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Am nächsten Tag war es kühler und bedeckt. Große, aufgewühlte Wolken, die zum Horizont hin dunkler wurden, kündeten von Regen. Sie begaben sich auf den Waldpfad und ritten meist schweigend, weil alle im Trupp auf das Knacken von Ästen und das Donnern von Hufen lauschten, das auf Verfolger hindeutete. Sie reisten vom Fluss weg geradewegs nach Norden, an der Grenze von Tor Milist entlang zu den Ländern, welche die Farlan als ihr Eigen ansahen. Ihr Ziel war nun das Lordprotektorat Saroc. Es wurde eine längere Reise, aber auf diese Weise vermieden sie die offensichtlichen Wege nach Hause.
Ein Blick auf die Karte offenbarte, wo die Gefahr lauerte: Am Fluss, dem sie bis zur Grenze zwischen Nerlos und dem Lordprotektorat Tildek gefolgt waren, dem Sitz der unangemessen mächtigen Familie Certinse. Lordprotektor Tildek und sein Neffe, der Herzog von Lomin, würden Lord Isak nur zu gern mit wenigen Wachen erwischen, bevor der junge Mann Tirah erreichen und seinen Anspruch geltend machen konnte. Dann hätten sie nur noch das Problem zu entscheiden, wer von ihnen König werden sollte.
Morghien ritt am Rand der Gruppe und hielt sich ungelenk auf einem der Ersatzpferde, die Augen auf den führenden Geist gerichtet. Da er für Wisten Fedei nichts mehr tun konnte, war Morghien Isaks Vorschlag gefolgt, sie stattdessen nach Tirah zu begleiten. Er war kein besonders guter Reiter, und die Unbequemlichkeit verschlechterte seine Laune noch weiter, je länger sie ritten.
Isak hatte sich Sorgen gemacht, dass der Wald zu still war, aber am frühen Nachmittag, als sich die Bäume ausdünnten und vom vertrauten Anblick der von Weideland umgebenen Haine und Dickichte abgelöst wurden, aus denen große Teile der Farlangebiete bestanden, wirkte das Land wie ausgestorben. Sie hatten grasende Schafe und Rinder erwartet und doch bisher noch nicht einmal einen Hasen erblickt. Kein Vogelsang lag in der Luft. Isak hatte genug Zeit allein in der Wildnis verbracht, um zu wissen, wie ein stiller Tag klingen sollte. Dies hingegen war die Stille, die einem jagenden Raubtier folgte.
»Wir haben den Langbogenfluss vor zwei Stunden überquert«, sagte er in die Stille hinein. »Wir hätten längst auf jemanden treffen sollen.«
Isak ritt, ebenso wie seine Soldaten, in voller Rüstung, der Helm ruhte im Schoß. Jeil und Borl, die Waldläufer, kundschafteten mit Mihn den Weg vor ihnen aus. Isak hielt es für unmöglich, dass jemand sie alle drei überraschen könnte, trotzdem fühlte er sich mit der Hand auf dem Schwertgriff besser. Etwas rumorte in seinem Hinterkopf. Er sah sich erneut um: Es gab nicht viele Stellen in der Nähe, an denen sich jemand verstecken konnte, und doch fühlte er sich beobachtet.
»Glaubt Ihr, wir laufen in eine Falle?«, fragte Tila hinter ihm. Isak drehte sich im Sattel herum und schenkte ihr ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es beruhigend wirkte. Die erhoffte Wirkung blieb aus. Tila rümpfte die Nase und sah beiseite.
»Ich hoffe nicht«, sagte er. »Ich habe nur das Gefühl, dass uns jemand ausspioniert.« Ein Schauder rann wie eine geisterhafte Berührung über seinen Rücken, er zuckte zusammen und musste sich erneut umschauen. »Beachte mich einfach nicht, Tila. Ich bin nur ein Narr. Ich würde die Hand für unsere Späher ins Feuer legen.«
»Manche Dinge kōnnen sie nicht sehen«, sagte Morghien gedankenverloren. Er schloss mit nachdenklichem Blick die Augen. »Ist es Magie, was du spürst?«
»Ich …« Isak verstummte. Einmal mehr machte ihm seine mangelnde Erfahrung einen Strich durch die Rechnung. »Ich weiß nicht genug darüber, um sicher zu sein.«
»Isak«, sagte Carel mit entschlossenem Ausdruck. »Was sagen dir deine Instinkte? Nein, denke nicht darüber nach – versuch nicht, Magie einzusetzen oder etwas, mit dem du nicht vertraut bist. Ich kenne dich und vertraue auf deine Instinkte. Sag mir jetzt: Glaubst du, dass wir beobachtet werden?«
Isak nickte. »Ich glaube schon.«
»Gut.« Carel bedeutete dem Zug mit erhobener Hand anzuhalten. »Helme auf, Lanzen heraus. Ersatzpferde hinter uns. Tila, Dame Daran, bleibt in der Mitte – und Morghien, du bleibst bei ihnen, was auch immer passiert. Diese Mistkerle spionieren uns wohl mit Hilfe eines Magiers aus, was bedeutet, dass man uns angreifen wird. Und wenn das geschieht, will ich, dass du die Frauen in Sicherheit bringst. Du bist kein kampferprobter Ritter, also können wir in einem Kampf auf dich verzichten.«
Er verstummte, als er sich an die Etikette erinnerte, blickte zu Isak und wies auf seinen Helm. »Mein Lord?«
Das Weißauge lächelte, denn er erinnerte sich an ein Sprichwort, das er einmal gehört hatte: Tradition herrscht über die Farlan, nur der Lord sagt allen, was zu tun ist. Er nahm die blaue Maske vom Gürtel und zog sie über, dann hob er den Helm, dessen Oberfläche einem Zerrspiegel glich, über den Kopf. Selbst an einem so trüben Tag warf er das Licht auf seltsame Weise zurück. Isak war froh, dass nur seine Feinde den Anblick dieses seelenlosen Gesichts ertragen mussten. »Meine Herren, die Helme.«
Isaks Truppe hatte bereits Verluste zu beklagen, acht Tote und drei Schwerverletzte, die in Narkang zurückgeblieben waren, darum fiel die Abwesenheit der drei Späher umso stärker auf. Vor allem die Anwesenheit Mihns, der Isak wie ein Schatten folgte, wirkte stets beruhigend. Jetzt, da er fehlte, fühlte sich Isak auf eigentümliche Weise verletzlich.
Er sah sich um. Sein Blick traf auf Carel, der die Ersatzpferde so hintereinander anseilte, dass sie im Notfall zurückgelassen werden konnten. Der alte Soldat wäre sicher nicht dankbar, wenn er es vorschlug, aber es wurde höchste Zeit, dass er sich zur Ruhe setzte. Er erschien Isak jetzt zu klein für den Plattenpanzer, als habe die verfließende Jugend den Mann einige Fingerbreit schrumpfen lassen. Dafür war der Kampf in Narkang Beweis genug gewesen. Carel war noch immer gut mit dem Schwert, daran gab es keinen Zweifel, aber lange Stunden des Kampfes in schwerer Platte waren für jeden anstrengend. Carel hatte die Erschöpfung dieses Mal beinahe umgebracht.
Wenn wir Tirah erreichen, werde ich mit Lesarl einmal über Witwen mit großen Anwesen sprechen, die Enkel haben, die er angrummeln kann, dachte er.
»Lord Isak hat recht. Der Wald ist zu still«, sagte Morghien, während Vesna und Carel Tila samt ihrer Anstandsdame dabei halfen, sich Schilde auf den Rücken zu schnallen. Die beiden besaßen natürlich keine Rüstung. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Hinterhalt leichte Kavallerie eingesetzt wurde, war hoch, und die Schilde würden gegen Langbogenbeschuss nichts taugen. Aber kleinere Angriffe könnten sie abhalten.
»Die Stille könnte uns nützen«, sagte der Graf. »Es ist windstill, also tragen die Geräusche weit und für einen Angriff brauchen sie schon mehr als ein Regiment – nachdem man Lord Isak im Kampf gesehen hat, ist offenbar, dass sich jeder Trupp mit weniger als einhundert Mann in große Gefahr brächte.«
»Vesna, such uns einen Ort, den wir gut verteidigen können«, blaffte Isak, den Blick auf die Bäume vor ihnen gerichtet. Er konnte dort draußen irgendwo eine Bewegung spüren, eine Bewegung und Augen, die sie beobachteten. Es war Magie im Spiel, aber das hier war ein Raubtier, und die Tiere des Waldes hatten dies erkannt.
Sie schlugen sich durch eine Reihe hochgewachsener Eschen auf offeneres Gebiet. Eine sanfte Neigung führte zu einem Fluss, der zur Linken hinter einem Hügel verschwand, doch der Boden hier war dicht mit verflochtenen Weißdornbüschen bewachsen. Niemand musste Isak erklären, dass dies die falsche Richtung war. Hier hätte sie der Feind im Nu in die Enge getrieben.
»Dort, wo der Fluss weiterführt, sollte es felsigen Grund geben«, sagte Vesna und wies nach rechts. »Achte auf den Boden. Diese Büsche dort verbergen vermutlich einen steilen Abhang. Wir halten auf diese felsige Stelle zu, und wenn sich dort keine Gefahr offenbart, bewegen wir uns zu den Bäumen jenseits des Baches und suchen unsere Späher. Wir sollten uns beeilen. Wenn sie uns mit Kavallerie auf offener Fläche erwischen, haben wir keine Chance.«
Die Pferde fielen geschlossen in schnellen Trab. Isak saß aufrecht und angespannt im Sattel, bemühte sich, über das Klappern der Rüstungen und das Hufgetrappel auf dem harten Boden hinweg etwas wahrzunehmen. Verärgert zog er an den Zügeln, damit der ungeduldige Toramin nicht vorpreschte, und dabei streifte sein Arm den in seiner Brustplatte eingelassenen Schädel. Er erinnerte sich an die Kraft, die ihm diese Gegenstände schenkten. Die Schädel, vom letzten König der Elfen für den Großen Krieg gefertigt, ermöglichten den Zugriff auf mehr Magie, als ein Sterblicher normalerweise heraufbeschwören könnte. Mit Hilfe eines Kristallschädels konnten sogar die Götter des Pantheons des Höheren Kreises getötet werden – da sollten sie ihm doch wohl erlauben, seine Sinne für das Land um ihn herum zu öffnen, während sie nach einer Deckung suchten.
Isak legte die Finger im Kettenhandschuh auf den Schädel und fühlte trotz der Schicht aus verzaubertem Silber, die seinen ganzen Körper einhüllte, sofort eine freudige Erregung in sich aufwallen. Die Kraft, die er spürte, war einfach furchterregend – er hatte sich nicht getraut, mit den Schädeln herumzuprobieren, wollte damit warten, bis er sicher im Palast zu Tirah war. Aber jetzt hatte er keine andere Wahl. Er achtete darauf, nur einen dünnen Faden Magie aus dem Artefakt in seinen Körper sickern zu lassen, aber dieser Bruchteil reichte aus. Wie ein Seidentuch legte sich ein Gefühl für das Gelände, das ihn umgab, über seinen Geist. Der Wind, der durch die dicken Grashalme auf dem Abhang rauschte, ließ ihn erschaudern, und das kühl dahinströmende Wasser schnitt scharf in seine Seele. Er wandte sich den Bäumen vor ihnen zu, und plötzlich ertönte ein Geräusch in seinen Ohren: Hufschläge und das Klimpern von Metall.
»Reiter voraus«, rief er ruhig. »Sie kommen schnell näher. Der erste Trupp folgt mir, Kampfformation.«
Aryn Bwr regte sich gierig in Isaks Geist, doch er schob ihn wütend hinaus. Dies war Isaks Kampf, und er wollte durch nichts davon abgelenkt werden. Er trieb Toramin an, der Rest folgte in zwei Gruppen. Die eine blieb ihm auf den Fersen, die andere ließ sich fünfzehn Schritt zurückfallen, damit sie Bewegungsfreiheit hatten. Sie waren dem Bach nun näher als dem fernen Waldrand, und nach fünfzig Schritt erblickte Isak das Erhoffte: große Felsen durchbrachen den Hang und eine scharfkantige Wand aus Fels und Erde erhob sich, so dass die Fläche, auf der gekämpft werden konnte, nurmehr zwanzig Schritt maß und es für eine Kavallerie keine Möglichkeit gab, sie zu umzingeln. Eiben mit niedrigen, ausladenden Kronen standen auf dem Hügelkamm und Isak erkannte, warum Vesna diesen Bereich erwählt hatte. Ihre Angreifer waren beritten, und es schien sehr wahrscheinlich, dass Männer der Kavallerie nicht so bald auf die Idee kamen abzusteigen und sich zu Fuß von hinten zu nähern.
Als sie den Fluss erreichten und sich daran machten, ihn zu durchqueren, brachen zwei Reiter in vollem Galopp durch die Bäume vor ihnen. Einer stellte sich in den Steigbügeln auf, kaum dass er sie erblickte, und rief so laut er konnte: »Reiter hinter uns! Soldaten aus Tildek und Lomin!«
Isak ballte die Faust. Das war die ganze Certinse-Familie. Wie lange hatten sie schon auf diese Gelegenheit gewartet?
Sie erreichten die Kluft im Hügel und Isak führte Toramin in eine enge Drehung, um sich anzusehen, wo sie Stellung beziehen würden. Der Ort war nicht der günstigste, aber es gab scharfkantige Felsen, die einen Sturmangriff verhindern würden und zumindest etwas Deckung gaben. Die beiden Späher, Jeil und Mihn, erreichten sie in halbsbrecherischer Geschwindigkeit. Ihre Ponies wurden kaum langsamer, als sie die größeren Jagdpferde erreichten. Erst als sie zwischen ihnen Platz fanden, wurden sie langsamer und wendeten. Beide Männer wirkten angestrengt und keuchten.
»Borl ist von einem Pfeil aus dem Sattel geholt worden«, japste Jeil. »Wir sahen Banner von mindestens zwei Regimentern leichter Kavallerie.« Er schnappte nach Luft, versuchte für den bevorstehenden Kampf wieder zu Atem zu kommen und seine Worte im Zaum zu halten. Waldläufer waren sich über die Maßen treu, und Jeil tobte innerlich, weil er dem Bogenschützen vor ihrer Flucht nicht die Kehle hatte durchschneiden können.
»Keine Leibwache, keine Edlen, aber ich konnte weitere Kavallerie hören, nicht weit entfernt.« Mihn hatte sich deutlich besser im Griff. Der eilige Ritt hatte eine Regung in sein sonst wie in Stein gemeißeltes Gesicht gebracht. Nun wirkte er lebendig, war nicht mehr nur der stumpfe Abglanz eines Mannes.
»Zwei Regimenter und vermutlich fünfzig Mann der Leibgarde«, riet Vesna. »Nun denn, Lanzen in den Boden, bildet einen Speerwall. Haltet die Spitzen hoch. Wenn sie sehen, was wir vorhaben, zögern sie vielleicht.«
Isak nickte. »Und ich muss diese verdammten Magier finden.«
Er öffnete sich erneut dem Rinnsal der Macht und sandte seine Sinne suchend aus, doch diesmal mit einer Absicht, die der Schädel der Jagd freudig unterstützte. Die Verfolger erreichten den Waldrand in dreihundert Schritt Entfernung, hielten dort jedoch an. Isak drang weiter vor, spürte noch mehr Leiber und nahm an bestimmten Stellen den herben Geruch der Pferde im Wind wahr. Darin lagen die scharfen Nadelstiche von Magie – und er eilte ihnen nach. Dort! Drei waren es, die Schutzzauber bereits gewirkt – sie wollten kein Risiko eingehen. Isak konnte die Energieströme, die sie umgaben, als Bitternis in seiner Kehle schmecken. Er konnte die Magie nicht bestimmen und wollte auch nicht mit ihr in Berührung kommen. Er lächelte spöttisch – ihre Verteidigung hatte sie verraten. In seinem Kopf sprach Aryn Bwr mit kalter Verachtung: Sie können dich nicht spüren, töte sie rasch und zieh dich zurück.
Isak sah sich um, als der Rest der Truppe an der Kluft eintraf. In der Ferne konnte er Ersatzpferde panisch und verwirrt herumirren und sich dann zu ihren Gefährten wenden sehen.
»Mein Lord, ich sehe Bogenschützen«, sagte Mihn. Isak drehte sich herum. Sie durften nicht erlauben, dass diese den Abstand überbrückten, denn sie selbst hatten nur wenige Bogenschützen, und die würden einen Schlagabtausch nicht überleben.
»Tila, Dame Daran, nach hinten! Helft dabei, die Pferde anzubinden und dann sucht hinter einem Felsen Schutz. Mihn, gib mir Bescheid, wenn sie sich nähern.«
Isak schloss die Augen, während hinter ihm alle in Stellung gingen. Die Geister waren nun zu Fuß unterwegs, knieten sich hin, die Äxte lagen vor ihnen, die Lanzen hielten sie erhoben. Niemand sprach. Der Anblick Isaks in der Bresche in Narkang, der Nartis selbst nachgeahmt hatte, hatte bei ihnen allen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Sie würden ihm nie mit der freundschaftlichen Kameraderie unter Soldaten begegnen, weil sie ihm mit ehrfürchtiger Hingabe dienten. Sie würden seinen Befehlen ohne Zaudern folgen.
Im Wald vor ihnen prüfte Isak vorsichtig die Verteidigung der drei Magier, bis er nach kurzer Zeit fand, was er suchte. Er konnte nicht ergründen, was die Sprüche, mit denen sie sich umgeben hatten, bedingten, aber er konnte in einem eine Lücke erkennen, wie bei einem unvollständigen Netz. Isak griff mit der linken Hand zu, stellte sich vor, wie die Spitzen der kreidebleichen Finger zwischen den Machtfäden hindurchglitten und sich um den Hals des Magiers legten.
Der Schild brach zusammen und Isak spürte den erschrockenen Aufschrei des Mannes eher, als dass er ihn hörte. Der widerwärtige Geschmack in seinem Mund wurde stärker, zugleich vertraut und doch völlig fremd.
Dieser war von Larat berührt, sagte Aryn Bwr, geweiht, und dann einem Dämon übergeben. Töte ihn rasch, bevor sein neuer Herr eingreift.
Das Weißauge brauchte keine weitere Ermutigung. Die Lage war auch heikel genug, ohne dass ein Dämon Menschengestalt annahm. Er ballte die Hand zur Faust, spürte ein leichtes Knacken und löste den Griff um den Leichnam, um ihn zu Boden gleiten zu lassen.
»Einer ist tot«, verkündete Isak. Er spürte die fragenden Blicke unter den Helmen. Sogar Carel, sein ältester Freund, schreckte ein wenig davor zurück, die Frage zu stellen, wozu Isak mittlerweile in der Lage war.
Dann fragte der alte Kämpe: »Sind da noch mehr?«
»Sie sind jetzt auf der Hut. Ich habe diesen einen nur erwischt, weil sie nicht mit mir gerechnet haben.« Isak legte den Schild an und musterte das Gelände vor ihnen. Drei Kompanien Berittener hatten den Wald verlassen und waren auf dem Weg, den Fluss zu überqueren und so jeden Fluchtversuch zu vereiteln. Sie hielten Abstand, als zögerten sie, den Erwählten Nartis’ anzugreifen. Doch er wusste, dass dies nicht von Dauer war. Isak erlaubte sich einen Augenblick des Mitleids. Die Soldaten und eingeschworenen Gefolgsleute mussten ihren Herren in den Kampf folgen, selbst wenn sie wussten, dass es ein unehrenhafter Kampf war. Er schüttelte den Kopf. Er würde für Mitgefühl noch genug Zeit haben, wenn er dies hier einmal überlebt hatte. Und dazu musste er so viele wie möglich von ihnen töten.
»Sie werden einfach ausschwärmen und uns wie ein Nadelkissen spicken«, murmelte Vesna, während die Kavallerie den Fluss durchritt. »Sie werden sich wohl nicht die Mühe machen, hinter uns kommen zu wollen, denn sie sehen ja, dass wir nirgendwohin können.«
»Holt die Rüstung von den Pferden. Das wird uns etwas Schutz bieten. Je länger wir überleben, umso mehr kann ich aus der Ferne töten.«
»Dafür haben wir keine Zeit – schau, das sind Soldaten der Leibgarde.«
Vesna wies auf weitere Truppen, die eben aus dem Wald kamen und quadratische Wappenflaggen mit sich führten, die nur bei der Anwesenheit eines Herzogs oder Lordprotektors gezeigt wurden. Er erkannte das Wachturmemblem der Lomin.
»Dann ist also der gesamte stinkende Stamm hier«, murmelte Isak. »Aber wie ist Herzog Certinse so schnell hierhergekommen?«
»Unwichtig«, knurrte Vesna. »Wir müssen uns nur Gedanken darüber machen, wie wir das hier überleben. Drei Kompanien auf der linken Flanke, eine oder zwei noch im Wald? Und dann schwere Reiterei, gut fünfzig Mann. Mein Lord, diese Magier müssen sterben. Wir können es uns nicht leisten, sie zu beschäftigen.«
»Ich erreiche sie nicht.« Isak hielt inne, wartete auf eine Antwort von Aryn Bwr, aber die Stimme in seinem Kopf schwieg. »Ich werde sie bloß abwehren können, so gut es geht.«
»Während wir zehn gegen einen unterlegen kämpfen? Warum wiederholst du nicht, was du auf den Wällen von Narkang tatest?«
»Das würde euch alle umbringen und ich bin nicht mal sicher, dass ich selbst es überleben könnte. Nein, wir brauchen Hilfe von einer anderen Stelle.« Isak verstummte, als mit einem Mal eine Erinnerung seinen Kopf füllte. Die Waldgeister von Llehden, das Edle Volk … wenn sie ihn als Freund ansahen, dann war es bei anderen Geistern des Landes vielleicht ebenso. Es mochte keinen großen Vorteil bringen, aber er war dankbar für jede Kleinigkeit. Mit geschlossenen Augen atmete er tief ein und aus, um sich zu beruhigen und das aufgeregte Klopfen seines Herzens unter Kontrolle zu bekommen, dann öffnete er seine Sinne für das Land. Mittlerweile fiel ihm das schon verführerisch leicht.
Die beiden verbleibenden Magier bemerkten es sofort. Isak spürte, wie sie das trübe Band der sie verbindenden Magie lösten, um ihre Verteidigung zu stärken. Der Spruch, den sie zu wirken im Begriff waren, verflog sofort. Statt ihre Verteidigung zu erproben, begnügte sich Isak damit, die Magier auf diese Weise abgelenkt zu haben und glitt an ihnen vorbei. Er fuhr mit den Fingern durch die schwere, kalte Erde und lauschte dem dröhnenden Atem der ihn umgebenden Bäume.
Es lag eine bemerkenswerte Ruhe auf dem Gebiet, wenn man das Ärgernis Mensch erst einmal hinter sich gelassen hatte. Isaks Herzschlag verlangsamte sich, wurde ruhig, als seine Furcht in die schwarze Erde unter ihm versank und verschwand.
Er begann in allen Richtungen zu suchen, untersuchte Steine, folgte einer Welle den Fluss hinab, wand sich blind durch Hasen-und Maulwurfgänge und genoss die schützende Schicht der feuchten Erde um sich herum. Erst als tiefer Frieden ihn erfüllte, bemerkte er an einer Stelle einen Unterschied, wie eine zu einem Knoten gebogene Eisenstange in einem Heuhaufen. Er spürte, wie sich dort etwas bewegte, beinahe unmerklich, doch stark genug, dass das Flussbett, in dem es ruhte, leicht erzitterte.
Vorsichtig näherte sich Isak, als es sich erneut bewegte, heller wurde und sich ausbreitete, beinahe wie ein Baum, der langsam in den Sommer wechselte. Er spürte kurz Verwirrung, dann schüttelte sich das Wesen und erwachte vollständig. So bemerkte es Isak. Plötzlich stieg das Wasser in einem Wirbel der Bewegung heftig an. Er spürte eine Gestalt, die sich unter den Fluten aufbäumte und sich zur vollen Größe ausstreckte. Isak zog sich rasch in seinen Körper zurück und unterbrach den Magiestrom, der ihm folgte. Zuvor spürte er jedoch noch den Eindruck grenzenloser Wut, die von dem Wesen ausging.
»Mist.«
Vesna wandte sich ihm zu. »Mist? Was soll das heißen? Was im Namen Ghennas ist jetzt wieder geschehen?«
»Es sieht so aus, als habe sich die Lage verschlimmert«, murmelte Isak grimmig. »Ich glaube, ich habe gerade etwas geweckt, und es scheint nicht gerade glücklich darüber zu sein.«
Vesna öffnete den Mund, doch seine Antwort wurde vom Schrei eines Geistes in der Reihe unterbrochen: »Pisse und Dämonen, was ist das?«
Der Mann wies hundert Schritt flussabwärts, wo sich unter der Oberfläche etwas hin- und herwarf. Isak versuchte zu erkennen, was es sein mochte. Aber er sah nur wild spritzendes Wasser.
Als die strenge Note von Wut die Luft anreicherte, erkannte Isak entsetzt, was er vor sich hatte.
»Es ist so ähnlich, aber nicht ganz so, wie … o ihr Götter … wie der Chalebrat im Kampf mit den Elfen!«
»So etwas wie ein Chalebrat?«, stieß Mihn neben Isak scharf aus, so plötzlich und unerwartet, dass das Weißauge zusammenzuckte. »Du hast einen Malviebrat geweckt? Einen Wasserelementar? Mein Lord, nur wir sind dem Wasser nah!«
Alle Blicke wandten sich dem Fluss zu, der keine fünf Schritt von ihnen entfernt vorbeiströmte. Hier war er ruhig und beinahe klar, etwa hüfttief und floss über Kiesel direkt auf das brodelnde Chaos zu, das Isak hervorgerufen hatte.
»Verdammt, es kommt hierher!«
Die aufgewühlte Wassersäule verwandelte sich mit einem Mal in eine große Gestalt, die in der Mitte des Flusses entlangschritt. Das Wasser zu ihren Füßen kochte und wurde heftig aufgewirbelt.
»Mihn, Vorschläge?«
Der kleine Mann blickte sich verzweifelt um, während der Malviebrat immer näher kam. Die feindlichen Soldaten, die bereits dabei gewesen waren, Stellung zu beziehen, hielten inne, und alle starrten die Kreatur an, genau wie Isak es gehofft hatte. Aber leider gab es keinen Zweifel, worin das Ziel des Wesens bestand.
»Ich … vielleicht eine Demonstration der Macht? Es sind immerhin magische Kreaturen und wenn Ihr es auch verärgert habt, so hat es doch gewiss einen Selbsterhaltungstrieb.«
»Morghien?«
Der Wanderer riss die Augen auf, und für einen Augenblick schienen seine Züge zu flackern, wurden dann aber zu dem gewohnten wettergegerbten Gesicht. Isak erinnerte sich daran, wie Mihn ihn einmal genannt hatte: den Mann der vielen Geister. Und er verspürte Hoffnung. Einer dieser Geister war die örtliche Göttin eines Flusses gewesen.
Morghien schüttelte müde den Kopf. »Seliasei kann ihn nicht erreichen. Der Malviebrat hört nicht auf sie.«
»Eine Demonstration der Macht?«, wiederholte Isak.
Morghien rieb sich das Gesicht, um das Gefühl zu vertreiben, das blieb, nachdem er einem Aspekt die Kontrolle über seinen Körper übergeben hatte. »Wird vermutlich nichts nützen, aber einen Versuch ist es wert. Wenn es zum Kampf kommt, störe dich nicht daran, dass deine Klinge durch ihn hindurchgleitet. Elementare nutzen die Magie, um ihre Form zu erhalten. Mit jedem Schnitt schwächst du ihn.«
»Einen Versuch ist es wert«, bestätigte Isak. Ein wölfisches Grinsen bemächtigte sich seiner Züge, als er sich vorbereitete und die gewaltigen Machtvorräte im Inneren des Schädels pulsieren spürte. »Bedeckt eure Augen!«
Isak hob Schwert und Schild in den Himmel und ein knisternder Lichtbogen spannte sich zwischen seinen Händen. Er konnte die Hitze des Lichtes spüren. Obwohl er die Augen zu Schlitzen verengt hatte, war es fast unerträglich hell. Die peitschenden Windungen ruckten und zuckten, während er versuchte, die Kontrolle zu behalten. Die Schläge der Magie, die in sich widerhallte, krachten in seine breiten Schultern. Der Bogen erzitterte und kreischte, während sich die magischen Ströme umeinanderwanden. Doch nach einigen Augenblicken spürte Isak, dass sich die Magie ihm widerstrebend unterwarf.
Es fühlte sich an, als werde er in die Luft gehoben – und er spürte nur noch die gewaltige Macht in seinen Händen. Alles andere trat in den Hintergrund. Isak unterdrückte einen Aufschrei, als die überwältigende Macht durch seinen Körper strömte. Er fühlte sich unbesiegbar, gottgleich. Auch der Malviebrat erkannte wohl seine Göttlichkeit, denn sein Vormarsch wurde nun zögerlicher. Doch statt stehenzubleiben, sandte er eine spürbare Welle der Wut aus, und dann griff er an. Isak beobachtete die fließenden Bewegungen seiner Gliedmaßen, als das Wesen losstürmte. Es hatte etwas von Siulents Geschmeidigkeit an sich. Die weiße Gischt war von einem kaum sichtbaren Blauton durchsetzt, und es bewegte sich deutlich schneller, als es seine Größe vermuten ließ, glitt mit der Eleganz lebendigen Wassers näher.
Während sich der Malviebrat mit geballten Fäusten auf Isak stürzte, hörte dieser Schreie hinter sich, als die Pferde die unirdische Gestalt erblickten. Mit einem Gedanken teilte er die magischen Fäden, die zwischen seinen Händen pulsierten. Das Wesen hatte sich nicht einschüchtern lassen, aber Isak erinnerte sich an Morghiens Worte. Die gewaltige Macht, die er buchstäblich in Händen hielt, würde den Körper des Elementars schwächen, auch wenn davon nichts zu sehen wäre. Er wand einen prasselnden Bogen der Magie um seinen Schild und den anderen um Eolis. Dann stürmte er vorwärts, um aus den Reihen seiner Männer herauszukommen, und bereitete sich auf den Kampf vor.
Wild schlug der Malviebrat nach Isak, als sie aufeinandertrafen. Das Weißauge duckte sich und wirbelte herum, nutzte den Schwung, um die Klinge in den Bauch des Gegners und durch den Körper hindurchzuschlagen. Der Elementar heulte auf, wandte sich um und ließ seine klauenbewehrten Hände über Isaks erhobenen Schild kratzen. Der Treffer fühlte sich wie ein Axthieb an. Tropfen spritzten in sein Gesicht und blendeten ihn kurz. Er schlug wuchtig nach oben und spürte, dass Eolis etwas durchschnitt und die Kreatur zurücktrieb. Kaum hatte er das Wasser weggeblinzelt, war sie schon wieder bei ihm. Doch diesmal war er vorbereitet. Er nutzte den Schwung des Wesens, um die Knie zu treffen, dann drehte er die Klinge und rammte sie in den Unterleib des Wesens und schnitt bis zur Schulter des Elementars.
Erneut schrie die Kreatur auf, doch die schweren Treffer schienen einfach hindurchzugleiten, ohne sichtbaren Schaden anzurichten. Das Wasser leuchtete nur auf, wenn Eolis hindurchschnitt. Isak gab den sicheren Stand auf, schlug wieder und wieder zu, bis der Elementar endlich langsamer wurde und Isak seine Gelegenheit gekommen sah. Mit der erstaunlichen Geschwindigkeit der Weißaugen hackte und hieb er auf seinen Gegner ein, nutzte den Schild wie eine Keule, setzte Schlag auf Schlag. Der Malviebrat wich vor dem wütenden Angriff taumelnd zurück, quiekte wie ein verwundeter Eber und zerbarst dann in unzählige Tropfen.
Isak hielt inne und blickte den Fluss entlang, in dem er mittlerweile stand. Es gab keine Spur von dem Elementar. Die Luft schien ob der Wucht seines Ansturms noch immer eisig. Erst jetzt bemerkte er seinen schweren Atem, der in seiner wunden Kehle rasselte, und dann erreichten ihn die Geräusche des Landes wieder. Seine Zehen zuckten vor dem kalten Wasser zurück, das in seine Stiefel eindrang und das brachte ihn in Bewegung.
Als er sich zu den Soldaten umwandte, starrten sie ihn alle an. Die meisten trugen Helme, aber Morghien und Mihn standen mit erstauntem Ausdruck wie versteinert da. Isak knurrte verärgert und ging zu ihnen zurück. Es wäre schön, wenn die Leute ihn nach einem Kampf ein einziges Mal nicht so ansehen würden.