verloren. Und meine Frau hat mich monatelang betrogen.« Er wurde immer heftiger. »Ich weiß im Übrigen, dass in der Geschichte des BND die wenigsten Leute, die in irgendeine Liebesaffäre verstrickt waren, damit zu ihrem Vorgesetzten gingen. Das ist einfach eine vollkommen irre Regel, und Sie wissen das auch.«
»Jetzt ist es ein Fall für den Präsidenten«, sagte Sowinski knapp.
»Und ich werde selbstverständlich anschließend für den Rest meines Lebens im Archiv der ganz leichten Fälle landen«, höhnte Müller. »Ich werde Ihnen sagen, was da passiert ist. Ich war heilfroh, dass ich in die Arme von Karen Swoboda flüchten konnte. Das ist der ganze Fall. Und falls Sie nicht den Mut haben, den Fall zusammen mit mir zu klären, bin ich schlicht und ergreifend beim falschen Verein.« Er stand so heftig auf, dass der Stuhl hinter ihm umfiel. Er bückte sich, stellte ihn wieder auf und wollte hinausgehen.
Krause stoppte ihn in der Tür mit der Bemerkung: »Gehen Sie jetzt bitte nicht in das Hotel.«
»Das kann ich gar nicht«, schnaubte Müller. »Die Frau ist längst wieder in Frankfurt.«
»Ist sie nicht«, Krause schüttelte den Kopf. »Sie ist nach wie vor im Hotel. Schließlich will sie doch etwas über Sie herausfinden, oder?«