16
Wolkenfäden zogen vor der Mondsichel vorbei, während sich Doranei ins Herz des nördlichen Viertels begab, zum Haus der Getreuen König Emins in Scree. Er schätzte, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Seit dem Theaterbesuch hatte er Kopfschmerzen – und er hatte Mühe sicherzugehen, dass er nicht verfolgt wurde. Am wahrscheinlichsten würde es Zhia sein, die ihm nachging. Er hatte nicht die geringste Aussicht auf Erfolg, wenn er sich mit dem Geist einer uralten Vampirin messen wollte. Das würde er nicht einmal schaffen, wenn er ganz auf der Höhe wäre. Wegen der Mischung aus Hitze, Schmerz, Wein und Verwunderung konnte er sich kaum an den Weg erinnern.
Die Straßen lagen verlassen da, es war ein seltsamer Anblick für ihn, der in den stets munteren Verbrecherhöhlen und finsteren Nebenstraßen Narkangs ausgebildet worden war.
Doranei ging durch eine Gasse und zog nach der Hälfte des Weges – und einem letzten Rundblick – einen Schlüssel hervor, der an einer Kette um seinen Hals hing, und schloss eine unauffällige Tür auf, die etwas unterhalb des Pflasters endete.
»Und in welche der sechs Höllen Ghennas bist du heute gestürzt ?«, fragte eine sanfte Stimme aus der Dunkelheit dahinter.
»Eine der reizvolleren, Beyn«, antwortete Doranei. »Ist alles gutgegangen?«
»Alle anwesend und wohlauf. Wir dachten, man hätte dich erwischt.«
»Das haben sie auch beinahe. Ich hätte ganz sicher kaum weiterlaufen können.«
»Und?«
Doranei kannte Beyn nicht sonderlich gut, obwohl sie seit sieben Jahren in derselben Einheit dienten. Abgesehen vom gemeinsamen Dienst für den König wusste er über Beyn nur, dass er sich gern die Zeit damit vertrieb, Frauen mit seinem guten Aussehen zu bezirzen – meist nur der Herausforderung wegen.
»Also bin ich stattdessen ins Theater gegangen.«
»Ins Theater?« Für einige Augenblicke war es still, dann hörte er Beyn kichern.
Über kurz oder lang entwickelten alle Brüder einen eher verdrehten Humor, der sich vor allem in den verrückten Wetten zeigte, die sie ständig miteinander abschlossen. Doranei wusste, dass seine Geschichte sie alle amüsieren würde. »Nun, ich hoffe, es hat dir gefallen. Jetzt erstatte dem König Bericht.«
Trotz der Kopfschmerzen und der Verletzungen musste Doranei schmunzeln. Für kurze Zeit war er interessant, dann durfte er aber auch schon wegtreten. Das war Beyn, wie er ihn kannte, reserviert, manchmal unerträglich, aber immer pflichtbewusst. Doranei ging durch den Raum zur anderen Tür. Als er sie öffnete, sickerte schwaches Licht aus dem Flur und er sah Beyn dort sitzen, die Armbrust gespannt und auf die Tür zur Straße angelegt. Sie nickten sich zu und dann machte er sich auf die Suche nach dem König.
Das unauffällige Haus war für die dreißig Männer der Bruderschaft und die Handvoll anderer Männer, die den König begleiteten, groß genug. Es war überraschend gut gebaut, denn er hörte nur ein leises Murmeln vom anderen Ende des Ganges. Doranei dachte an den Erbauer dieses Hauses, einen in der Stadt sehr bekannten Künstler namens Pirlo Cetess. Er würde ihn gerne wiedersehen – falls er noch am Leben war. Im Haus fand sich kein Trauerflor, also lagen sie mit ihren Vermutungen falsch, obwohl keine Antwort auf ihre Nachrichten erfolgt war. Er hoffte es sehr.
»Doranei, gut, dass du dich zu uns gesellst«, sagte König Emin, als Doranei den Empfangssaal betrat. Der König blickte von den Papieren nicht auf, die vor ihm auf dem großen Mahagonitisch verstreut lagen. Im Licht der Fackel rasierte Sebe einen der Brüder. So war es in der Bruderschaft: Man vertraute nur einem anderen Mitglied weit genug, um sich eine Klinge an den Hals legen zu lassen. Seit Ilumene durchgedreht war, einige der besten Freunde des Königs aufgeschlitzt und dann auch noch seinen Namen in den Bauch der Königin geschnitten hatte, fiel es einem vielleicht etwas schwerer. Aber Vertrauen musste nun einmal sein, und natürlich durfte es keine Spiegel im Haus geben. Eine Spiegelung schien nicht wirklich genug zu sein – und damit einem Schatten zu ähnlich.
Der König trug ein graues Wams und eine ebensolche Hose. Die schwarzen Säume unterschieden ihn von seinen Männern, aber nicht von den Schatten. »Bist du verletzt?«, fragte er.
»Nicht sehr, aber es wird wohl einige Tage dauern, bis ich meinen linken Arm wieder benutzen kann.«
»Hast du wieder mal versucht, die Wachhunde zu füttern?«, fragte er und lachte grimmig auf.
Veil, der die Schale mit Rasierseife auf seinen Knien balancierte, schmunzelte. Sebe hielt in seiner Arbeit inne, um sich das verfilzte Haar aus dem Gesicht zu streichen und Doranei anzugrinsen, wobei sich seine vernarbten Wangen in Falten legten. Doranai zuckte nur die Achseln. Als er fünf Sommer alt gewesen war, hatte Doranei seine Hand durch die Stangen eines Tores gesteckt und versucht, einen Hund zu streicheln. Der Wachhund hatte ihn ein Stück seines kleinen Fingers und seiner kindlichen Unschuld gekostet, aber er hatte seine Lektion gelernt. Obwohl man es seit Jahren in Doraneis Anwesenheit nicht mehr erwähnt hatte, hatte sich der König daran erinnert.
»Ich war im Theater, Euer Majestät.« Nun blickte König Emin doch auf, wie Doranei zufrieden feststellte. »In Begleitung von Zhia Vukotic.«
Nun ging der König so weit, eine Augenbraue zu heben. »Na, das ist aber eine interessante Entwicklung der Ereignisse. Ich frage mich nur, wie du es geschafft hast, im Theater verletzt zu werden.« Der König richtete sich auf und wies auf eine kleine Treppe neben dem Kamin, die normalerweise hinter einem Bücherregal verborgen blieb. »Komm, sieh dir das mal an.«
Doranei folgte dem König die schmalen Stufen bis in Cetess’ geheime Kammer, wo der Künstler die Studien abhielt, die sich mit den Interessen des Königs deckten. Es war ein kleiner, fensterloser Raum, der vor den Augen der Stadt und Cetess’ Gönnern verborgen blieb, wenn diese ihn besuchten. Hier herrschte die größte Unordnung, Papiere und Bücher lagen wild verstreut. Eine böse Vorahnung ergriff von Doranei Besitz.
»Wo ist Cetess?«
»Eine gute Frage«, antwortete der König und machte eine Geste zu einer der Wände hin. »Bisher haben wir noch nicht herausgefunden, was genau passiert ist, aber es gibt einige Dinge, die Schlimmes ahnen lassen.« Er wies auf eine leere Tafel an der Wand, die genauso aussah wie die im Schlafzimmer des Königs. »Sieh selbst.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Doranei begriff, was da nicht stimmte. Die Tafel, ein glattes Stück roten Narkang-Marmors, das aus dem gleichen Block geschlagen worden war wie sein Gegenstück, wirkte völlig glatt – und das war das Problem. Was mit der einen geschah, passierte auch mit der anderen. Sie waren zerbrechlich und konnten leicht Schaden nehmen, aber diese hier war noch vollkommen unbeschädigt. Nur eine dünne Schicht Kreidestaub lag auf der dunkelroten Oberfläche.
»Ich weiß nicht allzu viel über Magie, aber ist das nicht unmöglich?«
»Ich weiß ziemlich viel über Magie«, antwortete Emin, »ebenso wie Edine und Cetarn, und wir sind allesamt der Meinung, dass dies unmöglich ist. Keiner unserer gelehrten Freunde hat eine Erklärung dafür.«
»Und Ihr?« Alle Mitglieder der Bruderschaft bewunderten König Emin für seine Fähigkeit, Probleme zu lösen.
»Vielleicht ist die reine Unmöglichkeit bereits der Grund? Magie ist ein unstetes Ross und der Vorteil, kein Magier zu sein, liegt darin, dass ich nicht behaupten muss, sie zu beherrschen. Magier glauben, sie würden die Natur des Tieres kennen, aber wenn man bei Magie genau hinsieht, bemerkt man, dass sie sich dem Griff entzieht.«
»Das verstehe ich nicht, Euer Majestät.«
»Ich auch nicht«, sagte Emin lächelnd. »Aber es ist getan worden, etwas, von dem wir dachten, es sei unmöglich. Was wäre also, wenn der einzige Weg, auf dem dies erreicht werden könnte, darin liegt, dass er uns sofort unmöglich erschiene? Wenn diese geheime Tat nur dann vollbracht werden könnte, wenn sie dadurch gleichzeitig offenbar würde?«
»Ist das eine Erklärung?«
Der König lachte wegen Doraneis verwirrtem Gesichtsausdruck auf. »Ha! Nicht wirklich, es sind nur meine Gedanken zu diesem Thema. Die Nachricht auf der Tafel in meinem Zimmer wurde nicht mit herkömmlichen Mitteln geschrieben, sonst wäre sie hier noch zu lesen. Man kann eine solche Nachricht nicht wegwischen, wenn die Tafel erst zerbrochen ist. Also wurde sie mit ungewöhnlichen Mitteln geschrieben, um uns hierher zu locken. Die launische Natur der Magie sorgt dafür, dass dies nur dann möglich ist, wenn die Aufgabe fehlschlägt.«
»Aber wir sind hier«, widersprach Doranei.
Der König hob einen Finger. »Wir sind hier, aber vorgewarnt, dass man uns hergelockt hat. Und damit sind wir auf der Hut vor einem Hinterhalt. Vielleicht sind wir sogar so lange sicher, bis wir erkennen können, dass es eine Falle gibt.« Er zuckte mit den Schultern und wischte sich eine haselnussfarbene Strähne aus dem Gesicht. »Aber ich denke nur laut nach. Ich muss erst noch einen Sinn hineinbringen.«
»Ich wünsche Euch dabei viel Glück. Habt Ihr herausgefunden, was mit Cetess geschehen ist? War … er es?« Doranei vermied es, Ilumenes Namen in König Emins Gegenwart auszusprechen. Er war der einzige Verräter in der Geschichte der Bruderschaft – und für den König wie ein Sohn gewesen.
Emin schüttelte den Kopf. »Nein, nichts Eindeutiges. Die Diener berichten von nächtlichen Stimmen, von Gelächter, das durch die Wände klingt und von Schatten in leeren Zimmern. Das alles ergibt wenig Sinn, und doch erinnert es an Azaers Taten in Narkang.« Emin kaute nachdenklich auf der Lippe. »Wir wissen nur eines mit Sicherheit: Alle Bediensteten schwören, dass Cetess das Haus wie üblich abgesperrt hat und zu Bett ging. Als sie erwachten, war die Tür noch immer abgeschlossen, aber er war verschwunden. Er hatte nicht in seinem Bett geschlafen und es gab keinerlei Anzeichen von Gewalt, keine Leiche, keine Schlüssel.«
»Und was tun wir jetzt?«
Emin hob eine Augenbraue. »Ich denke, du solltest mir von deinem Abend berichten.«
Er setzte sich an den kleinen Schreibtisch, der die Mitte des Raumes einnahm, und musterte Doranei mit dem durchdringenden Blick seiner blauen Augen. Dieser ließ das Bündel so vorsichtig von seinen Schultern gleiten, wie es der verletzte Arm erlaubte, und dann auf den Boden fallen, wo es mit einem metallischen Poltern landete. Ebenso verfuhr er mit seinem Lederwams, froh darüber, das Gewicht der Eisenverstärkungen endlich loszuwerden, und ließ sich schwer auf den anderen Stuhl fallen.
Er rieb sich das linke Handgelenk. »Meine Nacht im Theater«, murmelte er mit einem beschämten Lächeln, »ergab sich aus der Treffsicherheit einer Farlan-Getreuen.«
»Jetzt möchtest du mich an der Nase herumführen«, sagte der König.
Doranei hob abwehrend die Hände. »Wir sind bei weitem nicht die Einzigen, die sich für Scree interessieren. Also, es trug sich folgendermaßen zu …«
König Emin und Doranei redeten mehr als eine Stunde miteinander, sprachen über die Besucher, die Schauspieler – und die Vampirfrau Zhia Vukotic. Doranei hatte nicht sonderlich auf das Stück achten können – eine Verwechslungskomödie über drei Prinzen, die alle drei fälschlicherweise behaupteten, der Erlöser zu sein – denn seine Schmerzen waren im Verlauf des Abends immer größer geworden. Aber er versuchte sich an alle Einzelheiten zu erinnern. König Emins Gesicht nahm entschlossene Züge an, als Doranei mit leichter Nervosität anmerkte, einer der maskierten Schauspieler könne Ilumene gewesen sein.
»Aber du bist nicht sicher?«
»Nein, seine Rolle war sehr klein.« Doranei verzog das Gesicht, während er versuchte, seinen Verdacht zu erhärten. »Etwas an der Haltung des Mannes machte mich stutzig. Er stellte sogar die Hauptrolle in den Schatten, ohne ein einziges Wort zu sagen.«
Der König antwortete nicht. Er lehnte sich mit finsterem Gesicht zurück, sein Stuhl knarrte besorgniserregend. Doranei begann sich allmählich zu fragen, in welchem Zustand wohl Cetess’ Weinkeller sein mochte. Den Rest der Nacht wollte er dringend in der liebevollen Umarmung eines guten Tropfens verbringen.
»Komm mit«, sagte der König schließlich und ging zur Tür. »Wir sollten mit Endine und Cetarn darüber sprechen. Ich denke, sie müssen uns den ersten Anhaltspunkt liefern.« Er öffnete die Tür und blieb mit der Hand am Bronzeknauf stehen.
In diesem Augenblick wirkte der König auf Doranei wie ein müder alter Mann, verbittert und gebeugt. Die strahlend blauen Augen schienen vom Alter getrübt und sein Haar sah im schwachen Licht grau aus.
»Lass nicht zu, dass ich dies für meine Rache nutze«, flüsterte Emin. Doranei war von diesem plötzlichen Zeichen der Schwäche bestürzt, aber der König schien gedankenverloren und bemerkte es nicht. »Versprich mir, dass du meine Hand aufhältst, wenn es nötig werden sollte.«
»Ich … wollt Ihr Ilumene verschonen?«, fragte Doranei verwundert.
»Das meine ich nicht. Ilumene ist jetzt zweifellos ein wichtiger Gefolgsmann Azaers, aber das war nicht der einzige Grund, warum er die Seiten wechselte. Ich kann seinen Verrat nicht verzeihen, und das wird mein Urteilsvermögen trüben. Wenn es so weit ist, musst du mich daran erinnern, dass unser eigentliches Ziel nicht Rache ist. Azaer wird zunehmend mächtiger und vielleicht droht uns bald die Herrschaft des Zwielichts. Immerhin glauben wir, dass diese Stadt hier in der Prophezeiung erwähnt wird, und dann bleibt keine Zeit für eitle Rache.«
Doranei riss die Augen auf. »Und Coran? Er wird mich töten, wenn ich mich zwischen ihn und Ilumene stelle.«
»Lass Coran meine Sorge sein. Unsere Bande sind stark genug, um ihn zurückzuhalten. Wir müssen Ilumene und den Barden finden und herausbekommen, was sie vorhaben. Die Rache wird warten müssen.«
»In dem Fall werde ich da sein, um Euch daran zu erinnern.«
»Danke.« Der König straffte sich und trat durch die Tür. »Aber zuerst müssen wir sie finden.«
Die beiden Magier, die sie über die Stadtmauer nach Scree geschmuggelt hatten, während Doranei die Stadtwache abgelenkt hatte, waren ein ungewöhnliches Paar. Es war sicher ausführlich darüber gescherzt worden, wie man Shile Cetarns fülligen Körper über die Mauer hatte bekommen wollen, obwohl alle gewusst hatten, dass Toman Endine stets die größeren Schwierigkeiten machte. Der Magier Endine wirkte mit dünnen Armen und bleicher Haut und zusammengekniffenen Augen wie ein kränkliches Kind. Er reichte seinem Kumpan nur knapp bis zur Brust und wirkte immer besorgt, Cetarn könne ihn versehentlich zermalmen. Dennoch fand man ihn stets im Windschatten des großen Mannes. Wenn er mehr als zwanzig Schritt laufen müsste, würde er vermutlich sein Leben aushauchen, oder besser: auskeuchen.
Im gleichen Maße, in dem Endine durch seine Schwäche ständig gehetzt wirkte, war Cetarn durch seine ewig fröhliche Art schwer zu ertragen. Wie so oft bei Männern des gleichen Standes neckten und stritten sich die beiden fortwährend wie ein altes Ehepaar. Trotz seines zerbrechlichen Körpers war Endine ein vollwertiger Kampfmagier und beide hatten ein Gespür für die Feinheiten der Magie, das sie unverzichtbar machte.
Doranei und der König fanden sie schließlich auf dem Dachboden, einem verstaubten Gang, der sich unter dem Spitzdach erstreckte und mit alten Möbeln vollgestellt war. Sie standen sich an einem mit einem Tuch verdeckten Tisch gegenüber und stierten sich an.
»Meine Herren«, sagte der König warnend. »Wir werden uns zu dieser nachtschlafenden Zeit nicht streiten. Unsere Anwesenheit hier soll geheim bleiben. So etwas wie beim Geburtstag der Königin im letzten Jahr sollte besser nicht noch einmal geschehen.«
Cetarns Kopf ruckte herum. »Wenn Ihr glaubt, ich würde zulassen, dass er …«
»Du fetter, verlogener Klops«, quiekte Endine wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Genug, sagte ich!«, rief der König und brachte die beiden Männer zum Schweigen. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als einen früheren Zwist weiterzuführen. Ich trug Euch auf, zu untersuchen, welche Art von Magie in diesem Haus verwendet wurde. Habt Ihr etwas herausgefunden?«
Die beiden warfen sich einen argwöhnischen Blick zu, dann trat Cetarn mit einem Schulterzucken vom Tisch zurück.
»Wenn hier Magie gewirkt wurde, so liegt sie zu weit zurück, um sie noch entdecken zu können. Gemessen an der Zeitspanne, von der Ihr spracht und der Unauffälligkeit, die ich bei einem solchen Spruch erwarten würde, ist das keine große Überraschung.«
»In dieser Stadt jedoch«, gesellte sich Endine hinzu, »wird eine Menge Magie gewirkt, so viel sogar, dass mir die Ohren schon geklingelt haben, bevor wir noch über die Mauer gekommen waren. In Scree gibt es keine Magierakademie, was bedeutet, dass sich in letzter Zeit entweder eine Menge Magier hier versammeln, oder dass etwas anderes vor sich geht. Es liegt eine ganze Reihe von verschiedenen Gerüchen in der Luft.«
»Könnt Ihr sie auseinanderhalten, ihre Natur bestimmen?«
»Mit der Zeit auf jeden Fall«, sagte Endine und nickte. »Heute Nacht werden wir diesen Ort vorbereiten und absichern. Ich werde Tremal eine Liste benötigter Dinge geben, so dass die Bruderschaft sie morgen besorgen kann.« Endine lächelte nervös. Er war selbst ein zwanghafter Dieb und bewunderte Harlo Tremal, der beinahe alles stehlen konnte. »Wir brauchen einen halben Tag für die Rituale, um dieses Haus auf die übliche Weise abzuschirmen. Und ein weiterer halber Tag sollte reichen, damit wir uns mit unseren Dämonenvertrauten besprechen können. Dann können wir damit beginnen, das Machtgespinst dieser Stadt zu untersuchen.«
»Gut. Bevor Ihr aber tatsächlich damit beginnt, solltet Ihr wissen, dass Doranei den Abend mit Zhia Vukotic verbracht hat.«
Endine erblasste.
»Ich glaube nicht, dass sie eine Gefahr für uns darstellt«, fuhr der König fort, »aber ich muss Euch wohl kaum daran erinnern, dass alle Vampire sehr leicht zu reizen sind und Zhia zudem einen Kristallschädel besitzt. Haltet Euch von ihr fern.«
»Ja, Euer Majestät«, antwortete Cetarn und stieß Endine an, der nickte, dabei aber aussah, als sei ihm schlecht. Dann blickte Cetarn mit einem Mal nachdenklich drein. »Das würde so einiges erklären. Wirst du sie wiedersehen?«
Doranei lief ein Schauer über den Rücken, als sich ihm alle erwartungsvoll zuwandten. »Ich … also, nun, vielleicht wäre das möglich.«
»Hervorragend. Versuch herauszufinden, wie oft sie den Schädel nutzt.«
»Und wie soll ich so was herausfinden?«, fragte Doranei entsetzt.
»Das ist mir gleich.« Cetarns dicke Lippen wurden von einem Lächeln geteilt. »Auf jede erdenkliche Weise. Ich meine, dass sich die reine Masse an Magie, die in dieser Stadt genutzt wird, weitgehend durch ihre Verwendung des Kristallschädels erklären ließe, auch wenn ich von der Plumpheit eines solchen Vorgehens doch recht enttäuscht wäre.«
Er verstummte gedankenverloren und blickte stirnrunzelnd zu Boden. »Aber ich schätze, dass die Lage es wohl nötig gemacht hat.«
»Und Ihr solltet wissen, Euer Majestät«, sagte Endine, als sein Kollege wieder schwieg, »dass sich ein Nekromant in der Stadt befindet.«
Emin blickte Doranei an. »Könnte es Zhia sein?«
»Gewiss«, erwiderte Endine und Doranei sagte gleichzeitig: »Nein.« Der Mann des Königs hatte eigentlich gar nichts sagen wollen und war beschämt, dass die Worte seinem Mund entfleucht waren. Emin warf ihm einen undeutbaren Blick zu, der länger anhielt, als es Doranei genehm war, sagte dann aber doch nichts dazu.
»Man sollte meinen, dass ein unsterblicher Vampir in der Nekromantie sehr bewandert sein sollte. Das liegt nur nahe. Ob sie sich wirklich damit abgibt, ist weniger klar – diese Kunst könnte unter der Würde einer Magierin von ihrer Macht sein.« In Endines Stimme schwang Bewunderung mit. Sie erinnerte Doranei an die Erzählung König Emins von seinem ersten Treffen mit Zhia in Narkang. »Ich glaube nicht, dass sie ihre Fähigkeiten oft auf dieses Maß einschränkt – und was wir gespürt haben, hat deutlich größere Ausmaße. Da ist jemand mit großer Kunstfertigkeit und Macht am Werk, der sich nicht davor fürchtet, bemerkt zu werden.«
Endines Ausdruck wurde hochmütig. »Natürlich kann man von den Scree-Magiern oder den verbleibenden Magiern des Weißen Zirkels nicht viel erwarten. Sie sind sicher nicht so erfahren wie Cetarn oder ich, es könnte also auch einfach so sein, dass sich der Nekromant den Magiern der Stadt überlegen fühlt.«
»Das wollen wir nicht hoffen«, sagte Emin. »Nun, Doranei, wie es scheint, müssen wir dir wohl etwas zum Anziehen besorgen, das besser zum Theater passt. Meine Herren, das Wichtigste ist nun, den Nekromanten aufzuspüren. Ich vermute, dass in den kommenden Wochen wenig dem Zufall überlassen sein wird. Vielleicht ist auch diese Hitze schon ein Teil des Ganzen. Azaers Spiele sind verschachtelt, meist schwer zu durchschauen, aber sie verfolgen immer einen Zweck. Die Anwesenheit eines mächtigen Nekromanten in der Stadt ist mit Sicherheit Teil des Spiels. Ich will, dass er oder sie gefunden wird. Je mehr Teile des Puzzles wir finden, umso größer sind unsere Chancen, Azaers Pläne für Scree zu vereiteln. Ich befürchte, dass dies das bisher dreisteste Unterfangen des Schattens sein wird, und die Suppe will ich ihm versalzen.«