22
Rojak blickte von der Spitze des Anhem-Turms, dem höchsten Gebäude im Nordosten Screes, auf die ersten Schatten des Abends hinab, die langsam über das Land glitten. Sie überraschten Menschen und Tiere und hüllten sie in dunkler werdende Zwielichtfäden. Er blickte auf die Stadt zurück, wo sich ein Trupp brutaler Fysthrall-Soldaten den Weg durch eine Menschenmenge bahnte. Die rothäutigen Fremden befürchteten, dass diese Leute dabei waren, sich in Rage zu bringen, so wie es ein halbes dutzendmal in den letzten Tagen passiert war. Aber tatsächlich riefen diese Leute nach Nahrung und forderten nicht zum Morden auf. Die Fysthrall verstanden jedoch ihre Sprache nicht.
Der Barde lächelte. »Missverständnisse bereiten so große Sorgen, mehr als ein böser Wille sie jemals zustande bringen könnte.«
Soll das eine Herausforderung sein?
Rojak stieß ein seltsam mädchenhaftes Lachen aus. »Vielleicht nicht heute Nacht«, antwortete er seinem Meister.
Neben ihm wies Ilumene über die Felder hinweg auf eine Staubfahne, die schon seit einer ganzen Weile näher kam. »Das wird knapp. Wer wird sich schon die Mühe machen zu fragen, warum wir eine Armee der Geweihten vor der Stadtmauer stehen haben? Wie viele in dieser Stadt würden glauben, dass sie nur hier sind, um die Tempel Screes zu schützen, so wie sie es behaupten, und nicht in Wirklichkeit darauf warten, wie die Schakale von den Resten zu zehren, die eine versagende Herrscherin ihnen hinwirft?« Er wies nach Norden. Gleichmäßige verschorfte Schnitte verliefen über die gesamte Länge des Daumens, vom Nagel bis zum Handgelenk, und er ballte die Faust, um die Schnitte offen zu halten. Vor dem klaren Blassblau über dem Horizont zeichnete sich die Anwesenheit einer weiteren Armee wie ein Schmutzstreifen ab. Jede Straße, die im Norden verlief, führte schließlich in das Gebiet der Farlan.
»Wenn diese Farlan sich nähern, wird sich der Kommandant der Geweihten ihm zuwenden müssen. Er muss sich eingraben oder läuft Gefahr, jederzeit von der Kavallerie der Farlan überrannt zu werden. Die Farlan wiederum werden das Eingraben als kriegerischen Akt werten und entsprechend handeln.«
Es wird Zeit, dass wir Hilfestellung leisten. Ilumene, unser Lieblingssohn, bring uns einen weiteren Priester für die Abendunterhaltung.
»Die Vorstellung muss weitergehen, was?« Um Ilumenes wettergegerbte Lippen spielte ein bösartiges Schmunzeln.
»Es wird Publikum geben. Die guten Leute von Scree werden von allumfassendem Hass aufgefressen. Für sie gibt es nun kein Zurück mehr«, sagte der Barde und entließ ihn mit einer Geste.
Leichtfüßig lief Ilumene die Treppe zur Straße hinab, vorbei an dem Wachhund, dessen Hilfe Rojak mittlerweile brauchte, um sich fortzubewegen. Es war allen wichtigen Beteiligten bewusst, dass ihr ironisch Theater genanntes Vorhaben seinen Tribut von dem Barden forderte. Von Tag zu Tag verfiel er mehr.
Rojak blickte auf den kleinen Finger seiner linken Hand und untersuchte seine frischeste Wunde. Er hatte sich die Hand aufgeschürft, als er auf der Treppe das Gleichgewicht verloren hatte, und dabei war ihm ein guter Fingerbreit papierner Haut verlorengegangen. Darunter war verrottetes, graues Fleisch zum Vorschein gekommen, das bei einem lebenden Mann nichts zu suchen hatte. Er ging im gleichen Maße dem Untergang entgegen wie Scree. Doch die Gewissheit, König Emin damit einen weiteren Sieg abgerungen zu haben, beschwor ein Kichern in seiner rauen Kehle herauf. Er stöhnte auf und suchte nach der Branntweinflasche, die er stets bei sich trug.
Jetzt wollen wir uns der bösen Absicht zuwenden, die ich dir versprach, sagte Azaer als eisige Brise an Rojaks Ohr. Entsende Flitter und Venn zum Lager der zweiten Armee. Verrate ihnen, wer ihre Herrin wirklich ist.
»Werden sie es glauben?«
Der Glaube ist wankelmütig. Wer glaubt, der möchte glauben. Der Fluch und Verens Stab werden sich ebenso wenig im Griff haben wie es König Emin tat, als er erfuhr, dass man Ilumene gesichtet hat. Eisenhaut ist in diesem Lager die Stimme der Vernunft. Sein einzigartiges Los wurde ihm als Strafe für eine Beleidigung Karkans auferlegt. Ich bin sicher, dass er seinen Kameraden gerne beisteht, wenn sie den Göttern zum Wohlgefallen handeln.
»Sollten wir nicht darauf warten, wie Siala auf die Geweihten reagiert?«
Die Geweihten haben es nicht eilig, in den Kampf zu ziehen. Sie müssen erst noch ergründen, wer ihr Feind ist. Wenn sie sehen, dass sich die Söldner des Zirkels gegenseitig bekämpfen, werden sie abwarten und zusehen. Wie es Ilumene so treffend beschrieb: Es sind Schakale. Die zweite Armee wird auf das Grüne Tor zumarschieren, denn dort stehen die Truppen der Vampirin. Alle anderen Tore sind verschlossen, also werden sie dort alle zusammentreffen. Sollen sie sich untereinander streiten und sich gegeneinander wenden, so wie ihre Götter es tun.
»Ihre Schwäche ist unsere Macht«, sagte Rojak.
Gewiss, aber niemand soll behaupten können, wir seien grausam. Wir werden sie alle warnen, dass ihre Fehler ihnen zum Verhängnis werden.
»Ein neues Stück für heute Abend?«
Das letzte. Nach dem heutigen Abend ziehen wir uns hinter die Kulissen zurück und das Theater gibt es nicht mehr. Der letzte Vorhang wird auch das Letzte sein, was wir für sie tun.
»Was soll also unsere letzte Vorstellung sein, mein Meister?«
Das Zwielicht herrscht, die Tore sind versperrt und dahinter brennt die Stadt. Was könnte es wohl anderes sein als ›Des Schattens Feuerprobe‹?
»Erklär mir noch einmal, warum wir hier sind?«, fragte Morghien durch zusammengebissene Zähne. Er bemühte sich, den nächsten Ast zu erreichen, um sich daran hochzuziehen. Die Reise war anstrengend gewesen, trotz Mihns zahlreicher Fertigkeiten, und diesmal spürte Morghien die Last seiner Jahre.
»Die Antwort ist noch immer die gleiche«, sagte Mihn leise von einem Ast aus, der über ihm hing. Seine Aufmerksamkeit galt den Erdwällen, die einen Hügel keine Meile entfernt umgaben. Die glatten, dunklen Erhebungen wurden von gelben und roten Papierlaternen beleuchtet.
Morghien grunzte unwillig und schaffte es schließlich, sich hochzuziehen. Der Mann der vielen Geister fand sein Gleichgewicht und blickte zu Mihn auf, der mühelos auf einem dünnen Ast stand, seinen Stab auf den Schultern und die Arme darübergelegt.
Morghien versuchte gar nicht erst, in Sachen Geschick mit einem Harlekin gleichziehen zu wollen, darum suchte er sich erst einen sicheren Halt, bevor er sprach.
»Ich meinte eigentlich, warum wir diesen verdammten Baum hochklettern?«
»Oh, ich bitte um Entschuldigung«, sagte Mihn. »Ich hatte angenommen, Ihr würdet Eure übliche Litanei fortsetzen, die ich seit der Überquerung des Grünen Meers zu hören die Ehre habe, aber ich erkenne nun, dass es ein gänzlich neues Murren ist.«
»Bei Tsatachs Eiern, ich bin hier, um deinem Herrn einen Gefallen zu tun. Ich habe das Recht, so viel zu murren, wie ich will« , murmelte Morghien.
»Ich bin sicher, der großzügige Lord Isak wird froh sein zu hören, dass Ihr von diesem Recht ausgiebig Gebrauch gemacht habt«, sagte Mihn gut gelaunt.
Morghien funkelte ihn böse an. »Und was siehst du jetzt, da wir hier oben sind?«
»Einen Großteil des Anwesens, das man zu unseren Ehren schön ausgeleuchtet hat. Heute ist der Tag Meqaos. Meqao – der Jäger des stillen Waldes, wie er hier genannt wird – ist bei den Yeetatchen der beliebteste aller Aspekte Amavoqs.«
»Ist das der mit dem Geweih und dem riesigen …«
»Nein, das ist Bohreq, der Vater der Herde. Ich dachte, Ihr wäret gebildet?« Mihn kratzte sich gedankenverloren am Knöchel, bis er an den Verband dort stieß und die Hand zurückzog. Vor zwei Tagen war er von einem freilaufenden Jagdhund gebissen worden, und obwohl die Wunde nur klein war, hatte er sie verbunden, um sie sauber zu halten. »Meqao hat den Kopf eines Silberwolfes und trägt einen Speer in der einen und eine Bronzeglocke in der anderen Hand.«
»Eine Bronzeglocke? Wofür braucht ein Jäger denn eine verdammte Glocke?«
Mihn blickte zu ihm hinunter und es schien Morghien, als glühten die Augen des Mannes im Dunkel geradezu auf. »Ich würde Euch nur zu gern die Sage von ›Maqao und der Herrin der Hasenglöckchen‹ in voller Länge vortragen, aber dazu bedürfte es eines Gongs, einer Glocke, eines Bechers voll Wasser und drei Stunden Eurer ungeteilten Aufmerksamkeit.« Er lächelte.
»Vielleicht ein andermal.« Morghien seufzte. »Wäre es nicht einfacher in Lord Ajels Haus zu gelangen, wenn du dich als Harlekin verkleiden und dort die Sage vortragen würdest?« Er hatte es zwar im Scherz gemeint, erkannte aber sofort, dass er eine Grenze überschritten hatte, denn Mihn versteifte sich. Der kühle Abend wurde eisig.
»Schlagt so etwas nie wieder vor«, sagte Mihn schließlich mit angespannter, leiser Stimme.
»Es tut mir aufrichtig leid«, setzte Morghien an. »Ich wollte nicht …«
»Ich weiß, aber es ist besser, wenn wir dieses Gespräch nicht weiterführen.« Nach einem Augenblick der Stille sagte Mihn: »Wir kommen folgendermaßen hinein: Wir laufen den Graben am Rande der Weide entlang, bis wir diese Senke dort erreichen, und kommen hinter jenen mit Laternen behangenen Bäumen heraus.«
»Laternen? Kannst du erkennen, ob es ein heiliger Hain ist, der Amavoq oder einem Aspekt, der auf dem Hügel lebt, geweiht ist?«
»Von hier aus leider nicht. Glaubt Ihr, ein Aspekt würde Euch bemerken?«
Morghien pfiff leise durch die Zähne. »Schwer zu sagen, aber Xeliath berichtete mir in der letzten Nacht, dass Lord Ajel einen örtlichen Aspekt des Hügels zum Wächter über das Anwesen gemacht hat.«
»Dann wird er möglicherweise etwas dagegen haben, dass wir Lord Ajels Tochter aus ihrer Bettkammer holen?«, fragte Mihn.
»Das hoffe ich nicht. Sie kennt die Einzelheiten des Handels nicht, den ihr Vater abschloss. Ich hoffe, dass der Aspekt es nur bemerkt, wenn Xeliath gegen ihren Willen entführt wird. Sie ist entschlossen, auf ihren eigenen zwei Beinen abzureisen. Ihr Vater will, dass sie auf dem Fest anwesend ist, aber sie ist sicher, dass man sie in ihr Zimmer bringen und ihr etwas zum Schlafen geben wird, wenn sie sich nur tüchtig danebenbenimmt.«
»Dann werden wir sie tragen müssen?«, fragte Mihn.
»Nein, Xeliath ist eine raffinierte kleine Füchsin, auch wenn die Götter sie in der wachen Welt berührt haben. Sie hat sich in letzter Zeit gut benommen, und so erlaubt man ihr, die Arznei selbst einzunehmen. Mittlerweile weiß man wohl, dass sie keine Prophetin ist und hat darum auch keine Angst mehr davor, dass sie sich befreien und jemanden verletzen könnte. Heute Nacht wird sie für unsere Zwecke wach genug sein. Sie sagt, das Fest sei wichtig für die Yeetatchen, also wird es wenig Wachen geben, und das ist gut.«
»Vorausgesetzt, wir schaffen es bis dorthin.«
»Habe Gottvertrauen, mein Freund«, sagte Morghien und schnaubte amüsiert. »Solange wir diesen heiligen Hain meiden, werden wir vermutlich nicht entdeckt werden.«
Mihn sah mit gehobenen Augenbrauen zu ihm hinab. »Kein Murren mehr? Dann wollen wir uns zu der Festlichkeit gesellen.«
Das Anwesen lag auf einem kleinen Hügel, der den höchsten Punkt im Umland darstellte. Es befand sich am Südende des Stillen Waldes, der sich um die Insel zog. Eine steile Klippe machte es für Angreifer unmöglich, sich aus dem Osten zu nähern. Sogar für Mihn und Morghien war es – ohne Pferde oder eine zu versorgende Armee – schwer genug gewesen, hierher zu gelangen, und sie hatten sogar Hilfe von Xeliath, die ihnen das Land hatte beschreiben könnnen. Alle Yeetatchen, Adlige und einfaches Volk, wurden zu Waldläufern ausgebildet, deswegen waren ihre Beschreibungen besser gewesen, als Mihn gehofft hatte.
Das Yeetatchen-Anwesen war nicht von Mauern, sondern von Erdgräben umgeben. Es gab nur wenig Stein, auch die in die Hügel eingelassenen Häuser waren aus Holz und bei einigen ragten sogar Bäume aus dem Dach.
Das einzige Problem auf ihrem Weg durch die Gräben war das knöcheltiefe Wasser darin, das die Wachen bei jedem Schritt auf sie aufmerksam zu machen drohte, obwohl sie beide sehr geschickt darin waren, sich lautlos zu bewegen.
Am Ende des ersten langen, dunklen Grabens berührte Morghien seinen Gefährten am Arm und hielt ihn damit ab, sich auf die zehn Schritt offenen Geländes zu begeben, die sie zu ihrer nächsten Deckung führen sollten.
»Ich habe eine bessere Idee«, flüsterte Morghien. Er sprach lautlos Worte, die Mihn nicht verstand und seufzte dann mit geschlossenen Augen, wobei er den Atem leise ausstieß. Ein dünner Nebelfaden glitt aus Morghiens geschürzten Lippen und bewegte sich sacht hin und her, als wolle er die Luft erkunden. Dann trat eine Gestalt aus Morghiens Körper hervor und blickte Mihn an, der erschrocken nach Luft schnappte und sich gegen den Rand des Grabens presste.
Es war eine weibliche Gestalt, das konnte er anhand der nebligen Umrisse ihres Gesichtes und des langen, wallenden Haares erkennen, das sich an die Silhouette ihres Rückens schmiegte. Von der Taille abwärts war sie weniger deutlich ausgeformt. Trotzdem erschienen die Nebenfäden, die sie mit Morghien verbanden, beinahe fassbar. Mihn errötete, als er erkannte, dass die Frau gänzlich unbekleidet war, aber sie schien seine Scham nicht zu bemerken. Er erkannte sie jetzt: Seliasei, ein Askept Vasles, der erste und mächtigste von Morghiens Geistern.
Seliasei mustere Mihn eine Weile mit ausdruckslosem Gesicht, dann trat sie vor und ging in die Hocke, um die Hand in das Wasser zu tauchen.
»Vasle ist der Gott der Flüsse«, flüsterte Mihn vor sich hin. Er ahnte, was Morghien vorhatte. Diese Gräben sind untereinander verbunden, dachte er, und wenn alle Wasser führen, wird Seliasei in der Lage sein, uns sicher an den Wachen vorbeizuführen.
Morghien hatte die Augen noch immer geschlossen, wie in Trance. Mihn hoffte, dass er ihn wecken konnte, falls jemand käme.
Zufrieden mit dem, was sie im Wasser gespürt hatte, erhob sich Seliasei und glitt vorwärts. Im Nebel erschien die Andeutung von Beinen, aber ihre Bewegungen waren zu elegant und überirdisch für einen Menschen.
Als Seliasei aus dem Dunkel in das schwache Licht hinausglitt, löste sie sich auf, bis sie nur noch als Schemen in der Luft zu erahnen war. Die Wachen würden es vermutlich als Einbildung abtun, denn sie konnten wegen der Laternen ohnehin nicht sonderlich gut ins Dunkel spähen und hatten sicherlich schon den einen oder anderen Becher zu Meqaos Ehren gelehrt. Und selbst wenn dem nicht so gewesen sein sollte, sollten sie denn zu ihrem Kommandanten laufen und behaupten, einen Geist gesehen zu haben?
Seliasei, dicht gefolgt von Morghien, glitt um den Erdwall herum und verließ sein Sichtfeld. Da erst riss sich Mihn zusammen und folgte ihnen, bis sie die Längsseite des Anwesens erreichten, von dem aus laut Xeliaths Beschreibung ihr Schlafzimmer leicht zu erreichen war.
Weniger als hundert Schritt entfernt befand sich ein großer Zeltkreis, in dem die Bewohner Meqaos Tag feierten. Mihn hörte Stimmen, die geisterhaft und wunderschön durch die kühle Sommerluft klangen. Er schmunzelte, als er sich daran erinnerte, wie sehr er in seiner Kindheit die Feste geliebt hatte. Ohne es bewusst zu merken, bewegten sich seine Lippen und er sang stumm mit. Das Lied, das die Yeetatchen sangen, war eines der frühesten bekannten Lieder überhaupt, entstanden noch vor dem Großen Krieg, als Amavoq und ihre Aspekte beständig unter den Yeetatchen wandelten. Die ergriffene Stille, die nach dem Ende des Liedes unter den Sängern herrschte, machte ihm das Herz schwer.
»Nun, Kumpel«, sagte Morghien. »Hoch mit dir.« Er wies auf eine von dicken Schlingpflanzen bewachsene Wand aus Eichenholz.
Mihn zog prüfend an einem Strang der Pflanze, der sein Gewicht zu halten schien. »Ich hoffe, dass sie es wirklich aus eigenen Kräften hier herausschafft«, flüsterte er. »Ich habe wenig Lust, ein Weißauge hier abseilen zu müssen.« Er sah sich noch einmal nach Dienern oder Wachen um und kletterte dann los. Es gab genug Griffe und binnen weniger Augenblicke war er am Fenster angekommen und schob das Messer zwischen die Läden, um den Riegel zu öffnen.
Er blickte zu Morghien hinab, der im Schatten der Wand kaum sichtbar war, schob auf sein Nicken hin das Fenster auf und glitt über das Fensterbrett auf einen großen Teppich. Er sah sich um und erfasste den spärlich eingerichteten Raum. Es gab ein mit Schnitzereien verziertes Bett, dessen Pfosten wie Äste geformt waren und zu einem Blätterdach darüber führten. Und es gab eine große Truhe, die an einer Wand stand.
Nur eine silberne Haarbürste auf der Truhe und eine Pferdepuppe, ein Kinderspielzeug am Fuß des Bettes, deuteten auf die Bewohnerin hin. Mihn trat zu dem Pferd, das alt und abgenutzt war. Xeliath behielt es wohl, weil sie im echten Leben nicht mehr reiten konnte, was für jeden Yeetatchen einen bitteren Verlust darstellen musste.
Ein heiserer, angestrengter Laut erklang vom Bett her, als würde diese Stimme nur selten genutzt. Für Mihn hörte es sich ein wenig nach seinem Namen an, aber er war nicht sicher. Er trat näher heran, konnte aber immer noch nicht erkennen, wer da unter den dunklen Laken ruhte. Er schwieg, denn er wollte sich nicht verraten, falls er einen Fehler gemacht hatte und im falschen Zimmer gelandet war.
Die Gestalt im Bett regte sich und ein sanftes Licht sickerte über die Decke. Mihn hatte genug Zeit mit Isak verbracht, um zu erkennen, dass dies kein Lampenlicht war.
»Xeliath?«, flüsterte er. Das Licht wurde heller und die Umrisse ihres Körpers zeichneten sich unter der Decke ab.
»Du bist Mihn?«, krächzte sie und ihre Hand zuckte, während sie versuchte, sich aufzurichten. Er suchte in ihrer Stimme nach dem musischen Dialekt der Yeetatchen, aber sie klang eher wie eine schwache alte Frau und nicht wie ein Mädchen in den besten Jahren. Er wollte antworten, aber beim Anblick ihres vom magischen Licht offenbarten, zerstörten Gesichts blieben ihm die Worte im Hals stecken. Ihr kurz geschnittenes Haar erlaubte die freie Sicht auf ihre linke Seite und das versehrte Fleisch dort, die schwachen Muskeln, die gelegentlich darunter bebten. Es waren fast schon zuckende Krämpfe. Das Lid ihres linken Auges hing herab und verdeckte die kleine Pupille, wodurch das Weiß ihres rechten Auges umso verstörender wirkte.
»Ich … ja, ich bin Mihn«, sagte er und erst als die Worte heraus waren, bemerkte er, dass er seine Muttersprache benutzt hatte – zum ersten Mal seit Jahren wieder laut. Er wiederholte die Worte auf Yeetatchen und ein Lächeln deutete sich in ihrem Gesicht an.
»Er hat mir nicht gesagt, dass du so hübsch bist.«
Mihn blickte halb beschämt, halb amüsiert zu Boden. »Das überrascht mich nicht.« Ein Brett vor der Tür knarrte und die Klinke bewegte sich. Mihn war mit zwei Schritten bei der Person, die hereinkam. Er schlug ihr den Ellenbogen ins Gesicht und als sie zusammensackte, sah er, dass es ein Junge war. Mihn fing ihn auf, bevor er zu Boden fallen konnte und ließ ihn vorsichtig sinken. Dann schloss er die Tür und verriegelte sie, um nicht noch einmal gestört zu werden.
Xeliath stöhnte auf und versuchte sich aufzurichten, aber Mihn beachtete sie nicht und untersuchte den Diener. Er war ohnmächtig, würde aber keinen Schaden zurückbehalten. Mihn wickelte ein kurzes Seil von seiner Taille ab und zog ein Stück Tuch von seinem Arm. Im Nu hatte er den Jungen gefesselt und geknebelt. Dann zog er das kleine Messer aus dem Gürtel des Jungen und schob ihn unters Bett.
»Bist du jetzt fertig?«, fragte Xeliath.
»Noch nicht ganz.« Er hievte die Kiste auf den Teppich und zog sie vor die Tür. So würde sie einen entschlossenen Mann zwar nicht abhalten, aber Mihn war einfallsreich. Er rammte das Messer und eine seiner eigenen Ersatzklingen unmittelbar vor der Kiste zwischen die Bodendielen, so dass sie festgeklemmt war. Das würde vielleicht nicht ewig halten, aber es mochte ihnen doch einen wertvollen Vorsprung erkaufen.
Er kicherte vor sich hin. Wenn man das Messer untersuchte, fände man heraus, dass es aus dieser Gegend stammte. Er hatte es vor einigen Tagen einem Händler gestohlen. Mit etwas Glück und bei ausreichend erhitzten Gemütern würde man der falschen Spur nachjagen.
Xeliath hatte es mittlerweile geschafft, die Decke zurückzuschlagen. Neben ihr lagen eine Reiterjacke und eine Hose. »Du musst mir beim Anziehen helfen«, sagte sie mit etwas sichererer Stimme. Schwach zog sie an ihrem Baumwollnachthemd. »Ich schaffe es nicht allein.«
»Meine Dame …«, setzte er an, aber dann wurde ihm das Herz weich. Sie war ein Weißauge, das man verkrüppelt hatte, erinnerte er sich. Sie war früher stärker gewesen als jeder Mann im Dienste ihres Vaters, bis man ihr Schicksal mit dem Isaks verbunden hatte. Das musste einen umso größeren Schmerz bedeuten. »Ich verstehe, meine Dame.«
Er machte sich so vorsichtig wie es die Zeit erlaubte, an die Arbeit und Xeliath gab keinen Laut von sich, obwohl sich die Pein deutlich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Ihre rechte Seite war makellos, aber ihr linker Arm war in sich verdreht, die Hand hielt sie fest um etwas Hartes, Glattes geschlossen und an ihre knochige Hüfte gepresst. Der Arm war am stärksten versehrt, als habe die Verkrüppelung in der Faust ihren Anfang genommen und sei von dort aus weitergewandert. Ihr Bein war nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen worden, aber durch die mangelnde Bewegung so verkümmert, dass die Adern deutlich durch die trockene, schuppige Haut schimmerten. Sie ertrug die Qual mit zusammengepressten Lippen und starrte auf die in den Betthimmel geschnitzten Eichen- und Ulmenblätter.
Als Mihn fertig war, setzte er sie auf, um ihr die Stiefel anzuziehen und zuzubinden.
Endlich blickte sie Mihn in die Augen. »Wie ist er so?«, fragte sie sanft.
»Lord Isak?« Die Frage überraschte Mihn. »Wisst Ihr das nicht?«
»Ich weiß, wie er in seinen Träumen aussieht«, flüsterte sie. »Aber leider sind es eben nur Träume. Sie verraten mir nichts über sein Wesen.«
Mihn half ihr auf die Beine und ließ sie dann langsam los. Nach einem Augenblick der Unsicherheit schien sie in der Lage, zu gehen. »Lord Isak ist ein junger Mann, der versucht, ein guter Lord zu sein«, sagte er. »Er bemüht sich zu verstehen, was mit seinem Leben passiert ist.«
»Er wehrt sich jedoch dagegen.«
»Aber das ist doch nur natürlich, oder? Als Weißauge?«
»Es liegt ihm im Blut, so zu handeln, aber das ist nicht immer die richtige Antwort. Das müssen ihm vielleicht andere beibringen.«
Mihn beunruhigte es, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. »Dann lasst uns hier verschwinden, damit Ihr ihm das selbst sagen könnt.« Er führte sie zum Fenster, öffnete die Läden einen Spalt und spähte hinaus. Er konnte keine bewaffneten Männer in der Nähe sehen. »Könnt Ihr klettern?«
»Ich werde es schon schaffen.«
»Seid Ihr sicher?« Mihn musterte sie zweifelnd, bis Xeliath seine Hand mit ihrer gesunden ergriff. Ihre Finger, die noch gezittert hatten, als er ihr aus dem Bett geholfen hatte, legten sich jetzt um sein Handgelenkt und drückten zu. Einen Augenblick später stöhnte Mihn schmerzerfüllt auf und sie ließ los.
»Verstanden«, sagte er trocken. »Ihr seid noch immer ein Weißauge.«
»Guter Junge.«
»Aber ohne unhöflich erscheinen zu wollen, frage ich mich doch, wie Ihr mit nur einem Arm klettern wollt. Eure linke Seite ist nicht zu gebrauchen, oder?«
Sie verzog das Gesicht, weil sich ihre Schulter verkrampfte, als wolle sie aus eigenem Antrieb auf Mihns Frage antworten. Xeliath hob ihren linken Arm zitternd und mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen bis auf Brusthöhe. Sie drehte unter großen Schwierigkeiten die Hand nach oben, so dass Mihn sehen konnte, was sie darin hielt.
»Ich denke, wir sollten sie trotzdem mitnehmen«, flüsterte sie.
Mihn hatte bei der Tortur des Anziehens nicht ergründen können, was sie in ihrer versehrten Hand hielt, nur dass es hart, glatt und so warm wie ihre Haut gewesen war. Jetzt, im matten Mondlicht, sah er eine gläserne Oberfläche und sein Herz setzte für einen Schlag aus. Das letzte Mal, als er so etwas gesehen hatte, war es in Eolis eingelassen gewesen, dem Schwert Lord Isaks …
Der Kristallschädel, den man Xeliath gegeben hatte, hatte das Gleiche getan, doch er hatte sich in die Hand gegraben, mit der sie ihn ergriffen hatte. Er hatte sich vermutlich sogar mit den Knochen darin verbunden. Um Xeliath den Schädel der Träume zu stehlen, müsste man sie schon verstümmeln.
Mihn erkannte, dass Lord Isak ihn zu Recht hergeschickt hatte. Früher oder später hätte jemand versucht, ihr den Schädel wegzunehmen, und dabei wäre Xeliath vermutlich gestorben.
»Darf ich Euch mit einem Seil sichern, falls Ihr abrutscht? Ich versprach meinem Lord, ich würde Euch sicher zu ihm bringen.«
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich war hier fast ein Jahr lang eingesperrt und werde jetzt aus eigener Kraft entkommen oder bei dem Versuch sterben. Die Wünsche des Mannes, der daran Schuld trägt, interessieren mich nicht.«
Sie kletterte unter großen Schwierigkeiten die Mauer hinab, hielt sich an den Schlingpflanzen fest, während sie mit den Füßen einen sicheren Halt suchte. Ihre grimmige Entschlossenheit zahlte sich aus und schließlich fiel sie Morghien beinahe in die wartenden Arme.
Sie rückten langsam vor, während sich über ihnen ein Sturm zusammenbraute. Mit Seliaseis Hilfe erreichten sie den Rand des Waldes, als erste dicke Tropfen durch die Blätter rauschten. Morghien ging mit einer Wurfaxt in der Hand vor. Xeliath erlaubte Mihn, an ihrer Seite zu gehen und sie mit einem Arm um die Hüfte davor zu bewahren, dass ihre ungeübten Beine unter ihr wegglitten.
»Diebe, sind sie das?«, fragte eine Frauenstimme hinter ihnen.
Mihn stolperte vor Schreck und riss so beinahe Xeliath zu Boden. Morghien drehte sich mit erhobener Axt herum. Mihn konnte seinem Gefährten nicht zu Hilfe eilen, drehte sich jedoch mit Xeliath, damit sie sehen konnte, wer da gesprochen hatte. Morghien unterdessen blieb mit kampfbereiter Waffe einfach stehen.
Einige Schritte vor ihnen standen drei junge Frauen in langen Kleidern. Lockiges Haar reichte ihnen bis zur Hüfte. Die Haut der mittleren wies die gleiche Färbung auf wie die von Xeliath. Die Haut der linken war wie dunkles Ebenholz und die der rechten war kaffeebraun gemustert und schimmerte im Mondlicht silbern.
»Sie müssen wohl Diebe sein, Schwestern«, sprach die Schwarzhäutige weiter. Ihre Haut war so dunkel, dass Mihn nur scharfe, kleine Zähne und grüne Augen in ihrem Gesicht erkennen konnte. »Können wir das erlauben?«
»Wie sollten wir das erlauben können?«, schnurrte die mittlere Schwester. »Aus unserem Reich gestohlen, wo wir doch ihre Familie schützen müssen? Nein, sie müssen bestraft werden.«
»Wir haben gar nichts gestohlen«, sagte Morghien, woraufhin sich ihm alle drei Frauen gierig zuwandten.
»Fremde, die durch Fenster hineinschleichen, davoneilen, bevor Alarm geschlagen wird, mit einem edlen Kind unter dem Mantel. Diebe, das denken wir.« Sie stieß die Worte giftig aus. »Die Wachen zu umgehen ist leicht, aber uns? Nein, nein! Wir spüren alles, was in dieser Gegend geschieht, und wie hätten wir einen fremden Geist übersehen können, der über unsere Felder spaziert?«
Aus dem Augenwinkel sah Mihn ein weißes Flackern um Morghiens Kopf. Seliasei, dachte er. Wenn sie besorgt ist, sollten wir es vielleicht auch sein.
»Sie stehlen nichts, Wolfswelpen«, antwortete Xeliath nachdrücklich. »Geht und lasst uns passieren.«
Die Schwester in der Mitte warf ihr einen mitleidigen Blick zu und spielte dabei ungeduldig mit ihren Fingern. »Du kannst uns nichts befehlen, diesen Dienst erweisen wir nur deinem Vater.«
»Wolfswelpen«, stieß Mihn aus. »Ihr müsst die Töchter Meqaos sein, die Aspekte von Amavoq, die an diesen Ort gebunden sind.«
»Das sind wir«, sagte die Schwester mit der Haut, die wie Eschenborke aussah. »Und es ist uns egal, wer du bist, also sei vorsichtig, wie du mit uns sprichst.«
»Er spricht mit euch, wie es ihm beliebt«, fauchte Xeliath. »Und ihr werdet zurück zu euren Bäumen laufen und euch dort verstecken, bis wir weit entfernt sind. Morgen früh, wenn ihr euch meinem Vater schließlich zeigt, werdet ihr sagen, ich sei davongelaufen, um einen Soldaten zu heiraten, den ich am Hofe traf, als er mich vorstellte, und dass er mir nicht folgen soll. Er wird früh genug von mir hören.«
Die Schwestern traten mit einem gierigen Ausdruck vor, die Zähne gebleckt und mit hängender Zunge. »Und warum sollten wir das tun, Kleine?«
»Weil ihr sonst meine Feinde seid.«
Während Xeliath sprach, spürte Mihn plötzlich Wärme durch den Arm aufsteigen, den er stützte. Ein Feuer loderte in ihr auf, das sogar seinen Körper mit prickelnder Energie erfüllte. Auch die Schwestern bemerkten es offensichtlich und wurden nervös.
»Was hast du da in deiner Hand, Kleine?«, fragte die mittlere Schwester und klang nun unsicher. Weißes Licht leuchtete an Xeliaths Seite auf, strahlte aus dem Schädel in ihrer Hand. Die Schwestern jaulten auf, schützten ihre Augen vor dem Licht und taumelten rückwärts. Die Hellhäutigste sank mit einem Kreischen auf die Knie, das erst verstummte, als Xeliath den Strom der Magie unterbrach. Mihn ahnte, was geschehen würde und konnte Xeliath so stützen, als sie von der Magieanwendung ausgelaugt auf seine Schultern sackte.
»Ich wurde von eurer Herrin selbst, der Dame Amavoq, gesegnet. Seid versichert, dass ihr in ihrem Willen handelt, wenn ihr mir helft.«
Die drei Schwestern starrten sie ängstlich an, dann warfen sie sich gleichzeitig herum und flohen. Schon nach wenigen Schritten wurden ihre Körper durchsichtig und lösten sich auf.
Xeliath atmete schwer und richtete sich unter Mühen wieder auf.
Morghien warf ihr einen neugierigen Blick zu und lachte. »Amavoq, die alte Schwärmerin«, sagte er und lachte erneut.
Xeliath warf ihm einen wütenden Blick zu und er schwieg, während er an ihr vorbei wieder in den Wald ging. Zum ersten Mal seit Wochen zeigte sich in seinem Gesicht die Andeutung eines Lächelns.
Mihn seufzte innerlich und hoffte, dass Morghien die Dame Xeliath nicht so sehr verärgern würde, wie er es bei Lord Isak fertiggebracht hatte. Sogar die hübsche Seite ihres Gesichts war nun grimmig verkniffen.
»Gehst du ihm jetzt nach? Oder willst du weiter wie ein Schwachkopf vor dich hinstarren?«, murmelte sie. »Komm schon, beweg dich.«
Mihn seufzte erneut. Es würde eine lange Heimreise werden.
»Das ist doch seltsam, oder?«, fragte Isak leise. Er und zwei seiner Wachen hockten hinter dem Geländer des Flachdaches eines nahe stehenden Gebäudes, in sicherer Entfernung zu den Einheiten der Fysthrall-Soldaten, die das Theater und die umgebenden Straßen bewachten. Sie hatten eine hervorragende Sicht auf die Menge vor den Toren des Theaters. Isak erkannte einige Leute wieder. Ein Segeltuch, auf einen groben Holzrahmen gespannt, hielt sie im Schatten. Die Besitzer des Gebäudes hatten sich im Innern verkrochen und waren entschlossen, die verrückten Einwohner von Scree nicht hereinzulassen.
»Verdammter Irrsinn, sage ich«, murmelte Tiniq neben ihm.
Das war der längste Satz, den General Lahks Bruder an diesem Abend von sich gegeben hatte. Obwohl er ein Waldläufer war, der mindestens zwanzig Jahre mehr auf dem Buckel hatte, als man ihm ansah, war er so schreckhaft wie ein neuer Rekrut. Das war schon so, seit sie Scree erreicht hatten. Ständig blickte er über seine Schulter und zuckte ängstlich zusammen, als erklänge die klagende Glocke der Tore Tods in seiner Nähe.
»Wenn Legana mit dem Zauber recht gehabt hat, kann ich nachvollziehen, dass sie das Theaterstück aufführen, aber dass sich die Leute auf die Straße wagen, um es zu sehen, ist einfach Irrsinn.«
»Das muss Teil des Zaubers sein«, antwortete Leshi von Isaks anderer Seite. Die beiden übernatürlichen Männer stellten an diesem Abend Isaks ganze Leibwache dar, weil sie unbemerkt bleiben wollten. Jeil, der Waldläufer, hielt jedoch unten auf der Straße Ausschau. Mayel, ihr Führer, hatte sich in der hinteren Ecke des Daches zusammengekauert, denn er wollte unbedingt alles sehen, dabei aber auf keinen Fall gesehen werden. Nach Sonnenuntergang gehörten die Straßen der Wut und den Flammen und er wollte nicht noch weiter in diesen Wahn hineingezogen werden.
»Seht euch diese Aufstände, die sinnlose Gewalt an. Dieser Ort ist zumindest sicher. Es erscheint ihnen möglicherweise als eine gute Idee, hierherzukommen, auch wenn sie sich dafür auf die Straße wagen müssen.«
»Verlassen!«, rief jemand hinter ihnen. Tiniq sprang blitzschnell auf und hatte das Schwert zu Isaks Schutz erhoben. In der Straße hinter ihnen, wo Jeil Wache hielt, taumelte ein alter Mann die Straße entlang. Er trug Lumpen, und aus einer tiefen Wunde auf seinem kahl werdenden Kopf floss Blut über sein Gesicht. Er schien die Männer nicht zu bemerken, die ihn beobachteten. Seine Stimme wurde zu einem Murmeln und die verdrehten Silben ergaben keinen Sinn. Dann fing er wieder zu schreien an: »Zerfallende Stadt, gebunden an ein zerfallendes Herz. Sie bringt Asche; Wörter und Asche aus der Dunkelheit unter uns.«
»Jeil«, zischte Isak. »Bring den alten Kerl zum Schweigen, bevor er Aufmerksamkeit erregt.«
Der alte Mann hörte Isaks Worte und blickte zu ihm auf. Er zog einen rostigen Dolch und fuchtelte damit in Richtung des Weißauges. »Was die Götter verlassen, soll Feuer reinigen!«, rief er. »Sie haben uns verflucht. Ihre Diener sprechen Zauber auf uns und müssen den Flammen geopfert werden!«
Jeil trat mit einer kurzen Axt mit halbmondförmigem Blatt aus einem Eingang in der Nähe. Tiniq eilte über das Dach zu seinem Gefährten, denn er hatte ein schlechtes Gefühl, als Jeil sagte: »Verschwinde, alter Mann, oder ich töte dich und du findest heraus, was Lord Tod von deinen Worten hält.«
Der Alte starrte Jeil an, und dann verwandelte sich die Verwirrung binnen eines Wimpernschlags in Wut. »Diener der Götter!« , schrie der Mann. Er hob den abgenutzten Dolch und stürzte sich kreischend auf Jeil. Der Waldläufer wich zurück, um sich Platz zu schaffen, stieß aber gegen die Wand hinter sich. Er riss die Axt hoch, traf den Mann in der Achsel und zog gleichzeitig sein eigenes Messer, um die Klinge des Alten abzuwehren.
Die Wunde schien dem Mann nichts auszumachen, denn jetzt schlug er zu. Die Klinge rutschte an Jeils Dolch ab und schnitt in den Arm des Waldläufers. Jeil trat verzweifelt nach ihm und trieb den Mann so in Reichweite von Tiniqs Breitschwert.
Der Kopf fiel und rollte ein Stück die Straße hinab.
Isak und Leshi befanden sich mit gezogenen Waffen knapp hinter ihm, aber die Straße lag verlassen da.
»Nun, war der nicht herzallerliebst?«, fragte Isak grimmig. Tiniq wischte seine Klinge an den Lumpen des Alten ab und machte sich daran, Jeils Arm zu verbinden.
Das Schlachterviertel lag merkwürdig still da. Mayel hatte berichtet, dass sich die meisten Leute in ihren Häusern verbarrikadiert hatten, wenn sie nicht unterwegs auf der Suche nach Nahrung waren, die sie kaufen oder stehlen konnten. Vor dem Grünen Tor, durch das alle Vorräte der Stadt gebracht wurden, hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ein Markt im Westen war schon zerstört und abgefackelt worden.
Mayel trat an das obere Ende der Treppe. »Wie kommen wir da nur wieder raus?«, flüsterte er, und seine Angst drohte ihn jederzeit zu übermannen. »Fast überall in der Stadt geht es so zu. Also werden wir entweder zusammen mit den Irren verbrannt oder von den Armeen vor der Stadt hingeschlachtet werden.«
Isak erkannte, dass der Junge so verängstigt war, dass er dem nicht mehr lange standhalten konnte. Er brauchte etwas Hoffnung, musste sicher sein können, dass er die nächsten Stunden überleben würde. Isak wickelte das Ledertuch ab, das Eolis’ funkelnden Griff vor neugierigen Augen verbarg. Dann zog er die Waffe und drehte sie vor Mayels Gesicht, damit sich das spärliche Licht darin fing.
»Es ist dir beim ersten Mal vielleicht nicht aufgefallen«, sagte er, »aber dies hier ist kein gewöhnliches Schwert, und ich bin kein gewöhnlicher Söldner.«
Mayel starrte Eolis staunend an, verstand aber noch immer nicht. Isak fuhr fort: »Eine dieser Armeen da draußen gehorcht mir.«
»Ihr Götter, das heißt, du …«
… läufst blind durch die Schatten, unterbrach eine weibliche Stimme in Isaks Kopf und übertönte Mayels Worte. Er wirbelte herum, zu einer Gestalt, die in diesem Augenblick aus einer kleinen Gasse trat. Isaks Wachen fluchten und zogen ihre Waffen erneut, aber er bedeutete ihnen innezuhalten.
»Wer bist du?«, fragte Isak.
Wie immer ein Licht in der Dunkelheit.
Isak dachte nach, bis ihre Worte eine Erinnerung weckten. »Hexe?«
Sie lachte, was seine Wachen einen nervösen Blick austauschen ließ. Ich wurde schon freundlicher empfangen, aber ja, du hast recht.
»Ich weiß nicht, wie ich dich sonst anreden soll.«
»Äh, mein Lord«, setzte Tiniq unsicher an. Isak unterbrach ihn mit einer ruckartigen Geste. Der Waldläufer war von dem einseitigen Gespräch völlig verwirrt – ebenso wie Isaks Wachen bei seinem ersten Zusammentreffen mit der Hexe von Llehden – aber er hatte jetzt keine Zeit, es ihnen zu erklären.
Darum wirst du damit auch fortfahren. Du weißt bereits, dass eine Hexe ihren echten Namen niemals preisgeben sollte.
Kannst du mir einen anderen Namen geben, den ich benutzen kann?, fragte Isak im Geiste.
Sie kam auf ihn zu, der Mond beleuchtete ihr Gesicht. Sie wirkte noch müder und ausgemergelter als in seinen Träumen, als sei sie auf der Reise nach Scree gealtert. Vielleicht lag das an der Anstrengung, die es für sie bedeutete, Llehden zu verlassen.
So nenne mich Ehla, das ist die elfische Rune für Licht.
Nun, Ehla, glaubst du, du kannst den Zauber beenden, nun da du hier bist?
Unglücklicherweise nicht. Er wird bald vollendet sein. Die Ereignisse entziehen sich unserer Kontrolle. Als ich die Mauer überwand, sah ich Heere auf die Stadt zumarschieren.
Du hast heute Nacht die Mauer überwunden?
Ich wäre eine schlechte Hexe, könnte ich nicht ein paar Stadtwachen täuschen, sagte Ehla tadelnd und wies dann auf das Theater. Ihr habt das Publikum beobachtet?
Es erschien uns sicherer, als das Stück selbst anzusehen.
Wollen wir dann? Sie wies die Treppe hinauf, von der aus Mayel sie beobachtete. Er deutete ihre Absicht falsch und wich zurück, aber Isak beachtete ihn nicht weiter, sondern ging vor zu ihrem Beobachtungsposten, die Hexe folgte ihm auf dem Fuße.
Wen kannst du sehen?, fragte sie, als sie sich auf die niedrige Mauer setzte, hinter der sich die Männer versteckt hatten, und sich an einen hölzernen Stützbalken lehnte.
Isak wies auf eine Frauengruppe hin, die von Stadtwachen umringt wurde. »Dort ist die edle Dame Ostia mit ihren Getreuen und Söldnern.« Er sprach laut, denn das völlige Fehlen eines Gesprächs hätte seine Männer sicher noch stärker verwirrt. Er wusste jedoch nicht, wie viel Mayel über die Vampirfrau wusste, darum fügte er im Geiste hinzu: Ostia ist der Name, den Zhia Vukotic innerhalb des Weißen Zirkels benutzt. Er fuhr fort: »Eine von ihnen ist gleichzeitig meine Getreue. Neben dem Theatertor macht die edle Dame Siala das Gleiche wie wir, doch man sagte mir, sie sei eher an den Mitgliedern des Weißen Zirkels interessiert, die sie wieder unter ihre Führung bekommen will.«
Und nach wem suchst du?
»Nach dem, der die Macht in den Händen hält. Ich denke, dass Siala sich irrt, wenn sie glaubt, der Weiße Zirkel sei noch eine Macht im Land. Scree zerfällt und die Leute hier glauben, dass vor der Stadt sechs Armeen darauf warten, ihre Leichen zu plündern. Ich halte Ausschau nach der edlen Dame Ostia, um zu sehen, wen sie bei sich hat, wen König Emin mitgebracht hat und welche Raylin in den Straßen Screes zu finden sind.«
Und was wird dir das nützen?
»Du sagtest selbst, die Ereignisse seien außer Kontrolle geraten«, sagte Isak und versuchte trotz der in der Luft liegenden Hitze und Verärgerung die Beherrschung nicht zu verlieren. Er spürte die Magie aus der Nähe des Theaters in stickigen Wellen aufsteigen und roch den beinahe greifbaren Gifthauch des Gossengestanks, der von der unnatürlichen Hitze und den Aufständen hervorgerufen wurde. Er kroch wie eine Krankheit über seine Haut. Beides zusammen verursachte ihm große Übelkeit.
»Ich will nur wissen, wer mir Schwierigkeiten machen wird, wenn ich mir den Weg von hier weg freikämpfen muss. Warum bist du in die Stadt gekommen, wenn du nicht glaubst, dass du etwas ausrichten kannst?«
Nur weil man nicht gewinnt, darf man noch lange nicht einfach aufgeben. Scree ist unwichtig. Keine der großen Mächte herrscht hier, also muss es einen anderen Grund geben, warum all dies geschieht. Hinter diesem Zauber muss mehr stecken, als offensichtlich ist.
Isak zögerte. »Legana sagte, die Menin suchten nach einem Kristallschädel. Könnten sie ihn auf diese Weise finden?«
Du mit deinen beiden Schädeln, du bist hierhergelockt worden. Warum sollte man sich so große Mühen machen, um nur einen einzigen zu finden? Die Hexe zögerte, und in ihren Augen schimmerten Zweifel. Das würde sich nur für den Schädel der Herrschaft lohnen, den die Legenden als den mächtigsten von allen bezeichnen.
Isak nickte. Das ergab einen Sinn. Herrschaft, den letzten von Aryn Bwr geschaffenen Schädel, hatte dieser seinem ältesten Sohn und Erben Velere Nostil gegeben, damit er ihm nach dem Großen Krieg die Herrschaft erleichtere. Veleres Mutter Valije hatte Aryn Bwrs Tod in der Letzten Schlacht vorhergesehen. Er wusste, dass es einiger Genialität bedurfte, um nach dem Großen Krieg den Wiederaufbau zu schaffen, und dass sein Erbe dabei Hilfe brauchen würde. Weder Valije noch Aryn Bwr hatten den Meuchelmord ihres Sohnes durch Aracnan vorhergesehen, der zwei Jahre nach Kriegsbeginn stattfand, und niemand hatte gewusst, was seitdem mit dem Schädel geschehen war, bis er im Zeitalter der Dunkelheit im Besitz eines Litse-Kriegsherren wieder aufgetaucht war.
»Die edle Dame Ostia besitzt auch einen«, sagte Isak, »und Legana sagte mir, dass auch deren Bruder in der Stadt eingetroffen ist, der sicherlich seinen eigenen ebenfalls mitgebracht hat.«
Dann befinden sich mindestens fünf Kristallschädel in der Stadt?, fragte die Hexe entsetzt. Das verheißt nichts Gutes. Macht zieht noch mehr Macht an. Was hast du jetzt vor?
»Jetzt? Die Gesichter beobachten, und sobald die Leute das Theater wieder verlassen haben, brennen wir es nieder.« Isak verstummte und musterte die Leute, die vor dem Theater warteten. »Was geschieht da?« Er zeigte auf die Gruppe der edlen Dame Ostia. Einige Soldaten hatten sich hinzugesellt und man hörte ein erregtes Streitgespräch, wobei auch immer wieder jemand Ostias Trupp etwas zurief. Eine in der Nähe postierte Einheit Fysthrall-Soldaten hob die Waffen und lief eine Seitenstraße entlang. Nach einigen weiteren Worten folgte ihnen Ostias Gruppe mit gezogenen Waffen.
Es scheint, als habe eine der Armeen vor den Toren die Geduld verloren und greift nun die Stadt an.
»Wenn sich Ostia darum kümmert, muss das Grüne Tor angegriffen werden.« Isak dachte laut nach. »Aber von wem? Nicht von den Farlan, und ich glaube auch nicht, dass die Ritter der Tempel so besessen von ihren Dogmen sind, dass sie alle Vernunft in den Wind schlagen und trotz der Übermacht des Heeres, das zum Weißen Zirkel gehört, angreifen.«
Der Zauber in der Stadt fördert Chaos und Wahnsinn. Vermutlich haben die Söldnerheere und die Raylin beschlossen, dass sie vom Weißen Zirkel keine Befehle mehr entgegennehmen wollen.
»Dann stecken wir in einer größeren Gefahr als je zuvor.« Er wandte sich an seine Männer. »Tiniq, kannst du in Verbindung mit deinem Bruder treten? Wir müssen General Lahk eine Nachricht schicken.«
Der Waldläufer schüttelte den Kopf, aber die Hexe sagte: Mein Gefährte kann das übernehmen. Welche Nachricht soll ich ihm senden?
Isak wandte sich ihr zu. »Wird dein Gefährte es lebend durch die Verteidigungslinien schaffen?«
Ehla lächelte. Das will ich doch hoffen. Er ist immerhin ein Halbgott, ein Sohn von Nartis.
»Nun gut. Er soll ihm sagen, dass sie sich eingraben und die Stellung halten sollen. Solange dein Gefährte nicht meinen ausdrücklichen Befehl überbringt, sollen sie die Stadt unter keinen Umständen angreifen. Wenn wir uns einen Weg aus der Stadt bahnen, werden wir uns zum Herbstbogen begeben. Mayel, das ist doch das Tor, oder?«
Der junge Mann zuckte bei der unerwarteten Anrede zusammen, nickte dann aber eifrig.
»Gut«, fuhr Isak fort. »Am Herbstbogen ist die Verteidigung am schwächsten und wir werden sie überraschen, während Lahk einmarschiert. Wenn das Grüne Tor angegriffen wird, stellt der Herbstbogen die einzige Möglichkeit dar. Bei der neuen Vorburg im Norden ist die Verteidigung am stärksten und das Prinzessinnentor im Osten liegt Sialas Palast und der Morgendämmerungskaserne am nächsten. Und wenn sie nach Süden ziehen, zum Fuchsloch, müssen sie sich den dort stationierten Söldnern stellen.«
Und wird man diesen Befehlen folgen? Fernal ist kein Farlan. Dein General könnte ihn für einen von den Fysthrall angeheuerten Raylin halten.
»Tiniq, wie bringen wir deinen Bruder dazu, der Nachricht zu vertrauen?«, fragte Isak.
»Ich vermute, äh, mit etwas aus unserer Kindheit?«, fragte der Waldläufer nachdenklich. »Er hat eine Narbe am Knie. Da hat er sich bei unserer ersten Jagd selbst verletzt.«
Isak musste auflachen, denn er erinnerte sich daran, wie ihm selbst einmal etwas ähnlich Dummes passiert war und wie Carel ausgesehen hatte, als er es gebeichtet hatte. Er wiederholte es, damit die Hexe es hörte, und sie nickte knapp.
»Mein Lord«, mischte sich Jeil ein. Blut sickerte durch den Verband, den Tiniq an seinem Unterarm angelegt hatte. »Wenn am Grünen Tor gekämpft wird, sollten wir uns dann nicht ins Haus zurückziehen?«
»Nein«, sagte Isak mit Nachdruck. »Ich bin sicher, dass Zhia auch so mit ihnen fertig wird. Noch stecken wir nicht in größerer Gefahr. Ich will dieses Theater noch vor dem Ende der Nacht zerstört wissen und danach machen wir uns auf den Rückweg und denken darüber nach, wie wir Lord Bahl rächen.«
Bist du etwa hergekommen, um Vergeltung zu suchen?, fragte die Hexe missbilligend.
»Nein«, sagte Isak grimmig. »Aber ich werde trotzdem Vergeltung üben.«
Die Hexe warf ihm einen harten Blick zu und Isak sah den Tadel darin. Es gibt in Llehden ein altes Sprichwort: Deine größten Wünsche gehen immer mit deinen größten Ängsten einher. Wovor hast du Angst, mein Lord?
Isak blickte beiseite, denn darauf wusste er keine Antwort.