Zwischenspiel
Achmed schlang das
letzte Klebeband um Bombe Nummer zwei. Dabei sah er, dass er am
rechten Unterarm Wunden hatte, die wie Verbrennungen aussahen.
Schmerzen spürte er nicht.
Er malte auf beide
Bomben mit schwarzem Filzstift ein großes A. Dann malte er einen
Kreis um die Zonen, die für die Zünder vorgesehen waren. Es gab
nichts mehr zu tun, er war mit seiner Arbeit fertig.
Auf der anderen Seite
des kleinen Lastwagens schlief Pjotr mit seinen beiden Leuten auf
den alten Kornsäcken. Pjotr hatte seine schwere Automatik zwischen
beiden Händen liegen, und mit Sicherheit war er fähig, innerhalb
einer halben Sekunde aufzuwachen, ein Ziel anzuvisieren und zu
töten. Pjotr war ein Tier.
Achmed war müde und
hoffnungslos. Zunächst hatte er angenommen, sein Hilferuf sei
gehört worden. Aber nichts war geschehen.
Er redete
ununterbrochen mit Nour, aber sie konnte ihn ja nicht
hören.
Es war morgens um 6
Uhr, die Sonne schien milchig über dem Land, in den Bäumen sangen
Vögel.
Was würde passieren,
wenn er sich einfach eine Waffe nahm und Pjotr und die anderen
beiden erschoss? Dann würde die große Stille herrschen, und
wahrscheinlich würde er sich vor Erleichterung übergeben müssen.
Aber er würde frei sein. Er würde den Laster nehmen und nach Berlin
fahren. Er hatte Charlies Adresse. Es konnte nicht schwierig sein.
Er würde berichten, was er erlebt hatte, er würde Nour anrufen und
sagen: Ich komme bald heim!
Charlie würde alles
richten, Charlie war ein Freund. Na sicher, Charlie war ein Spion,
und ein guter dazu, aber in erster Linie war er ein Freund, auf den
man sich verlassen konnte.
Achmed ging leise an
den drei Männern vorbei und sah Dimitris Sporttasche im Halbdunkel
an einer Bretterwand. Er hoffte, dass in der Tasche eine Waffe war,
denn als Dimitri starb, hatte er keine bei sich
getragen.
Achmed nahm Dimitris
Tasche hoch und ging mit ihr auf die andere Seite des
Kleinlasters.
Die Reißverschlüsse
waren laut.
»Damaskus, du
brauchst gar nicht nachzuschauen«, bemerkte Pjotr schläfrig.
»Dimitris Waffe ist hier bei mir.«
»Schade«, sagte
Achmed. »Die Bomben sind okay. Soll ich sie dir
erklären?«
»Später«, bestimmte
Pjotr. »Hau dich hin und schlaf eine Weile. Wir haben noch viel zu
tun.«
»Ich habe nichts mehr
zu tun«, entgegnete Achmed. »Ich bin fertig.«
»Ja. Aber ich muss
dich mitschleppen, also hast du noch genug zu tun.«
»Lass mich doch
einfach laufen«, bemerkte Achmed. »Ich bin nicht gefährlich für
dich.«
»Bist du doch«, sagte
Pjotr. »Du bist nämlich ein Schwätzer, Damaskus. Und Schwätzer muss
man bewachen.«
»Ich bin nicht
gefährlich«, widersprach Achmed. Er fand es erstaunlich, dass er
plötzlich gelassener war. »Ich denke, ich könnte dich nicht einmal
töten, wenn ich eine Waffe hätte und du keine. Wieso wirst du
eigentlich beim kleinsten Geräusch wach?«
Pjotr lachte leise.
»Ich bin wie eine Katze, Damaskus, ich schlafe niemals richtig.«
Dann lachte er lauter. »Es gibt nur eine Position, in der ich
wirklich schlafe. Wenn ich auf meiner Frau liege und weiß, dass
auch sie wie eine Katze schläft.«
»Was macht ihr mit
den Bomben, Pjotr? Lasst ihr euch ein paar Millionen dafür zahlen,
dass sie nicht explodieren?«
»Nein, so läuft das
nicht. Wir haben andere Pläne, ganz andere Pläne. Aber erst einmal
müssen wir mit den Dingern nach Berlin rein.«
»Hast du keine Angst
vor Polizeikontrollen oder Straßensperren oder so
etwas?«
»Nein. Aber leg dich
hin, Damaskus, und schlaf eine Weile, bis wir abgeholt
werden.«
»Wir werden
abgeholt?«
»Ja. Hau dich hin und
sei friedlich, Damaskus.«
Achmed suchte sich
ein paar der Kornsäcke zusammen und lag dann wach und starrte in
die dämmrige, blaue Tiefe unter dem Dach der Scheune.
Nour, das Beste ist,
du nimmst die Jungs und verschwindest aus der Stadt, dachte er. Es
reicht für mich, wenn du deine Adresse zu Hause lässt, damit ich
nachkommen kann. Das Beste ist, du gehst in den Libanon und kaufst
dir und den Jungs Flugtickets. Gut gefälschte Ausreisevisa kriegt
du bei Ermann, du weißt schon, wen ich meine. Am besten nach Kanada
oder auch Neuseeland. Es wäre vielleicht gut, vorher unauffällig
ein paar Adressen zu sammeln, damit du weißt, an wen du dich wenden
kannst, wenn du dort bist. Überall in der Welt sitzen Syrer, und
sie werden froh sein, jemanden zu Gast zu haben, der aus der Heimat
kommt. Dann kannst du dich in Ruhe umschauen und deine
Entscheidungen treffen. Denk dran, dass dort eine Universität sein
muss, weil die Jungs doch studieren sollen.
Ich komme nach, Nour,
ich verspreche es.
Hier in Berlin ist
etwas passiert, mit dem ich nicht gerechnet habe. Ein paar Tricks
mit dem Laptop hieß es, solle ich machen, ein paar chemische und
physikalische Kleinigkeiten aus dem Internet ziehen. Ich dachte: Es
läuft auf eine kleine Erpressung hinaus, auf ein gigantisches
Gelächter, auf irgendetwas Festliches wie den donnernden
Shakespeare im alten London. Und der Mann hat es auch so
formuliert. Er hat gesagt: Ich will meinen Landsleuten richtig
Beine machen. Sie sollen aufhören zu jammern und endlich beginnen
zu gehorchen. Er erklärte: Ich will nicht ernst machen, kein
Blutvergießen, niemandem wird ein Haar gekrümmt. Den Spaß, hat er
gesagt, will ich mir etwas kosten lassen, und du, mein Lieber, bist
mein technischer Direktor.
Na ja, und da war das
Geld. Ich hätte nachdenklich werden müssen, aber ich habe gedacht:
Er hat so viel Geld, da kommt es ihm nicht so darauf an. Aber kaum
war ich hier, habe ich verstanden, dass es blutiger Ernst ist. Ich
sollte meinen Laptop mitbringen, aber nicht ins Internet gehen.
Keine Spielerei am Rande, nichts Privates! Dein Laptop, so sagte
er, ist unsere Geheimwaffe in den Händen eines Künstlers. Bewahre
ihn auf für einen gigantischen Gag. Und dann benutzte ich diesen
Laptop für ein Spielchen nach dem alten Muster: Achmed macht nur
einen Scherz. Ich stoppte nur ein Auto, und in Sekunden steckte ich
tief in dieser Sache, und ich hatte nicht den Hauch einer Chance,
zu flüchten oder auszusteigen. Und dann haben sie meinen Laptop mit
einem Vorschlaghammer zertrümmert. Anfangs gab es noch Gelächter,
sie haben ihren Wodka wie Wasser getrunken und Scherze gemacht.
Jetzt trinken sie immer noch Wodka, aber nur, um schlafen zu
können.
Nein, liebe Nour, der
Mann macht keine Späße, der Mann ist humorlos. Und wir alle sind
seine Opfer.
Ich musste eine Bombe
bauen, Nour. Dabei habe ich dauernd überlegt, wie ich diese Leute
betrügen kann, wie ich statt des Pulvers irgendetwas anderes auf
die Bombe packen könnte. Ich versuchte, Sand zu nehmen, aber Pjotr
war genau informiert, und ich hatte keine Chance
damit.
Ich denke dauernd an
dich, Nour. Wenn ich nicht schlafen kann, denke ich an dich und
unsere Jahre miteinander. Ich habe immer diese Minuten am frühen
Morgen geliebt, wenn du neben mir im Bett liegst und ganz warm bist
und dich streckst und dann deine Arme um mich legst, als müsstest
du unbedingt beschützt werden. In Wahrheit schützt du mich. Ich
hoffe, dass Allah mir die Sekunden zugesteht, die ich brauche, um
an irgendeiner fremden Ecke in diesem fremden Land die Kurve zu
kriegen und zu verschwinden.
Irgendwann schlief er
ein.
Er wurde wach, weil
Pjotr gegen seine Schuhe trat und sagte: »Damaskus, aufstehen!
Erklär mir jetzt die Bomben.«
»Okay, okay«,
erwiderte Achmed. »Es ist ganz einfach.«
Er rappelte sich
hoch, streckte sich und ging zur Werkbank. »Du hast hier zwei
identische Sprengkörper, je zwölf Kilo. Insgesamt gibt es vier
elektronische Zünder, die du mithilfe deiner Fernsteuerung auslösen
kannst. Hast du die Zünder und den kleinen schwarzen
Kasten?«
»Klar«, sagte
Pjotr.
»Schau, hier habe ich
einen Kreis aufgemalt und die Haftbänder ausgespart. Dort kannst du
die Zünder reindrücken in das Material. Okay?«
»Ja,
kapiert.«
»Hier habe ich dir
angezeigt, wo bei den Bomben oben ist. Da steht ein A. Also: Bei
null die Zünder reindrücken und A nach oben.«
»Auf welche
Entfernung tut es der Impulsgeber?«
»Du kannst ein paar
hundert Meter entfernt sein. Ich denke, ab fünfhundert Meter wird
es kritisch. Ideal sind rund zweihundert Meter. Dann stört auch ein
Gebäude dazwischen nicht. Und du bist in Deckung und kannst
verschwinden.«
»Und du hast keine
Schweinerei eingepackt?«
»Was für eine
Schweinerei?«
»Na ja, irgendetwas,
was mich erledigt.«
»Ich bin doch ein
Weichei, warum sollte ich das tun?«
»Na ja, weil du
wütend bist.«
»Du könntest mir ein
Handy geben, dass ich meine Frau anrufen kann.«
»Ich habe keins«,
sagte Pjotr. »Niemand von uns hat eins, solange diese Sache läuft.«
Er grinste. »Du bist doch der Zauberer bei uns, Damaskus. Du weißt
doch: Wer ein Handy hat, ist auch jederzeit auszumachen. Egal, wo
er ist.«
»Darüber würde ich an
deiner Stelle nachdenken«, regte Achmed an. Ihm war etwas
eingefallen. »Sag mal, Pjotr, hast du schon einmal überlegt, warum
du als Chef des Unternehmens auch kein Handy hast?«
»Damit niemand
herausfindet, wo ich bin.«
»Damit er dich am
Ende kaltmachen kann, weil du erst dann auf ewig die Schnauze
halten wirst.«
Pjotr sah ihn an und
lächelte. »Bei mir ist das etwas anderes, Damaskus. Ich bin
gekommen, um die Sache durchzuziehen, aber niemand weiß, auf
welchem Weg ich rausgehe aus Deutschland. Das weiß nur ich allein,
mein Freund.«
»Aha«, sagte Achmed
und ließ den Stachel tief im Fleisch. »Also, ich packe mal meine
Tasche.«
Er brach sich ein
Stück Brot ab und aß ein paar Oliven. Dann stopfte er seine
Habseligkeiten in die Sporttasche und ging aus der Scheune in die
Sonne. Er setzte sich abseits in das Gras, sodass er den Grabhügel
von Dimitri sehen konnte. Und er hörte das Gluckern des kleinen
Bachs.
Die Russen kamen
heraus und setzten sich samt ihren Taschen zu ihm.
»Was machst du mit
dem übrigen Material?«, fragte Achmed Pjotr.
»Nichts, das bleibt
hier. Wir brauchen es nicht mehr. Wir brauchen auch den Laster
nicht mehr, gar nichts mehr.«
»Aber die Scheune ist
voller Spuren. Fingerabdrücke, was weiß ich nicht
alles.«
Pjotr lächelte milde.
»Damaskus. Kannst du dir vorstellen, dass ein deutscher Fahnder mit
meinen Fingerabdrücken in Kirgisien auftaucht? Oder mit Jaromirs
DNA in Wladiwostok? Wir sind wie Gespenster, Damaskus, wir tauchen
auf und wieder unter.«
»Was ist mit euren
verdammten Waffen?«
»Wir nehmen sie auf,
wenn wir ankommen, wir benutzen sie, und wir lassen sie hier, wenn
wir verschwinden. Waffen, Damaskus, gibt es wie Sand am Meer,
niemand zählt sie. Und niemand stellt sie bei uns fest. Wenn wir
gehen, sind wir Spaziergänger, die freundlich lächeln und kleinen
Kindern ein Eis spendieren.«
»Und wenn du dann
wieder nach Deutschland musst, wirst du geschnappt, weil sie hier
deine Daten haben.«
»Wann muss ich nach
Deutschland, Damaskus? Nach drei Jahren, nach fünf Jahren? Das ist
morgen, ich lebe heute.« Er sagte: »Du wolltest mir noch die Namen
deiner Freunde in Berlin nennen.«
»Ich habe keine«,
wiederholte Achmed.
Dann war plötzlich
entfernt ein Motor zu hören, und Pjotr griff nach der
Maschinenpistole. Er sagte ein scharfes Wort zu den beiden Männern,
die sich nicht bewegten, und huschte dann mit unglaublicher
Leichtigkeit hinter den dicken Stamm einer Pappel.
Ein weißer
Kleinlaster rumpelte heran.
Müller erreichte das
Haus um 7.45 Uhr, schloss nicht auf, sondern schellte und
wartete.
Anna-Maria öffnete
ihm und rief entzückt: »Papa!« »Ja«, sagte er und kniete sich neben
sie. »Wie geht es dir denn, mein großer Spatz?«
»Ich bin traurig.
Gleich kommt Opa in die Erde.«
»Ja, das
stimmt.«
»Wohnst du jetzt
wieder hier?«
»Nein. Ich will nur
ein paar Sachen holen.«
Melanie war in der
offenen Tür. »Ich habe dir drei Koffer gepackt und lauter Kisten
mit Büchern und Kleinkram. Steht hier alles fix und
fertig.«
»Ich brauche den
schwarzen Anzug«, sagte er. »Und irgendeine schwarze
Krawatte.«
»Ich habe ein
schwarzes Kleid«, sagte Anna-Maria. »Das sieht hübsch aus, mit so
einem weißen Kragen. Das haben wir gekauft.«
»Am besten ist, du
lädst das alles ein. Dann hast du es hinter dir. In dem hellen
Koffer ist der schwarze Anzug.« Melanie drehte sich um und
verschwand wieder.
Sie macht Tabula
rasa, sie schottet sich ab, dachte er flüchtig. Dann nahm er seine
Tochter auf den Arm und ging ins Haus.
»Es steht alles im
Wohnzimmer«, rief Melanie aus der Küche. »Anna-Maria, komm, wir
frühstücken.«
Er setzte seine
Tochter ab. »Nun geh, du musst frühstücken. Das wird ein langer
Tag.«
»Kommst du manchmal,
wenn wir frühstücken, Papa?«
»Ja, mein
Schatz.«
Dann sah er die
Koffer und Kisten in dem dämmrigen Raum stehen, in dem wie üblich
die Rollos halb heruntergelassen waren. Er dachte panisch: Ich weiß
nicht, ob ich das wollte.
»Da war so ein
komischer Anruf auf dem Anrufbeantworter.« Melanies Stimme kam
völlig desinteressiert von irgendwoher.
»Ja, ich weiß«, sagte
er augenblicklich. »Eine fehlgeleitete Nachricht, tut mir Leid.
Wird nicht wieder vorkommen.«
Dann bückte er sich
und nahm zwei Koffer. Er brauchte eine halbe Stunde, um alles in
seinem Auto zu verstauen.
»Wir sehen uns dann
auf dem Friedhof«, sagte er. Er bemühte sich, freundlich zu sein,
aber er war es nicht wirklich. Er küsste Anna-Maria aufs Haar und
ging dann mit einem stummen Nicken in Richtung
Melanie.
Als er am Steuer saß
und den Motor startete, war ihm für eine Sekunde klar, dass er in
Selbstmitleid ertrank. Er beschimpfte sich und war bemüht, diese
Minuten als einen Neubeginn zu begreifen. Aber er konnte es nicht.
Er dachte an die Augen seiner Tochter und fand, dass sie alt
ausgesehen hatten, so, als habe das Kind alles längst begriffen.
Ich bin gescheitert, dachte er, ich bin elend
gescheitert.
Er fuhr zu seinem
Elternhaus und fand seine Mutter mit Tante Trude am Küchentisch.
Sie tranken Kaffee, waren blass und schweigsam und lächelten ihm
flüchtig zu.
Er trug die Koffer
und Kisten in sein altes Zimmer hinauf und starrte nachdenklich auf
das, was von mehr als zehn Jahren geblieben war. Es war
erschreckend wenig. Dann nahm er die Tageszeitung und ging mit
einer Tasse Kaffee in das Zimmer seines Vaters.
Der Kobalt-Raub war
noch immer auf den Titelseiten. Kommentatoren ließen sich weiterhin
darüber aus, was wohl geschehen könnte, und die Zitate der
Politiker wirkten plump und hilflos. Der Kanzler hatte verlauten
lassen, er sehe keinen Grund dafür, dass eine schmutzige Bombe für
eine Erpressung herhalten könnte. Die Deutschen hätten ihre
muslimischen Nachbarn längst als Freunde begriffen, es gebe im
internationalen Konzert keinen Beobachter von Rang, der die These
vertrete, die Deutschen seien gegen den Islam. Der Kanzler
bemerkte, es sei gerade jetzt an der Zeit, Ruhe und Gelassenheit zu
bewahren. Schließlich sei man nicht eine Sekunde lang bereit
gewesen, den Krieg gegen den Irak zu unterstützen. Das werde sich
auszahlen.
Unter dem Titel
»Bodenloser Leichtsinn« konzentrierte sich ein anderer, großer
Beitrag auf mögliche Folgen einer schmutzigen Bombe. Tschernobyl
lautete das Schlüsselwort. Man habe die Katastrophe so wenig
aufgearbeitet, dass selbst nach Jahrzehnten immer noch nicht
bekannt sei, wie viele Tote es denn eigentlich gegeben habe:
zehntausend oder zweihundertfünfzigtausend. Im technisch
hochgerüsteten Amerika seien in kürzester Zeit rund
tausenddreihundert Strahlenquellen verschwunden, größtenteils wohl
einfach in den Müll gewandert. In einer brasilianischen Stadt sei
auf einer Mülldeponie ein komplettes Bestrahlungsgerät entdeckt
worden. Kinder hätten es geöffnet und sich das grellgrüne Zeug ins
Gesicht geschmiert. Man müsse dort von etwa vierzig- bis
fünfzigtausend Verstrahlten ausgehen. In Georgien hätten
Waldarbeiter mit Cäsium 137 gefüllte Benzinkanister gefunden und
neben ihnen geschlafen, weil die Kanister so schön warm gewesen
seien. Nach vierundzwanzig Stunden seien sie allerdings tot
gewesen. Und eine komplett gebaute schmutzige Bombe habe als
Warnung an die Regierung eines Tages in einem Moskauer Park
gelegen. Es sei sehr wahrscheinlich, dass das in Deutschland
geraubte Material nicht in Deutschland verwendet werde, aber die
Politiker müssten sich fragen lassen, wie es denn sein könne, dass
hoch radioaktives Material bar jeder Sicherheitsmaßnahme fröhlich
hin und her gekarrt werde.
Achmed, dachte
Müller, wo bist du?
Weil er sich
fürchtete, in grenzenlosen, ekelhaften Fantasien zu versinken, rief
er Karen an.
»Ich wollte dir nur
Guten Morgen sagen.«
»Das ist schön. Geht
es dir besser?«
»Ja«, antwortete er.
»Und ich hoffe, dass ich diese Träume verliere.«
»Du kannst sie nur
verlieren, wenn du sie begreifst. Eines Tages werden sie vergangen
sein«, sagte sie lebhaft. »Hol dir Hilfe. Ich habe mir große Sorgen
gemacht. Deine Seele ist voll gepackt mit
Schwierigkeiten.«
»Ja, das sieht so
aus.«
»Sehen wir uns heute
noch? Ich meine, ich muss morgen eigentlich nach Frankfurt
zurück.«
»Dann geht es nicht
mehr«, sagte er mit einem hohlen Gefühl im Magen. »Ich habe heute
Nachmittag etwas Wichtiges zu erledigen. Dienstliches. Das kann ich
nicht verschieben.«
Plötzlich war ihre
Stimme ganz fern. »Da haben wir beide aber Pech.«
»Ja, das haben wir.«
Weshalb bat er sie nicht darum, noch zwei Tage zu bleiben? »Dann
brauche ich deine Frankfurter Adresse.«
»Ja, klar«, sagte
sie. »Hast du etwas zu schreiben?« Sie war freundlich und weit
entfernt.
»Ja, klar, habe
ich.«
Sie diktierte, er
schrieb mit.
»Tja, es wäre ja
schön, wenn ich dich mal in Frankfurt sehen könnte.«
Eine plötzliche Wut
schoss in ihm hoch, weil er fand, dass sie wie die Verkäuferin im
Fleischerladen klang: »Darf es ein wenig mehr sein?«
»Ich finde das nicht
gut«, sagte er.
»Was findest du nicht
gut?«
»Dass du so einfach
verschwindest. Und ich kann nichts dagegen tun.«
Sie schwieg sehr
lange.
»Das haben wir aber
doch gewusst. Ich meine, das war doch von Anfang an klar, oder?«
Sie klang wirklich wie eine Verkäuferin.
»Ja«, antwortete
er.
»Warte mal«, sagte
sie, »du überlegst dir das. Und dann rufst du mich einfach an und
sagst: Ich bin gleich in Frankfurt.«
»Ja, gut. Und pass
auf dich auf.«
»Das werde ich.« Sie
lachte und unterbrach die Verbindung.
Vielleicht hat sie
immer so gelebt, überlegte er wütend. Mal hier etwas mitnehmen, mal
da etwas mitnehmen. Warum auch nicht? Das Leben ist kurz, wie
solche Leute wahrscheinlich betonen. Und warum sollte sie sich
binden? Sie war verheiratet und geschieden. Also hatte sie die
Erfahrung schon. Vorausgesetzt, das stimmte. Hieß sie wirklich
Karen Swoboda? Hatte sie wirklich eine Werbefirma in Frankfurt? Und
wollte er wirklich eine Antwort auf diese Fragen?
Bald nahm der Betrieb
dieses besonderen Tages ihn voll in Anspruch. All jene Menschen aus
der engeren Bekanntschaft und Verwandtschaft, die sich für gute
Freunde seines Vaters hielten, klingelten und wollten versorgt
werden. So war er denn der trauerumwölkte Sohn, der mit
Thermoskannen bewaffnet Kaffee und Tee verteilte, auf einem großen
Tablett Sekt und Orangensaft reichte oder belegte Brötchen
servierte.
Dazwischen die hohe
Stimme seiner Mutter. »Das ist Tante Gerlinde, Karl. Aber du kennst
doch Tante Gerlinde noch?« Oder die Feldwebelstimme von Tante
Trude: »Wie, du bist der kleine Steppke von vor fuffzehn Jahren?
Nicht zu fassen!«
Irgendwann machte die
Trauergemeinde sich auf den Weg zum Friedhof, und seine Mutter
behielt Recht: Es waren mehr als zweihundertfünfzig Leute, die sich
zum Gottesdienst einfanden.
Seine Mutter raunte,
als sie in der ersten Bankreihe Platz nahmen: »Also, das geht
schief. So viel Platz haben Grüns ja gar nicht.«
»Das regelt sich«,
beschwichtigte er.
Dann war plötzlich
Anna-Maria neben ihm, und er wurde ein wenig ruhiger, setzte sich
und nahm sie auf den Schoß.
Da sein Vater im
religiösen Leben der Gemeinde nicht die geringste Rolle gespielt
hatte, war dem Pfarrer die schwere Aufgabe übertragen, so zu tun,
als habe er ihn gekannt. Der Pfarrer versuchte das jedoch erst gar
nicht, sondern erklärte in dürren Worten, der Herr habe den Herrn
Müller zu sich in sein Reich gerufen. Und nun wollen wir beten …
Der Gottesdienst war erfreulich kurz, der Weg zum offenen Grab
auch. Dann stand Müller neben seiner Mutter eine Dreiviertelstunde
lang am offenen Grab und musste vielen Menschen die Hand schütteln,
von denen er nicht genau wusste, wer sie waren und warum sie seinen
Vater verabschiedeten.
Dann sah er
Krause.
Er stand in seinem
unvermeidbaren beigefarbenen Trenchcoat einhundert Meter entfernt
neben zwei Scheinzypressen, hielt die Arme locker vor dem Bauch
verschränkt und wirkte wie ein interessierter Spaziergänger, der
bei seinem Gang durch den Friedhof zufällig auf Lebende
trifft.
Müller war
augenblicklich beglückt, denn das war ohne Zweifel eine Ehre. Und
mehr noch fühlte Müller, dass dieser Krause es war, bei dem er ein
Zuhause gefunden hatte.
»Junge«, sagte seine
Mutter neben ihm mahnend, »das ist Klara, mit der du mal im
Sandkasten gespielt hast.«
»Hallo, Klärchen«,
sagte Müller. »Schön, dich zu sehen.«
»Ich lebe jetzt in
Bremen«, sagte Klara aufgedreht. »Und ich habe vier
Kinder.«
»Das ist schön!«,
sagte Müller wenig überzeugend.
Als er den Kopf
wieder hob, um nach Krause Ausschau zu halten, war er nicht mehr zu
sehen, der Platz neben den Zypressen leer.
Er hat einen
Spaziergang gemacht, dachte er. Das tut er oft. Diesmal, weil mein
Vater beerdigt wurde, hierher auf diesen Friedhof. Es ist gut, dass
ich Teil dieses Mönchsordens bin.
»Ich habe schon
einhundertvier Leute zu Grüns eingeladen«, tuschelte seine
Mutter.
»Das packen wir«,
sagte er beruhigend.
»Wir gehen dann
heim«, bemerkte Melanie. »Ich muss noch einmal in die
Bank.«
»Aber natürlich, mein
Liebchen«, sagte seine Mutter mit dem Charme einer
Eisenfeile.
Dann standen sie
endlich allein vor dem Schacht des Grabes, seine Mutter nahm eine
Hand voll Erde und ließ sie auf den Sarg fallen. Sie sagte: »Du
weißt ja gar nicht, wie sehr er mir fehlen wird. Wenn du fünfzig
Jahre lang neben einem Menschen am Morgen aufwachst, dann kannst du
dir nicht vorstellen, wie es ist, ohne ihn
aufzuwachen.«
»Ich bin da, auch
wenn ich ihn nicht ersetzen kann«, sagte er. »Ich verspreche dir,
da zu sein.«
Dann sah er
Karen.
Sekundenlang hatte er
das Gefühl einer Sinnestäuschung, aber Zweifel gab es nicht. Auch
sie trug einen Trenchcoat. Sie war nicht weiter entfernt als
dreißig oder vierzig Meter. Gelassen ging sie auf einem schmalen
Pfad zwischen Gräberreihen, schaute zu ihm hin, nickte und ging
weiter. Zweifelsfrei: Karen Swoboda mit der
Löwenmähne.
»He, Moment mal«,
sagte er hastig und laut. Er wollte losstürzen. Aber dann merkte
er, dass Karen offensichtlich kein Treffen wollte, denn ihre
Schritte wurden immer schneller, und Müller war der Weg durch viele
Menschen versperrt, die nur langsam vorwärts kamen.
»Was ist denn, mein
Junge?«, fragte seine Mutter irritiert.
»Eine alte Freundin«,
sagte er. »Ich bin erstaunt, sie hier zu sehen.«
»Dann lass uns jetzt
zu Grüns fahren. Wieso alte Freundin?«
Er musste lächeln.
»Na ja, eine wirklich gute alte Freundin eben.«
»So was hast du,
Junge?«
»So was habe ich,
Mama.« Er fasste sie behutsam am Ellenbogen, und sie gingen langsam
von dem Grab fort.
»Und wann siehst du
Anna-Maria? Geht das so wie nach den modernen Ehescheidungen? Zwei
Stunden alle vierzehn Tage, und wenn du zweieinhalb Stunden daraus
machst, bricht die Welt zusammen?«
»Ich hoffe nicht«,
sagte er. »Und jetzt geht es zur Fütterung der
Raubtiere.«
Er fragte sich, warum
Karen gekommen war. Ausgerechnet zur Beerdigung seines Vaters. Und
warum sie nicht einfach zu ihm hingekommen war, obwohl sie doch
wissen musste, dass ihm das geholfen hätte. Erst Krause, dann
Karen. Er war sehr verwirrt.
Bei Grüns hatte man
das Personal verdoppelt, der Saal war voll, es herrschte Lärm wie
in einem überfüllten Bahnhof. Mit Erleichterung stellte Müller
fest, dass seine Mutter sich begeistert ins Gewühl stürzte und mit
allen möglichen Leuten gleichzeitig sprach, wobei sie sich
groteskerweise dauernd wie eine Tänzerin drehte.
Jemand dicht vor ihm
sagte erleichtert: »Mein Junge, endlich kriege ich dich zu fassen!
Ich wollte ja etwas zum Tod meines Bruders sagen, und ich habe seit
Tagen darüber nachgedacht, wie ich das tun kann, dass es wirklich
jedem, der hier ist, etwas gibt. Wir Älteren haben ja die Pflicht,
nicht einfach irgendetwas zu sagen, sondern etwas, das bleibt, über
das man nachdenken kann, was einem einfällt, ehe man abends
einschläft. Und da mein Bruder ja eine tief gläubige Person war,
ist mir Folgendes eingefallen. Wir waren doch vier Geschwister
daheim …«
Er hatte aufdringlich
gelbe Zähne und heftigen Mundgeruch. Ich mag ihn nicht, dachte
Müller.
»… und da gibt es
eine köstliche Begebenheit, die uns allen tief im Gedächtnis
geblieben ist. Eines Abends kam unser Vater, den dein Vater ja sehr
verehrt hat, leicht bedudelt nach Hause und rief die Familie
zusammen. Du siehst, ich will auf die Familie hinaus, deshalb
erzähle ich diese Geschichte, deshalb ist sie so wertvoll. Also,
unser Vater ruft die Familie zusammen, sitzt da in seinem Sessel
und dröhnt: Nun hört mal gut zu! Also, so würde ich gern anfangen,
wenn du nichts dagegen hast. Und dann kann man ohne Schwierigkeiten
überleiten zu meinem eigentlichen Anliegen. Das heißt: Familie und
Gott, und ich denke mir das so, dass …«
»Hör zu«, sagte
Müller scharf. »Mein Vater ist beerdigt worden, dein Bruder. Du
kannst um ihn trauern. Aber wenn du eine Rede schwingen willst,
obwohl hier alle nur etwas essen und sich friedlich unterhalten
wollen, dann schwinge diese Rede draußen auf dem Parkplatz. Mein
Vater war niemals eine tief gläubige Person, und ich verbiete dir,
hier laut zu werden. Ist das klar?«
Gegen 14 Uhr verließ
Müller die Trauergesellschaft, fuhr nach Hause und zog sich um. Als
er in die Kühle der Tiefgarage des Amtes tauchte, wurde er
augenblicklich ruhiger und fand es richtig, Karen nicht angerufen
zu haben. Welche Beweggründe sie auch immer gehabt hatte, auf dem
Friedhof zu erscheinen, sie würde es ihm erklären. Dann stahl sich
für eine Sekunde die Frage in sein Bewusstsein, ob Karen Swoboda
möglicherweise hatte prüfen wollen, ob er tatsächlich einen Vater
hatte, der verstorben war und an diesem Tag beerdigt
wurde.
Auf seinem
Besuchersessel hatte jemand die komplette Ausrüstung eines
SEK-Mitgliedes ausgebreitet. Darauf lag ein Zettel: »Ich hoffe, du
hast dir keinen Bauch angefressen. Mach es gut und viel Glück!
Herbie.«
Er begann sofort,
sich umzuziehen, und wurde von einem Sturm an Erinnerungen
überwältigt. An das oberste Prinzip des SEK, die Freiwilligkeit.
Wer gehen wollte, sollte gehen. Der Dienst ging immer vor. Wenn er
gerufen wurde, durfte er niemandem je sagen, wohin. Er war Teil
einer Elite gewesen. Chancenlos, die Überstunden zu zählen. Das,
was wirklich zählte, war der Korpsgeist. Der war beim SEK stärker
als jede Verbindung zu einer Frau.
Es klopfte, und
Krause stand in der Tür.
»Haben Sie ein paar
Minuten Zeit?«
»Natürlich.«
»Es ist ziemlich
denkwürdig, Sie zu sehen, wie Sie sich in einen Kampfanzug der
Polizei zwängen, junger Freund. Sie sind beigeordnet, also hinten
bleiben und nichts riskieren. Die Leute des SEK wissen, dass Sie
ein BND-Mann sind. Es ist ihnen aber nicht klar gesagt worden,
weshalb Sie eigentlich dabei sind. Das Ziel ist: mögliche
Zielpersonen, den Kobalt-Raub betreffend, festzustellen und
unschädlich zu machen. Wir sind in dieser Sache sehr vorsichtig
vorgegangen und haben uns beim SEK wie auch beim Bundeskriminalamt
mit Leuten zusammengetan, die wir kennen und denen wir vertrauen.
Wir haben bewusst darauf verzichtet, den Verfassungsschutz oder den
Militärischen Abschirmdienst zu verständigen. Die einfache
Begründung: Wir wollen keinerlei Wirbel und schon gar keine Hektik.
Und wir wollen undichte Stellen zu den Medien unter allen Umständen
auf ein Minimum beschränken. So lange wir kontrollieren können, wem
wir was sagen, so lange können wir davon ausgehen, dass die
Fährtensuche intensiv, aber ohne jede Hetze durchgeführt wird.
Unser Achmed hat viele Fragen aufgeworfen. Eine nur scheinbar
deutliche Spur ist das Video vom Fernsehsender Al-Dschasira, worin
diesem Land gedroht wird. Im Grunde hängt diese Spur aber genauso
in der Luft wie die zu Helmut Breidscheid. Bei Breidscheid haben
sich zwar merkwürdige Aspekte ergeben, aber nichts deutet bisher
darauf hin, dass er kriminell ist. Er ist ein knallharter,
international arbeitender Geschäftsmann, was aber nicht bedeuten
muss, dass er Kobalt klauen lässt. Es fehlt bisher jegliches Motiv.
Die dreihunderttausend Dollar bei Achmed unterm Bett deuten zwar
Skurriles an, aber Beweise irgendwelcher Art, die eindeutig
kriminelle Hintergründe haben, konnten wir nicht finden. Die
Hinzuziehung von Russen oder Bewohnern ehemaliger Ostblockstaaten
ist zwar eindeutig bewiesen, führt aber keinesfalls direkt zu
Achmed oder aber zu Breidscheid. Das heißt, uns fehlen die Beweise
für irgendwelche handfesten Verbindungen, wir haben einen Brei, ein
Durcheinander an Dingen, die eigentlich nicht zueinander passen,
aber offensichtlich miteinander zu tun haben. Achten Sie also auf
Verbindungsstücke. Wir müssen den Kreis
Achmed-Breidscheid-Russen-Kobalt schließen, und ich sage Ihnen ganz
offen, dass ich das für ein sehr trübes Gewässer halte. Zuweilen
aber kann sich durch ein bisher nicht bekanntes Segment alles
zusammenfügen. Achten Sie auf solche Segmente.« Er grinste
leicht.
Müller lächelte. »Ich
wollte Ihnen danken, dass Sie bei der Beerdigung
waren.«
»Oh, das war reiner
Egoismus. Ich brauche Müller pur, nicht irgendeinen Verschnitt. Ich
wollte einfach sehen, wie es Ihnen geht. Goldhändchen wird Ihnen
nach Ihrer Rückkehr einiges über Breidscheid verklickern. Der Mann
ist ein Phänomen, das verspreche ich. Und jetzt machen Sie es gut.
Ich muss mich jetzt meinem Freund vom Mossad widmen. Sie sind schon
alle da: das FBI, die CIA, der Mossad und selbstverständlich die
Russen. Und das alles zusammen ergibt einen teuflischen Eintopf.«
Er lächelte schmal und ging hinaus.
Dann ging es sehr
schnell. Jemand kam herein, sagte: »Mein Name ist Schneider,
Vorname Jürgen. Und du bist Karl oder Charlie oder der Kleine, wenn
mich nicht alles täuscht.« Er war ein schmaler Zweimetermann mit
einem offenen, sympathischen Gesicht. »Ist die Ausrüstung
okay?«
Müller
nickte.
»Gut. Hier ist eine
P226 für dich.«
»Die will ich nicht«,
sagte Müller hastig.
»Du wirst sie
nehmen«, bestimmte Schneider. »Du musst sie bei dir tragen. Für den
Fall einer Selbstverteidigung. Vorschrift.«
»Na ja, denn«,
murmelte Müller und steckte die Waffe in die Lederschlaufe am
Gürtel. »Wir können.«
»Und bei
Kampfhandlungen will ich dich ganz hinten sehen. Hinterm warmen
Ofen.«
»Gut«, nickte
Müller.
Der Bus des SEK war
ein dunkelblauer Mercedes und vollkommen zivil, nichts ließ Polizei
erkennen, nur die Scheiben waren stark getönt. Müller grüßte vage
in die Runde und ließ sich auf einen freien Sitz unmittelbar hinter
dem Fahrer sinken. Mit dem Fahrer zusammen waren sie jetzt vierzehn
Männer, mit Ausnahme von Müller alle bis an die Zähne bewaffnet,
niemand trug einen Helm.
»Also, Kinder«, sagte
Schneider und drehte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten. »Der
Mann, den wir eingeladen haben, war mal viele Jahre bei unserem
Verein. Er heißt Charlie für euch, für den Fall, dass ihr den Namen
braucht. Bei eventuellen Auseinandersetzungen wird er ganz hinten
sein, ist aber unbedingt zu schützen. Das geschieht nach Schema
elf. Wir nehmen die Autobahn 11 und gehen dann auf die 20 bis zur
Ausfahrt Pasewalk. Vier Kilometer vor Pasewalk liegt ein Ort namens
Rollwitz. Das ist Ziel Nummer eins. In diesem Rollwitz gibt es eine
alte, längst aufgelassene Gastwirtschaft. Dort finden Treffen
unbekannter Art angeblich von Ausländern aus den östlichen
Nachbarstaaten statt. Die örtliche Polizei sagt, dass deswegen
keine Unruhe herrscht und niemals irgendwelche Zwischenfälle
gemeldet wurden. Keinerlei Auffälligkeiten also. Wie die Polizei
weiter sagt, haben sie sich auch deshalb nicht darum gekümmert,
weil sie hoffnungslos unterbesetzt sind. Wir kommen von hinten
rein, gehen rein, nehmen fest oder auch nicht. Es muss schnell
gehen. Wir gehen nach Schema vier vor. Wir werden dann an die
örtliche Polizei übergeben und verschwinden. Ziel Nummer zwei
klingt abartig, aber da wir schon mal in der Gegend sind, wollen
wir uns das auch noch ansehen. Nach Mitteilung eines Bürgers aus
Pasewalk, der sich ganz ernsthaft als der Sohn von Spiderman
bezeichnet und der auch so gekleidet ist, müssen wir zu einer
Scheune, die mitten in der Pampa liegt. Angeblich finden wir dort
jede Menge Russen, Georgier, Rumänen, Bulgaren, Polen. Sagt
Spiderman junior. Wir werden sehen. Bisher hat es verdeckte
Erhebungen gegeben durch die Bundeswehr, die Spähtrupps durch die
Region laufen ließ. Kein Ergebnis. Dann haben rund zwanzig zivile
Fahnder sich über die ganze Region verteilt, aber ebenfalls nichts
gefunden. Zu eurer Kenntnis: Wir haben die Spuren Nummer
dreihundertfünfundsechzig und sechshundertelf zugeteilt bekommen.
Und wahrscheinlich müssen wir wieder damit rechnen, nichts zu
finden.«
Der Fahrer war sehr
schnell und blieb konstant auf der linken Fahrspur. Müller
schätzte, dass er mit hundertachtzig Stundenkilometern
fuhr.
»Seid ihr ständig mit
diesem Kobalt-Fall beschäftigt?«, fragte Müller.
Schneider nickte.
»Wir erledigen pro vierundzwanzig Stunden drei bis sechs besondere
Ziele, bei denen unklar ist, was sie bedeuten. Das hat schon drei
Stunden nach dem Raub des Materials begonnen. Wir haben kaum
geschlafen. Was glaubt ihr denn? Haben wir eine schmutzige Bombe im
Raum Berlin?«
»Wir müssen
sicherheitshalber davon ausgehen«, sagte Müller. »Sonst könnten wir
am Ende dämlich aussehen.« Dann schwieg er, weil er nicht wusste,
was Schneider wissen durfte und was nicht.
Nach etwas mehr als
einer Stunde hatte der Fahrer die Ausfahrt Pasewalk erreicht und
nahm die Bundesstraße 109. Vor der Einfahrt in den Ort Rollwitz
hielt er an.
Schneider bediente
eine Reihe kompliziert aussehender Geräte vor ihm, setzte sich
Kopfhörer auf und sprach in ein Mikrofon. Nach drei Minuten wandte
er sich um und sagte: »Wir haben eine Lage. Das Gebäude dieser
Gaststätte liegt etwas zurück von der Straße. Davor ist ein großer
Parkplatz. Unmittelbar an das Hauptgebäude schließt sich nach
hinten ein großer Saal an. Rechts in diesem Saal liegen die
Toiletten. Hinter dem Gebäude liegt ebenfalls ein großer Parkplatz.
Vor dem Gebäude parkt niemand, dahinter etwa fünfundzwanzig Pkw.
Von diesem Platz kommen wir auf zwei Wegen in den Saal, ein Eingang
rechts, ein Eingang links. Von vorn gibt es nur den Eingang durch
die Gaststätte. Ich will, dass drei Leute links hineingehen, drei
Leute rechts. Achtung, die drei Leute rechts: Ihr kommt an den
Toiletten vorbei, nichts übersehen. Ich gehe mit drei Männern von
vorne hinein. Conny und Albert, ihr passt auf Charlie auf. Die
Übrigen sichern das Gebäude durch bis in den Dachboden. Wichtig zu
wissen: Das gesamte Gebäude ist offiziell unbewohnt, auch im ersten
Stock. Die Gaststätte ist seit etwa zwölf Jahren außer Betrieb, der
Eigner ist festgestellt, will aber mit den Fremden in seinem Haus
angeblich nichts zu tun haben. Es wird vermutet, dass er den
gesamten Komplex einfach vermietet hat. Wir können, Schorsch, und
der Zugriff erfolgt genau in null plus zwei Minuten. Alles wie
gehabt, Einteilung ist bekannt. Helm auf zum Gebet.«
Der Fahrer Schorsch
fuhr mit Vollgas seitlich an dem Gebäude vorbei und parkte
unmittelbar auf der Rückseite. Die Männer waren sofort draußen,
kannten ihre Zuordnungen und verloren keine Zeit. Sie standen mit
entsicherten Waffen an den Eingängen.
Müller hielt sich an
Schneider, der im Laufschritt an der linken Seite des Gebäudes
entlanglief und dann vor dem Haupteingang stehen blieb. Es war
vollkommen still, bis Schneider »Zugriff!« in sein Mikrofon
sagte.
Die Eingangstür war
verschlossen.
Jemand sagte knapp:
»Hebel rein!«
Einer der Männer trat
nach vorn und setzte einen stählernen Hebel an. Es knallte und
splitterte, die Tür schwang auf.
Müller dachte:
Schade, es war eine schöne alte Eichentür. Er ließ die Männer an
sich vorbeigleiten und kam dann selbst in die uralte Dorfkneipe. Es
roch stark nach Hefe. Einen Augenblick lang störten ihn die zwei
schweigsamen Männer hinter ihm. Er dachte: Wenn ich jetzt
angegriffen werde, will ich diese verdammte Pistole nicht berühren.
Ich kann es einfach nicht.
Rechts von der Theke
war eine Tür, über der ein Schild mit der Aufschrift SAAL
angebracht war. In der Mitte hinter der Theke führte eine Tür
offensichtlich in die Küche, denn Müller sah weiß geflieste Wände.
Er ging langsam durch die Tür in Richtung Saal, die beiden
Begleiter links und rechts einen Schritt hinter ihm.
Sie gerieten in eine
bizarre Szene.
Im Hintergrund an
zwei langen, aneinander gestellten Tischen saßen vier Männer in
Hemd, Krawatte und Anzug. Vor ihnen standen vier Telefone und
einige Flaschen mit Mineralwasser. Genau vor diesen Tischen standen
Bankreihen, insgesamt sechs. Und auf diesen Bänken hockten Männer,
einige hatten Frauen neben sich. Fast alle Männer rauchten und
hatten Aschenbecher auf dem Fußboden stehen. Es wirkte wie die
Versammlung eines Bürgervereins.
Schneiders Männer
sicherten ab, und ein paar von ihnen sammelten die Ausweise der
Leute ein. Niemand sprach ein Wort.
Schneider kam zu
Müller und fragte: »Wofür hältst du das hier?«
»Für ein illegales
Arbeitsamt«, sagte Müller.
Schneider nickte.
»Kann stimmen. Aber Kobalt gibt es hier nicht. Ich fürchte, wir
müssen weiter zu Spiderman.«
In diesem Augenblick
löste sich ein junger Mann mit hellblondem Haar aus der letzten
Bankreihe und rannte mit weit vorgestrecktem Kopf blitzschnell auf
den linken hinteren Ausgang des Saales zu.
»Oha!«, sagte
Schneider neben Müller ganz ruhig.
Es gab keine Sekunde
der Aufregung, niemand brüllte irgendetwas, nur das Trommeln der
Schuhe des Flüchtenden war zu hören.
Dann traf er auf den
SEK-Mann, der den Ausgang sicherte. Der Mann zeigte keinerlei
Reaktion. Der Flüchtende versuchte ihm in vollem Lauf auszuweichen,
drehte unwillkürlich nach rechts, streckte die Hände weit vor und
prallte dann gegen einen mannshohen gusseisernen Kanonenofen, der
wahrscheinlich schon viele Generationen von Dörflern gewärmt hatte.
Der Junge blieb liegen.
»Ich brauche einen
Arzt«, sagte Schneider in sein Mikrofon.
»Und ich brauche
diesen Jungen«, bat Müller.
»Geht klar«, nickte
Schneider. »Falls er sich nicht das Kreuz gebrochen
hat.«
Weil Unruhe hochkam
und einige Leute anfingen, sich schnell und unkontrolliert zu
bewegen, ging Schneider nach vorn und sagte: »Keine Angst! Niemand
wird verhaftet, niemandem geschieht Unrecht. Bleiben Sie
ruhig.«
Dann wandte er sich
einem seiner Leute zu und sagte: »Von den vier Chefs hier vorne
tragen die beiden rechten Waffen. Im Jackett. Nimm sie ihnen
ab.«
Der Angesprochene
nickte nur und sagte in sein Mikrofon: »Ich brauche
Deckung.«
Sofort kamen zwei
SEK-Mitglieder aus dem Hintergrund des Saales. Sie stellten sich
neben den vier Chefs auf, die nach wie vor vollkommen reglos auf
ihren Stühlen hockten, und richteten ihre Maschinenpistolen auf
sie. Dann gaben sie kurze, knappe Befehle. »Aufstehen! Rücken zu
mir! Hände auf den Kopf! Keine Bewegung!«
Nach einer Weile
sagte jemand: »Es sind alte Walther PPK. Wunderbar gepflegt,
richtig schöne Stücke.«
Schneider kam zurück
zu Müller. »Es sind außer den vier Chefs sechsundvierzig Leute.
Alle wollen Arbeit, sonst nichts. Sie haben alle Touristenvisa, und
wahrscheinlich sind die sogar echt.«
Von hinten kam ein
Mann mit einer schweren Arzttasche nach vorn, in seinem Gefolge
zwei Sanitäter. Sie gingen zu dem Kanonenofen und knieten sich
neben den jungen Mann.
Es war still, kein
Laut war zu hören. Schneider ging wieder nach vorn und erklärte:
»Schreiben Sie bitte Ihren Namen und die gültige Adresse auf
Zettel, die ich jetzt verteilen lasse. Sie können bald nach Hause
gehen.«
Der Arzt am
Kanonenofen stand auf und sagte laut: »Alles klar hier. Kein
körperlicher Schaden, aber leichter Schockzustand. Ich vermute, das
war die Aufregung.«
Müller ging hin und
sagte zu dem Jungen: »Ich möchte mit dir sprechen.«
»Ich nicht sprechen«,
antwortete der Junge. Er saß mit angezogenen Knien auf dem alten
Bretterboden. »Nix deutsch.«
Müller versuchte es
auf Englisch. »Kann ich mit dir reden?«
»Englisch geht klar«,
sagte der Junge und stand auf.
»Dann komm, wir gehen
in die Gaststätte.« Er fragte zu Schneider hinüber: »Wie viel Zeit
habe ich?«
»Zehn
Minuten.«
Der Junge war
vielleicht zweiundzwanzig Jahre alt, und er zitterte vor Angst und
Aufregung. Er setzte sich ein wenig holprig in Bewegung und legte
dabei beide Hände auf den Kopf.
»Wir sind nicht im
Krieg«, sagte Müller. »Du bist ein freier Mann. Nimm die Hände
runter.«
Als der Junge sich
setzte, machte Müller eine unvermutet heftige Bewegung, und der
Junge zuckte ängstlich zusammen.
Er hatte ein
längliches, sehr blasses Gesicht mit klugen, unruhigen Augen. Seine
Hände waren lang, elegant und gepflegt. Seine Kleidung war billig
und oben am Hals war sie leicht ausgefranst und mit Schweißflecken
durchsetzt.
»Alles klar«, sagte
Müller eindringlich. »Du brauchst keine Angst zu haben. Keine
Ausländerbehörde. Mein Name ist Charlie. Wie heißt
du?«
»Vitali.«
»Aus welchem Land
kommst du?«
»Rumänien.«
»Wie alt bist
du?«
»Dreiundzwanzig.«
»Wie lange bist du in
Deutschland?«
»Achtundzwanzig
Monate.«
»Mit einem
Touristenvisum? Und das ist natürlich längst
abgelaufen?«
»Ja.«
»Okay. Vitali, ich
brauche Hilfe. Kennst du diesen Mann?« Er ließ ein Foto von Achmed
über den Tisch segeln.
Die Antwort kam
sofort und energisch: »Kenne ich nicht.«
»Arbeit bekommst du
von den vier Männern da im Saal?«
»Ja. Sie werden
angerufen, du kannst mich buchen. Ich koste zehn Euro die
Stunde.«
»Und wie viel davon
bekommst du?«
»Vier
Euro.«
»Und du arbeitest mal
hier und mal da?«
»Ja. Meistens in
Berlin. Ich mache Gärten und so was. Manchmal passe ich auch auf
Kinder auf oder helfe in Restaurants. Was eben so
anfällt.«
»Du weißt, dass
radioaktiver Stoff geraubt wurde?«
»Jeder weiß das. Die
Leute haben Angst.«
»Das stimmt. Hast du
in Berlin irgendetwas gehört von einer Gruppe, die etwas mit diesem
Stoff zu tun hat?«
»Nicht
direkt.«
»Was heißt: nicht
direkt?«
»Na ja, man hat
gesagt, das wären Russen oder Polen oder Leute aus Georgien. Sie
bringen Unglück, sie bringen Gerüchte. Ich habe Russen getroffen,
die waren stinksauer deswegen.«
»Hast du jemals
gehört, wo diese Gruppe steckt? Wo sie sich versteckt
hält?«
»Nein. Muss ich jetzt
sofort nach Rumänien zurück?«
»Ich werde versuchen,
etwas für dich zu tun, versprochen. Hast du jemals von einem
Mitglied dieser Gruppe etwas gehört? Einen Namen? Einen
Spitznamen?«
»Ja. Einer soll Pjotr
heißen. Das soll der Chef sein. Aber ich weiß natürlich nicht, ob
das stimmt. Dann habe ich von einem Mann gehört, der Dimitri der
Riese genannt wird. Aber sonst nichts.«
»Was sagen die Leute
so? Was hat diese Gruppe vor?«
»Niemand weiß
Genaues. Die meisten denken: Die werden eine schmutzige Bombe bauen
und dann irgendeinen erpressen. Den Staat. Was weiß
ich.«
»Und niemand hat
etwas darüber gesagt, wo diese Leute sich aufhalten?«
»Sie sagen: Die
halten sich da auf, wo du keinen Russen suchst. Aber ich weiß
nicht, wo das ist.«
»Was ist mit
Terrorismus?«
»Na ja, ein paar
denken, es sind Terroristen. Aber die meisten glauben, es sind
keine Terroristen. Die wollen nur reich werden und wieder
verschwinden.«
Schneider kam aus dem
Saal. »Charlie, wir müssen!«
»Ich habe ein
Problem«, sagte Müller. »Mit dem Jungen hier müsste mein Chef
dringend reden. Ist das hinzukriegen?«
»Schwierig. Sollen
wir ihn mit einem Dienstwagen nach Berlin schicken? Und du
garantierst mir dafür, dass er dann dem LKA oder BKA überstellt
wird? Sagen wir: zehn Stunden für euch?«
»Das wäre
gut.«
»Dann arrangiere ich
das schnell. Ich kläre das später mit meinem Chef. Das kann ich
verantworten.«
Müller reichte Vitali
die Hand und sagte: »Okay. Du gehst jetzt auf eine kleine Reise
nach Berlin. Keine Angst, Vitali. Vielleicht finden wir eine
Lösung.«
Dann rief er Krause
an, erreichte ihn nicht und sprach stattdessen kurz auf das Band:
»Ich schicke einen jungen Rumänen, der etwas von Pjotr weiß, der
der Chef der Kobalt-Räuber ist. Nach zehn Stunden müsst ihr ihn
überstellen.«
Draußen hatte
mittlerweile die SEK-Gruppe an die Polizei übergeben.
Müller war einen
Augenblick lang in Versuchung, Karen anzurufen, ließ es dann aber
sein, weil er nicht wusste, was auf ihn zukam und wann er wieder in
Berlin sein würde. Er hoffte inständig, dass sie noch da
war.
Als alle wieder im
Bus waren, griff Schneider zum Mikrofon und bedankte sich für die
schnelle und gründliche Arbeit. »Wir fahren jetzt zu Spiderman, der
behauptet hat, die Gruppe um den radioaktiven Stoff zu kennen oder
im Traum gesehen zu haben. Wie auch immer, wir haben noch keine
Lage und treffen zunächst Spiderman bei einem praktischen Arzt
namens Kirsch in Pasewalk. Das erledige ich mit Charlie. Schorsch,
wir können.«
Schorsch brauchte nur
ein paar Minuten, hielt dann vor einem Einfamilienhaus in einem
großen Garten und sagte: »Hier müsst ihr rein.«
Der Arzt öffnete die
Tür und lächelte sie an. Er war etwa fünfzig Jahre alt und hatte
ein von Falten vollkommen zerklüftetes Gesicht. Er erklärte:
»Spiderman erwartet Sie, meine Herren. Und er ist sehr aufgeregt:
Er wird wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben ernst
genommen. Zu Spiderman selbst sage ich Ihnen nur, dass er
vollkommen verrückt ist. Aber auf eine sehr verträgliche, nette
Art. Er hat noch niemals Gewalt angewendet. Er ist zweiundvierzig
Jahre alt und lebt mit seiner Mutter zusammen. Niemand kennt seinen
Vater. Er war anfangs wahrscheinlich ein Borderliner, entwickelte
sich dann aber immer weiter in Richtung klassisch verrückt. Aber:
Er ist durchaus nicht zurückgeblieben, und wenn er meint, er hat in
der alten Stockmannscheune Russen und Polen gesehen, dann können
dort durchaus Leute sein. Bei ihm weiß man nie so genau, was reine
Fantasie ist und was von der Wirklichkeit angestoßen wurde. Ich bin
nur der Mann, der gelegentlich mit Mittelchen eingreift, wenn seine
Verrücktheiten überhand nehmen. Ich bitte Sie nur herzlich, nicht
hart mit ihm umzuspringen.« Dann drehte er sich um und führte sie
in ein kleines, gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Spiderman saß
in einem Sessel, sprang auf, als sie eintraten, blieb in
Habachtstellung stehen und strahlte sie an.
Er hatte ein
pausbäckiges Gesicht, wirkte sehr friedlich und war eigentlich nur
ein halber Spiderman: Er trug ein feuerrotes Hemd mit Kapuze über
dem Kopf, auf die die Spinnennetzlinien gezeichnet waren, aber
unten normale Jeans und helle Sportschuhe.
»Ich bin geehrt«,
erklärte er zackig.
Sie reichten ihm die
Hand und setzten sich in kleine, bequeme Sessel.
Schneider beugte sich
vertrauensvoll vor. »Mister Spiderman, wir sind außerordentlich
dankbar, dass Sie uns helfen wollen. Können Sie uns schildern, was
Sie beobachtet haben?«
»Aber ja, meine
Herren«, sagte Spiderman. »Es ist einfach so, dass ich in meiner
Welt zuweilen Dinge sehe und erfahre, die den normalen Sterblichen
verschlossen bleiben. Will heißen: Die sehen das alles nicht, die
hören das alles nicht. So hatte ich vor ein paar Tagen im Traum die
Eingebung, dass hier in meiner unmittelbaren Nähe etwas ablief, was
möglicherweise den deutschen Staat in seinen Grundfesten
erschüttern könnte. Will sagen: Ich erlebte am Fernseher den Raub
des radioaktiven Materials, machte mich dann auf eine nächtliche
Patrouille, flog bei der Gelegenheit über die alte
Stockmannscheune, sah mich um und fand ein Grab.«
»Was war in dem
Grab?«, fragte Müller.
»Ich bin nicht
indiskret, meine Herren. Will sagen: Ich ließ mich nicht dort
nieder, um in der Erde zu stochern. Das Grab blieb
unberührt.«
Müller nickte. »Wen
sahen Sie denn noch? Ich meine, bewegten sich dort
Menschen?«
»Beim ersten Überflug
nicht. Allerdings beim zweiten. Will sagen: Ich entdeckte dann eine
beträchtliche Anzahl ausländischer Besucher. Will heißen: Sie sahen
östlich aus.«
»Wie viele waren es
denn?«, fragte Schneider.
»Ich landete
vorübergehend auf einer Pappel. Dort stehen Pappeln, meine Herren.
Ich sah zunächst mindestens vier Männer.«
»Wann genau war
das?«, fragte Müller.
»Vorgestern.«
»Und was taten diese
Männer?«
»Was Männer so tun,
meine Herren. Will sagen: Sie kamen mal raus aus der Scheune, mal
gingen sie rein. Da sie mich nicht sehen können, wenn ich fliege,
bewegten sie sich natürlich.«
»Wann sind Sie
zuletzt über diese Scheune geflogen?«, fragte
Schneider.
»In der vergangenen
Nacht. Da ich wusste, dass meine Beobachtungen wichtig sind, habe
ich die Patrouillenflüge verdoppelt.«
»Und da gab es noch
immer Männer?«
»Ich sah drei.
Deutlich.«
»Waren diese Männer
bewaffnet?«, fragte Müller.
»Das war das
Erstaunliche. Will sagen: Sie waren bewaffnet. Mit
Maschinenpistolen. Und Pistolen im Gürtel.«
Müller zog Achmeds
Foto aus der Tasche und hielt es Spiderman hin. »War dieser Mann
dabei?«
Spiderman betrachtete
das Foto nur den Bruchteil einer Sekunde. »Aber ja. Positiv. Ich
nehme an, er ist ein international gesuchter Gangster oder
Terrorist. Will sagen: Ist er Ihre Zielperson?«
»Ja«, bestätigte
Müller.
Schneider beugte sich
vor. »Wissen Sie, ob diese Männer jetzt noch in der Scheune
sind?«
»Das weiß ich nicht.
Will sagen: Die meisten wissen nicht, dass ich nicht hellsehen
kann. Ich bin Spidermans Sohn, aber kein Zauberer.«
»Sie werden sich
wundern, meine Herren, über seine geschliffene Ausdrucksweise«,
erläuterte der Arzt. »Aber mein Freund Hartmut, wie er im
bürgerlichen Leben heißt, liest pro Tag etwa drei bis vier Stunden.
Und falls Sie wissen wollen, wann Goethe in Weimar zum letzten Mal
im Theater war: Hartmut weiß es.«
»Das ist sehr schön«,
sagte Müller. »Ich bin beeindruckt, und ich danke sehr für die
Auskünfte. Wo genau liegt diese Scheune?«
»Das ist einfach.
Wenn Sie die Straße vor meinem Haus bis zum Ende fahren, beginnen
drei Feldwege. Nehmen Sie den mittleren. Er führt Sie geradeaus
etwa vier Kilometer weit, ist teilweise geteert, teilweise Sand,
aber befahrbar. Dann kommt so etwas wie eine Kreuzung. Nehmen Sie
den Weg nach rechts und folgen Sie ihm zwei Kilometer. Dort teilt
sich der Weg. Nehmen Sie den nach links. Nach tausend Metern kommen
Sie direkt zur Scheune.«
»Augenblick«, sagte
Schneider. »Wie liegt diese Scheune? Das heißt, von welchem Punkt
aus kann ich sie sehen?«
»Das ist noch
einfacher«, sagte Spiderman. »Will sagen: Sie sehen aus ungefähr
tausend Metern Entfernung zunächst die Pappelreihe. Dann sehen Sie
das Dach der Scheune, weil die in einer Falte im Gelände liegt.
Will heißen: Nach taktischen Gesichtspunkten müssten Sie Ihr
Fahrzeug etwa tausend Meter vor der Scheune abstellen und den Rest
zu Fuß hinter sich bringen. Als Deckungsmöglichkeit gibt es Felder
mit halbhohem Mais und Weizen.«
Müller murmelte:
»Verblüffend. Ich danke Ihnen noch einmal.«
Sie schüttelten ihm
die Hand und gingen hinaus.
»Lass mich mit meinen
Leuten konferieren«, bemerkte Schneider. »Wie schätzt du Spiderman
ein?«
»Ich nehme ihn ernst,
bitterernst.«
»Ich auch. Ich bin in
drei Minuten fertig.« Er stieg in den Bus.
Achmed, dachte
Müller, ich hoffe, ich finde dich nicht in dem Grab.
Die Tür des Busses
öffnete sich, und Schneider sagte: »Wir können,
Charlie.«
Dann sprach er in
sein Mikrofon mit irgendwelchen Institutionen und Menschen, von
denen Müller nicht die geringste Vorstellung hatte, während
Schorsch mit hoher Geschwindigkeit durch die Felder
fuhr.
»Kalli und Bruno
Schutzkleidung komplett«, ordnete Schneider an. »Die Übrigen Helme
auf, Gegensprechanlagen durchtesten, Waffen fertig machen. Damit
das klar ist: Wir machen die klassische Zangenbewegung. Das heißt
drei Mann rechts, drei Mann links. Erst wenn wir die Scheune sehen
können, kommen die Übrigen in drei Gruppen zu zwei Mann aus den
Feldern oberhalb der Scheune. Zu Charlies Bedeckung brauchen wir
niemanden mehr. Er wird nachkommen.« Er machte eine kleine Pause.
»Ich habe mich entschieden, in Anbetracht unseres Zieles hart
vorzugehen. Bei Gegenwehr töten wir.«
»Ich sehe die
Pappeln«, sagte Schorsch hinter dem Steuer.
»Okay, wir halten an
und starten. Charlie, dringender Appell an deine Disziplin: Bleib
hier beim Bus, bis meine Stimme über Lautsprecher kommt. Dann
kannst du den Bus mitbringen.«
Achmed, dachte
Müller, bring dich in Sicherheit, sonst bist du tot. Karen, warte
auf mich in Berlin. Papa, ich gehe jede Wette ein: Wenn du mich
jetzt sehen könntest, wärst du wahrscheinlich stolz. Und Mama, du
würdest jetzt ganz ernsthaft behaupten: Mein Sohn rettet gerade das
Vaterland.
Er musste grinsen,
als er das dachte, denn im Moment war er sehr weit vom Krieg
entfernt, und andere trugen ihre Haut zu Markte. Aber wenn er in
sich hineinhorchte, war er stolz, wenigstens besuchsweise zu diesem
Haufen zu gehören. Er ertappte sich dabei, dass er dauernd auf die
Uhr sah. Null plus vier Minuten, null plus sechs Minuten. Sie
würden schon da sein.
Über dem Land lag
eine unglaubliche Stille, vor seinen Füßen summte eine Erdwespe
herum und untersuchte seine Stiefel. Zwei Meter weiter blühte eine
violette Malve, und auf einer dieser Blüten saß ein Blutstropfen.
Anna-Maria, ich habe in der vergangenen Nacht gedacht, dass du
möglicherweise ganz gern in meiner neuen Wohnung herumtollen
willst, dachte Müller.
»Charlie«, kam es aus
dem Lautsprecher, »setz dich hinters Steuer und komm her. Wenn der
Weg sich zur Scheune senkt, lass den Bus stehen.«
Er fuhr den Bus
dorthin, hielt an, und zu seiner Verblüffung stand die ganze Gruppe
in der scharfen Linksbiegung, die zu der Scheune
hinunterführte.
»Keine Gefahr«, sagte
Schneider. »Aber alles verstrahlt. Das Grab gibt es auch. Auch
verstrahlt. Wir gucken gleich, wer drinliegt. In der Scheune steht
ein Kleinlaster, darin stehen drei unversehrte Pakete mit Kobalt.
Das heißt, dass wir fünfundsiebzig Prozent des verschwundenen
Materials gefunden haben. Ein Paket wurde geöffnet, der Inhalt ist
verschwunden, nur Reste sind an der Werkbank nachweisbar. Und
offensichtlich hat sich niemand die Mühe gemacht, Spuren zu
vertuschen. Wenn du mich fragst, sind das ganz miese Zeichen. Und
ich stehe jetzt vor dem Problem, dass ich bei meiner Meldung ein
riesiges Chaos auslöse, weil sie alle kommen wollen. Und weil ich
niemanden kenne, der sie davon abhalten kann. Das betrifft
sämtliche beteiligten Ministerien ebenso wie das Kanzleramt, das
federführende Innenministerium, das neue Amt für
Terrorismusbekämpfung wie den Militärischen Abschirmdienst, den
Verfassungsschutz, das Landeskriminalamt Berlin, das
Bundeskriminalamt und das Bonner Amt für Krisen. Weißt du was,
Charlie? Ich erhöre in diesem Moment jeden, der meinen Job
übernehmen will.«
Ein paar der Männer
lachten unterdrückt.
»Haben wir eine
Vorstellung, wie die Strahlung wirkt?«, fragte Müller.
Schneider nickte.
»Die Krebsrate in der unmittelbaren Umgebung erhöht sich
augenblicklich um fünfhundert Prozent, das heißt, Krebs wird sich
auch bei Leuten zeigen, die normalerweise bis zu ihrem Tod nicht
davon betroffen sind.«
»Wie lange kann ich
diese Strahlung ohne unmittelbare Folgen aushalten?«, fragte
Müller.
»Vorsichtig geschätzt
zwei bis drei Minuten, anschließend bist du ein Todeskandidat.
Direkte Folgen sind schwere Übelkeit mit Erbrechen, Haarausfall und
Wunden auf der Haut, die wie Verbrennungen aussehen. Also dieselben
Erscheinungen, wie sie bei bestimmten Bestrahlungstherapien
auftreten.«
»Hör zu«, sagte
Müller. »Ich muss wissen, wer in dem Grab liegt.« Dann überlegte er
Schneiders Situation. »Ich würde dir raten, dir Zeit zu nehmen und
mit deinem Chef zu sprechen. Ihr müsst vermeiden, dass hier ein
Chaos entsteht und der Tatort versaut wird. Und die Journalisten
auf dem verstrahlten Boden rumrobben. Hast du irgendeine sichere
Direktleitung? Aber noch einmal: Ich muss wissen, wer in dem Grab
liegt. Jetzt.«
»Okay. Kalli und
Bruno. Schaut in dem Grab nach.«
»Ich muss selbst
reinsehen«, sagte Müller.
»Dreißig Sekunden,
nicht mehr«, bestimmte Schneider. Dann ging er abseits, um zu
telefonieren.
Es dauerte acht
Minuten, bis jemand quäkend über die Lautsprecher kam. »Wir haben
den Toten frei. Zumindest das Gesicht.«
Müller nickte. »Ich
gehe jetzt hin.«
Jemand bemerkte:
»Dreißig Sekunden. Gott schütze deine Eier.«
»Danke«, murmelte
Müller und ging los.
Achmed, mach jetzt
keinen Scheiß. Zeig mir, dass du nicht in dieser Erde liegst. Im
Grunde war der Platz vor der Scheune idyllisch und grün, heimelig
fast. Ideal für einen Friedhof.
Die beiden in den
Schutzanzügen traten beiseite.
Der Mann, der in der
Erde lag, war nicht Achmed. Nach der vagen Beschreibung konnte es
Dimitri der Riese sein.
»Das hat gut getan«,
seufzte Müller erleichtert und ging wieder davon.
Schneider kam zu ihm
und sagte: »Okay, wir haben eine Entscheidung getroffen. Wir müssen
hier abhauen. Wir wollen keine Medien. Wir sperren ein Quadrat von
etwa sechs Kilometern Seitenlänge vollkommen ab. Die Einheiten der
Schutzpolizei werden mit Bussen angekarrt. Die sind schon
unterwegs. Zusätzlich haben wir etwa zehn Streifenwagen zur
Verfügung. Will heißen: Hier wird alles dicht gemacht, wie
Spiderman sagen würde. Wir können dann verschwinden, eine
Pressekonferenz wird es im Innenministerium geben, aber vermutlich
erst morgen früh. Details unseres Fundes gehen nur an die Spitzen
der beteiligten Behörden mit Hinweis auf absolute Vertraulichkeit.
Kommst du mit uns zurück?«
»Ja, das ist am
einfachsten.«
»In etwa einer
Viertelstunde geht es los. Ich muss meine beiden Kollegen in den
Schutzanzügen hier lassen. Wir können sie nicht mitnehmen, sie
strahlen. Das ist vielleicht ein Scheißding.«
»Du sagst
es.«
Müller entfernte sich
ein paar Schritte, um Krause anzurufen, und er erreichte ihn
direkt.
»Haben Sie ein paar
Minuten?«
»Ja«, sagte Krause.
»Kann ich auf Lautsprecher gehen? Herr Sowinski ist auch
hier.«
»Selbstverständlich.«
Müller berichtete schnell und konzentriert.
»Gut. Kommen Sie
zurück und dann bitte direkt zu mir«, sagte Krause. »Ich habe ein
paar Kleinigkeiten.«
Müller fühlte sich
erschöpft durch die stundenlange Anspannung, er setzte sich auf
einen Grasfleck.
Er ärgerte sich
jetzt, dass er Karen auf dem Friedhof nicht angesprochen hatte. Er
ärgerte sich, dass er sie nicht angerufen hatte, dass er sie nicht
gebeten hatte, ein paar Tage länger in Berlin zu bleiben. Er fühlte
sich einsam.
Sie fuhren ein paar
Minuten später, und Schorsch beeilte sich, nach Berlin zu kommen.
Sie setzten Müller beim BND ab, Schneider sagte: »Es war mir eine
Ehre.«
Müller ging in sein
Büro, zog sich um und stellte fest, dass er vergessen hatte,
Schneider die P226 zurückzugeben. Er nahm sie in die Hand und
betrachtete sie, als habe er eine solche Waffe noch nie gesehen. Er
spürte eine tiefe Furcht, weil er mit einer solchen Waffe einen
Menschen getötet hatte.
Krause war nicht
allein, Sowinski saß mit am Tisch. Sie sahen ihm entgegen, und er
hatte instinktiv das Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu
haben. Ihre Augen waren hart wie Stein.
»Setzen Sie sich.
Mein Freund Uri ist in der Stadt, einer der Mossad-Häuptlinge. Wir
verstehen uns seit zwanzig Jahren sehr gut. Er saß da, wo Sie
gerade sitzen. Und natürlich will er den gesamten Hintergrund von
mir haben, weil er nicht ganz zu Unrecht vermutet, dass man auch in
Tel Aviv oder in Jerusalem eine schmutzige Bombe einsetzen könnte.
Kennen Sie Uri?«
»Nein, nicht
persönlich.«
»Aber er kennt Sie.«
Krause warf ein Foto flach über den Tisch.
Das Foto zeigte
Müller in Damaskus auf einer der schmalen Altstadtgassen mit den
schönen Innenhöfen. Müller ging durch die Sonne und wirkte wie ein
neugieriger Tourist.
Müller war
augenblicklich wütend.
»Das trifft mich
nicht sonderlich. Ich habe in Damaskus wiederholt Mitglieder
befreundeter Dienste fotografiert. Präzise sechs Mal. Davon waren
drei, zwei Männer und eine Frau, für den Mossad tätig, einer für
die CIA, zwei konnten wir den Russen zuordnen. Die Fotografien sind
aktenkundig. Außerdem will ich darauf aufmerksam machen, dass
Damaskus ein Tummelplatz der Dienste ist. Ich würde an zwei guten
Tagen allein von Seiten der Syrer zehn bis fünfzehn Agenten
verifizieren können. Achmed hat sie mir gezeigt.«
»Stimmt«, nickte
Sowinski.
»Gut«, murmelte
Krause. »Gehen wir mal weiter.«
Das nächste Foto kam
herangesegelt.
Es zeigte Müller mit
Karen Swoboda in der Bar, vor ihnen ein Salat mit Geflügel. Ein
weiteres folgte. Es zeigte dieselbe Szene, aber diesmal küsste
Müller Karen.
»Noch nicht lange
her«, murmelte Krause. »Wer ist die Frau?«
»Eine Frau aus der
Werbebranche. Sie heißt Karen Swoboda, ist zu Hause in Frankfurt am
Main. Gegenwärtig verhandelt sie mit den Freien Demokraten über
eine Werbekampagne.«
Mein Gott, dachte
Müller fiebrig, ich muss hier raus, ich kriege keine Luft
mehr.
»Und diese Frau hat
Sie angesprochen oder Sie diese Frau?«
»Die Frau mich. In
der Bar, in der wir da sitzen und Salat essen. Sie wollte einfach
Siebzehnundvier spielen.«
»Und Sie haben das
geglaubt?« Krauses Fragen stachen wie scharfe Messer.
»Ja, ich habe das
geglaubt. Und, ehrlich gestanden, glaube ich das immer
noch.«
Er dachte verbissen,
ich lasse mir das nicht nehmen.
»Kann es sein, dass
diese Frau an Sie herangespielt wurde?« Krause schloss kurz die
Augen.
»Darüber habe ich
keine Sekunde nachgedacht, wenn ich ehrlich sein will. Das
erscheint mir zu abwegig. Die erste Gegenfrage würde lauten: Warum
sollte sie auf mich angesetzt werden? Und: Ich habe ihr nicht
gesagt, wer ich bin, vor allem nicht, in welcher Arbeit ich
stecke.«
»Aber Sie haben mit
ihr geschlafen?«
»An der Stelle werde
ich wütend, weil es um mein Privatleben geht.« Müller sah, dass
Krause noch eine weitere Anlage vor sich liegen hatte, und er
wusste, dass es noch nicht zu Ende war.
»Also, diese Karen
Swoboda hat keine Ahnung von Achmed? Keine Ahnung von Damaskus?
Keine Ahnung von Herrn Breidscheid? Und keine Ahnung von den
möglichen Zusammenhängen?«
»Exakt«, sagte
Müller.
»Seien Sie nicht so
sicher«, bellte Krause. Er schob Müller einen Zeitungsausschnitt zu
und blaffte: »Nur die Bildunterschrift, bitte!«
Da war Karen mit zwei
Männern zu sehen. Alle drei hatten Sektgläser erhoben, alle drei
strahlten. Die Bildunterschrift lautete: »Ein Prosit auf kommende
gute Geschäfte. Die Werbefrau Karen Swoboda, der Stuttgarter
Maschinenbauer Matthias Hechtsheim, der Generalvertreter Helmut
Breidscheid.«
In Müllers Gesicht
bewegte sich nichts, seine Augen waren hart wie Kiesel, seine Hände
lagen ruhig auf der Tischplatte.
»Darf ich erfahren,
wer das Foto mit mir und Frau Swoboda in der Bar gemacht
hat?«
»Einer von Uris
Leuten«, sagte Sowinski. »Das hat damit zu tun, dass Uris Truppe
gut ist und Gott sei Dank zu unseren Freunden zählt. Wir sind aber
nicht sicher, ob nicht auch Leute der CIA dort waren und Sie
identifiziert haben. Oder die Russen, zum Beispiel, die ja auch
nicht schlecht sind. Im Gewerbe geht seit Tagen das Gerücht, dass
nur einer aus dem Metier eine brauchbare Szenerie für die
schmutzige Bombe hat. Und dass wir die Hüter dieser brauchbaren
Szenerie sind und Sie der Hauptdarsteller.«
»Uri weiß, dass Sie
es sind«, setzte Krause leise und bekümmert hinzu. »Es bringt
überhaupt nichts, ihm etwas anderes zu erzählen. Und es ist nicht
zu vermeiden, dass alle anderen bald auf unserer Matte
stehen.«
»Von wem ist der
Zeitungsausschnitt?«
»Aus dem öffentlich
zugänglichen Material, auf das sich Goldhändchen gestürzt hat«,
sagte Krause. »Er hat erstaunliche Entdeckungen gemacht, die auch
Sie sicherlich entzücken werden.«
»Sie war auch auf der
Beerdigung«, murmelte Müller tonlos.
Er spürte seine Wut
wie einen heißen Ball im Bauch, und er wusste, dass es keinen Sinn
mehr hatte, sich abzuschotten.
»Ohne dass Sie vorher
davon wussten?«, fragte Sowinski schnell.
»Sie hat mir vorher
nichts gesagt. Sie war einfach da.«
»Ein
außergewöhnlicher Liebesbeweis«, sagte Krause
höhnisch.
»Aber wer hat sie
geschickt, verdammt noch mal?«, fragte Müller.
»Es klingt jedenfalls
nach einer größeren Dimension«, sagte Sowinski.
Eine Weile herrschte
Schweigen.
»Ich nehme Sie
vollkommen raus«, sagte Krause. »Ich muss Sie rausnehmen. Es wird
eine Untersuchung geben.«
»Moment«, schnappte
Müller. »So einfach ist das alles nicht. Ich falle doch nicht wie
ein heuriger Hase auf die erstbeste hübsche Frau
rein.«
»Genau das ist aber
passiert.« Sowinski war erbarmungslos. »Sie verlieren Ihre Familie,
Ihre Frau, Ihren Vater, Sie sind angreifbar. Und da taucht wie aus
dem Nichts eine gewisse Karen auf, mit der Sie ins Bett hüpfen,
weil Sie doch ach so einsam sind. Und diese Frau hat mit
Breidscheid, von dem wir noch nicht wissen, wie er da hineinpasst,
Champagner getrunken auf irgendein Geschäftchen. Das sieht ziemlich
beschissen aus, mein Lieber.«
Schweigen.
»Es geht noch
weiter«, knurrte Krause. »Selbstverständlich haben wir den
Zeitungsausschnitt gegengecheckt, und wir sind auf etwas Komisches
gestoßen. Die Staatsanwaltschaft Wirtschaftsvergehen Stuttgart hat
eine Ermittlung gegen diesen Maschinenbauer Hechtsheim und
Breidscheid eingeleitet. Grund: Es bestand der dringende Verdacht,
dass die beiden im Rahmen größerer Maschinenausfuhren drei
Maschinen gebaut haben, die zusammengekoppelt ein wunderbares Gerät
zur Herstellung von Gewehrmunition ergeben. Die Staatsanwaltschaft
kam zu spät, die Maschinen waren raus. Und bis heute weiß niemand,
wohin genau.«
»Scheiße!«, rief
Müller. »Sie werden zwanzig, dreißig Firmen finden, für die Karen
Swoboda gearbeitet hat. Ach was, fünfzig. Ich möchte die Chance
haben, die Frau zu fragen.«
»Auf keinen Fall«,
murmelte Krause kopfschüttelnd. »So läuft das nicht, mein Freund.
Ich denke, es ist das Beste, Sie gehen heim und schlafen sich ein
paar Tage aus.«
»Heißt das, ich bin
suspendiert?«, fragte Müller entgeistert.
»Was denn sonst?«,
bellte Sowinski. »Sollen wir jetzt auch noch Händchen halten und
Taschentücher reichen?«
»Ich habe das
eingebrockt, ich löffle das aus«, sagte Müller. »Wenn die Frau an
mich herangespielt worden ist, werde ich die Frau umdrehen und an
Sie heranspielen.«
»Wie bitte?«, fragte
Krause verblüfft. »Haben Sie überhaupt registriert, um was es hier
geht? Es gibt ein festgeschriebenes Gesetz beim
Bundesnachrichtendienst: Wenn ein Mitglied der Bruderschaft,
weiblich oder männlich, sich in jemanden verliebt, muss das dem
Vorgesetzten gemeldet werden. Mit Namen und Adresse und allem Drum
und Dran. Wir prüfen dann, ob die Sache sauber ist oder nicht. Ist
Ihnen diese Vorschrift jemals zur Kenntnis gebracht
worden?«
»Ja.«
»Und warum, verdammt
noch mal, sind Sie nicht zu mir gekommen und haben das auf den
Tisch gelegt?«
Er ist persönlich
beleidigt, dachte Müller verblüfft. Wieso denn das?
Weil du so etwas wie
sein Ziehsohn bist, sagte das andere Ich.
»Ich bin nicht zu
Ihnen gekommen, weil ich vollkommen durch den Wind war. Ich habe in
zweiundsiebzig Stunden mehr schlucken müssen, als ich verdauen
konnte. Ich habe in Achmed wirklich einen Freund verloren. Und
meine Frau hat mich monatelang betrogen.« Er wurde immer heftiger.
»Ich weiß im Übrigen, dass in der Geschichte des BND die wenigsten
Leute, die in irgendeine Liebesaffäre verstrickt waren, damit zu
ihrem Vorgesetzten gingen. Das ist einfach eine vollkommen irre
Regel, und Sie wissen das auch.«
»Jetzt ist es ein
Fall für den Präsidenten«, sagte Sowinski knapp.
»Und ich werde
selbstverständlich anschließend für den Rest meines Lebens im
Archiv der ganz leichten Fälle landen«, höhnte Müller. »Ich werde
Ihnen sagen, was da passiert ist. Ich war heilfroh, dass ich in die
Arme von Karen Swoboda flüchten konnte. Das ist der ganze Fall. Und
falls Sie nicht den Mut haben, den Fall zusammen mit mir zu klären,
bin ich schlicht und ergreifend beim falschen Verein.« Er stand so
heftig auf, dass der Stuhl hinter ihm umfiel. Er bückte sich,
stellte ihn wieder auf und wollte hinausgehen.
Krause stoppte ihn in
der Tür mit der Bemerkung: »Gehen Sie jetzt bitte nicht in das
Hotel.«
»Das kann ich gar
nicht«, schnaubte Müller. »Die Frau ist längst wieder in
Frankfurt.«
»Ist sie nicht«,
Krause schüttelte den Kopf. »Sie ist nach wie vor im Hotel.
Schließlich will sie doch etwas über Sie herausfinden,
oder?«