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Der Abend war heiß und stickig. Die Dämmerung hatte nur wenig Linderung von der grausamen Hitze des Tages gebracht und die Kopfsteine des Pflasters gaben Wärme ab – wie ein langsam abkühlender Herd. Mayel saß in der stehenden Luft an eine Ziegelmauer gelehnt und trank warmes Bier, das seinen Durst nicht löschte. Neben ihm musterte Shandek die Passanten und fuhr sich gelegentlich mit der Hand durch das lange, fettige Haar, als könne er die Hitze wegwischen.

Brohm war nicht bei ihnen. Shandek hatte den großen Mann und Shyn, einen anderen seiner Schläger, mit einem Auftrag losgeschickt, an dem Mayel keinen Anteil hatte. Mayel hatte nicht nachgefragt. Shandek hatte ihm dies verschwiegen, um ihm zu zeigen, dass er noch nicht in den inneren Kreis seiner Vertrauten vorgedrungen war und dies auch erst geschehen würde, wenn er etwas von dem Gewinn eingestrichen hatte, den Mayel ihm versprochen hatte. Man nahm sich vor Shandek in Acht, auch wenn man mit ihm verwandt war. Mayel wusste, dass Shandeks Geduld langsam aufgebraucht war.

Der glühende Griff des Sommers hatte Scree eine träge Lebensweise aufgezwungen. Die Sonne herrschte grausam und so blieb den Leuten nur ein Leben im Zwielicht. Sie versuchten in der Nacht und während der heißesten Stunden des Tages zu schlafen, so dass nur die Morgen- und Abenddämmerung für das Tagwerk blieben. Die Luft war dick, raubte einem die Kraft und machte die Haut klebrig. Für Mayel war es sogar anstrengend, seinen Becher zu heben. In den letzten Wochen hatten immer wieder schreckliche Stürme die Stadt heimgesucht. Wenn der eine abgeflaut war, hatte ein anderer schon wieder Schwung geholt. Der nächste war bereits lange überfällig.

Mayel fand diese Art zu leben ausgesprochen anstrengend. Diese seltsam zerteilten Tage zermürbten die Leute. Die Standbesitzer rund um das Theater neckten sich nicht mehr laut rufend, sondern starrten erschöpft auf die fast leeren Straßen hinaus. Am Tag zuvor hatte eine Verkäuferin ihren Nachbarn mit einem Schlachtermesser angegriffen. Mayel hatte keinen Grund dafür finden können.

Jetzt kam das einzige Geräusch von einem Anschlag, der sich in einem seltenen Luftzug halb gelöst hatte und auf dem der Name des ehemaligen Theaterstücks stand. Heute spielte man zwar eine Komödie, die »Das Maultier des Königs« hieß, aber dieser eine Anschlag für die bittere Tragödie »Die Wehklage der Federn« war übrig geblieben.

»Ich verstehe einfach nicht, wie es diese verdammten Blumen schaffen, am Leben zu bleiben«, sagte Mayel mit rauer Stimme.

»Blu’m?«, fragte Shandek und seine Stimme war von der Mattigkeit des Tages und dem Alkohol ganz schleppend geworden. Sein Kopf sackte zur Seite, als er Mayel mit glasigem Blick ansah – und so wirkte er beinahe wie ein lebender Toter.

Mayel winkte mit dem Finger zum Theater hinüber. An den Wänden hing langes Bilsenkraut, dessen dunkle, reißzahnähnliche Blätter im Licht der Fackeln auf der Mauer bösartig funkelten. Binnen weniger Tage, nachdem man es aufgehängt hatte, waren Knospen erschienen und hatten sich in glockenförmig gelbe Blüten verwandelt. Trotz der Hitze und ganz ohne Wasser oder Erde gediehen die Pflanzen prächtig. Tagsüber schwirrten unzählige Bienen um sie herum.

»Diese verdammt prächtigen Dinger. Die Ernte verdorrt auf dem Feld, wie können die also so gedeihen?«

»Was weißt du schon von Blumen?«

»Nicht viel«, gab Mayel zu.

»Dann halt die Klappe. Schau, die Akrobaten kommen raus.« Shandek wies auf die Tore des Theaters, die sich öffneten und sechs bunt gekleideten Gestalten den Weg frei gaben. Drei waren die Albinos, die Shandek und Mayel bereits kannten. Sie waren noch immer barfuß, trugen jetzt aber Mäntel aus langen bunten Stoffstreifen. Zwei der anderen waren Männer, der eine dürr und drahtig, mit rautenförmigen Hautbildern auf den Armen und einer blutigen Träne im Gesicht, offenbar eine Verspottung des Kostüms der Harlekine. Er war in Schwarz gekleidet, was bei einem echten Harlekin niemals der Fall wäre. Der andere war ein bleicher Kerl, der eher an einen Bettler als an einen Schauspieler erinnerte. Sein Haar schien verfilzt und dreckig, die Züge eingefallen, die Haut unrein, als habe er seit Monaten nicht richtig geschlafen. Der Mann war ganz sicher kein Akrobat, aber er hielt eine Flöte in den Händen, mit der er das Herumturnen untermalte.

Die Sechste im Bunde war einer der Gründe, warum Mayel und Shandek überhaupt hier waren. Eine Frau mit langem rostrotem Haar, die ihre Kameraden um einige Fingerbreit überragte und das Zentrum der kleinen Truppe bildete. Jeder ihrer Schritte wirkte sinnlich und elegant. Sie bewegt sich zu grazil, um eine reine Menschenfrau zu sein, dachte Mayel. Wenn die Frau tanzte, konnte man den schnellen Bewegungen ihrer Hände und Füße kaum folgen, aber es waren ihre Genauigkeit und ihr Geschick, die seinen Atem stocken ließen.

»Unser Freund ist wieder da«, sagte Shandek und mit einem Nicken wies er zum Theater hinüber. Auf dem Dach des zwei Stockwerke hohen Gebäudes, vor den dunklen Wolken beinahe unsichtbar, erkannte Mayel mit Mühe eine Gestalt. Kurz glühte eine Zigarre auf.

»Der gleiche?«

»Ja, darauf würde ich wetten. Heißt Ilumene«, sagte er, »und den Namen vergesse ich so schnell nicht wieder. Ich habe eine Menge Rüpel auf der Straße getroffen und mit dem da würde ich mich nicht anlegen.« Shandek wies zum Dach hinüber und verzog das Gesicht. »Selbst wenn er keine Armbrust bei sich hätte.«

»Warum steht er wohl da?«

»Sie erwarten Ärger«, sagte Shandek. »Man muss ja nur die Straße entlanggehen, um zu merken, wie angespannt die Leute sind. Ich weiß nicht, was hier passiert, aber es liegt was in der Luft, und das ist nicht nur der Sturm.«

»Wie meinst du das?«

»Bist du in letzter Zeit im Tempel gewesen?«

»Wohl kaum«, sagte Mayel geringschätzig. »Es reicht mir schon, dass der Abt darauf besteht, dass ich die Andacht abhalte, wenn ich im Haus bin, da muss ich nicht noch Zeit im Tempel verschwenden.«

»Tja, wenn du hingegangen wärst, hättest du gesehen, dass du mit dieser Meinung nicht allein stehst. Um diese Jahreszeit sollte der Tempel von Belarannar fast voll sein, aber er ist beinahe leer.« Er wollte sich einen weiteren Schluck einschenken, aber der Krug war leer. Er schaute hoffnungsvoll in die Öffnung des Gefäßes und sank dann seufzend an die Wand zurück.

»Die letzten Wochen waren seltsam«, fuhr er fort. »Ich habe nichts von Spinne gehört, aber ich weiß, dass seine Jungs fleißig waren. Immerhin gibt es überall Kämpfe in der Stadt und die Stadtwache und Sialas Truppen umkreisen sich. Sie kümmern sich nicht mal um die Verrückten, die Verderben und Zerstörung voraussagen. Ich hab gehört, dass die Geweihten hinter unserer östlichen Grenze umherschnüffeln, und es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die Farlan bemerkbar machen.«

»Was, glaubst du, wird geschehen?«, fragte Mayel besorgt.

Shandek rülpste und ließ die Tänzerin dabei nicht aus den Augen, die zum traurigen, langsamen Spiel des rattenartigen Bettlers einen hypnotischen Tanz vollführte.

»Ich denke, die Farlan sind zu spät dran; hab gehört, dass die edle Dame Ostia die Söldner mittlerweile so gut ausgebildet hat, dass sie beim ersten Blick auf die Geister nicht mehr die Beine in die Hand nehmen. Die werden es nicht leicht haben, die Stadt einzunehmen. Wir wissen doch alle, dass die Farlan nicht das Zeug für einen langanhaltenden Krieg haben.« Er versuchte auszuspucken, aber sein Mund war zu trocken und so brachte er nur einen zähflüssigen Faden zustande, der auf seinem Kinn landete.

Mayel lachte, aber eine schmerzhafte Kopfnuss brachte ihn schnell zum Schweigen. Er rieb sich die pochende Stelle und schaute seinen Vetter grimmig an, wechselte aber das Thema: »Um was geht es denn in diesem neuen Stück?«

»Es heißt ›Das Maultier des Königs‹«, murmelte Shandek mit schwer trunkener Stimme. »Es heißt, im letzten Akt wird ein echter Verbrecher hingerichtet – darum sind auch all die Leute hier.« Er machte eine weite Geste und Mayel erschrak, als er sich von einer Menschenmenge umringt sah, in der aufgeregt geschwatzt wurde.

Von wegen, der Tod ist die Unterhaltung für die einfachen Leute, dachte Mayel mit einem traurigen Lächeln. Die Reichen scheinen ebenso viel Gefallen daran zu finden.

»Sie sind alle hier«, flüsterte er. »Adlige, Magier, sogar Priester.« Er wies auf einen Mann in der mit weißen Streifen versehenen Robe von Vasle, dem Gott der Flüsse, der gerade auf drei Frauen einredete. Zwei von ihnen trugen die Robe des Weißen Zirkels. »Sie alle wollen es sehen. Vielleicht finden wir heute einen Abnehmer.«

»Dieser Priester ist nicht hier, um sich am Tod zu ergötzen. Vasle ist ein gnädiger Gott. Er wird wohl hier sein, um dagegen zu protestieren. Und er ist mutig – das ist die edle Dame Ostia, der er da eine Standpauke hält.«

Mayel spähte durch die Menschenmenge. »Woher weißt du das? Ihr Gesicht ist doch von einem Schal verhüllt.«

»Siehst du die Frau neben ihr, die mit dem Schwert?«

»Ich habe schon Dutzende Frauen des Zirkels solche Schwerter tragen sehen«, widersprach Mayel, der die Gesichter noch immer nicht erkennen konnte.

»Ja, aber wenn du das Gesicht dieser Frau siehst, vergisst du es so schnell nicht wieder. Du wirst davon träumen, sie einen Monat ununterbrochen zu küssen!« Shandek grinste. »Es heißt, sie möge keine Männer, aber das glaube ich nicht. Ich wette, ich könnte ein Lächeln auf diese grimmigen Lippen zaubern.«

»Wie wäre es denn mit dieser Ostia? Es heißt, sie sei Magierin und will sich Siala vom Hals schaffen. Wäre sie keine geeignete Käuferin?«

Shandek nickte nachdenklich. »Ostia könnte die Richtige sein. Ich habe das alles auch gehört, aber im Augenblick gibt Siala die Befehle. Ich werde sie erstmal eine Weile beobachten. Und du musst jetzt rausfinden, womit dein Abt da herumspielt – genug gewartet! Es reicht nicht mehr, dass du vermutest, es sei ein uraltes magisches Artefakt. Wenn wir nicht wissen, was wir anzubieten haben, können wir auch nicht verhandeln.«

»Das ist schwer«, behauptete Mayel. »Wenn er misstrauisch wird, macht er sich aus dem Staub und wird woanders sein Glück versuchen.«

»Dir läuft die Zeit davon, Vetter«, grollte Shandek. »Werde mutiger, so wie unser Freund, der Priester da drüben.«

Mayel drehte sich wieder zu dem Priester um, der zunehmend erregter wirkte, den Frauen mit der Faust drohte und so laut sprach, dass die Leute auf der Straße stehen blieben und ihn anstarrten.

»Wenn so Mut aussieht, dann verzichte ich dankend«, sagte er. »Wenn er so weitermacht, wird man ihn bald in eine Zelle werfen. Hoffentlich berührt er sie nicht, sonst steckt er wirklich in Schwierigkeiten – oh, schon hat er es getan.«

Es kam zu einem Handgemenge, das ein Raunen der Menge bedingte. Zwei Wachen hatten sich eingeschaltet und einer hatte zum Dank dafür einen Ellbogen ins Gesicht bekommen. Der andere packte den Priester am Kragen und sah die Faust eines Adligen nicht kommen, die auf sein Gesicht zuflog. Dann sah man nur noch Getümmel und hörte wütende Schreie, bis kurz darauf das Scharren von Stahl, der aus einer Scheide gezogen wurde, alle erstarren ließ.

»Diese Adligen«, murmelte Shandek und erhob sich mühsam. »Keiner dieser Kerle hat auch nur ein bisschen Humor. Zeit für noch einen Krug.«

 

Zhia starrte angewidert auf die Gestalt am Boden. Der Priester war zwar groß, aber Legana hatte ihn mit einem einzigen Schlag gefällt. Jetzt lag er, alle viere von sich gestreckt, am Boden und hob langsam die Hand, um seine malträtierte Wange zu betasten. Legana stand über ihm, das Schwert in der Hand, und hielt so die Männer ab, die sich in die Prügelei eingemischt hatten.

»Meine Liebe, mein Respekt für Euch wächst stetig«, sagte Zhia, ohne den Mund zu bewegen, und behielt die edle Dame Siala im Auge, die Herrscherin Screes, während sie zu ihnen hinübergestürmt kam. Sie wurde von zwei rothäutigen FysthrallSoldaten begeitet. Im flackernden Licht wirkte das Schimmern der Rüstungen irgendwie seltsam, als hätte man Lampenöl darüber verschüttet. Zhia seufzte in sich hinein. Siala würde es ganz sicher als Beleidigung betrachten, dass der Priester ihr seine Beschwerde vorgebracht hatte. Siala erkannte langsam, dass Zhias Macht in der Stadt der ihren in nichts nachstand und sie nutzte jede Gelegenheit zur Konfrontation, die sich bot. Dass sich die Vampirfrau dabei jedes Mal geschickt unterwarf, schien sie nur umso mehr anzustacheln.

»Edle Dame Ostia, was ist der Grund für diesen Aufruhr?« Die Herrscherin von Scree wirkte ausgezehrt und erschöpft. Das ständige Machtgerangel mit den Adligen der Stadt forderte offensichtlich seinen Tribut. Zhia wusste, dass Siala Tag und Nacht daran arbeitete, ihre Machtgrundlage in Scree zu stärken und die Gegner davon abzuhalten, sich unter der Führung eines anderen zu vereinen.

»Ein Priester, der sich beschwerte, edle Dame Siala. Nichts Wichtiges«, sagte sie beschwichtigend.

»Und worüber beschwerte er sich?«

»Dass man die Hinrichtung von Verbrechern auf offener Bühne erlaubt hat.« Sie sprach weiterhin unterwürfig, hielt den Blick gesenkt.

»Und was sollte man deiner Meinung nach deswegen unternehmen?«

Zhia zuckte die Achseln. »Er war außer sich und zudem habt Ihr selbst dem Barden die Erlaubnis erteilt. Ich nahm an, er habe getrunken, auch wenn dies keine Entschuldigung dafür ist, Hand an eine Schwester des Zirkels zu legen. Ich bin sicher, dass wir eine hübsche Zelle finden werden, in der er zur Ruhe kommen kann.«

Siala nickte knapp. »Kümmere dich darum. Ich bezweifele, dass er so etwas noch einmal wagen wird. Legana, ich weiß dein schnelles Handeln zu schätzen, aber erinnere dich, dass du als Schwester des Zirkels ein wenig mehr Würde an den Tag legen solltest. Für so etwas halten wir uns schließlich Hunde.« Sie machte eine wegwerfende Geste zu den beiden Wachen neben ihr. Legana verneigte sich gehorsam und steckte ihr Schwert weg.

»Und nun, Legana, wirst du mich ins Theater begleiten. Ich habe dich kaum zu Gesicht bekommen, seit dich die edle Dame Ostia unter ihre Fittiche nahm. Und ich finde, das sollten wir wieder gutmachen.«

Legana warf Zhia einen kurzen Blick zu und die Vampirin nickte unmerklich. Es war zu erwarten gewesen, dass Siala Legana würde verhören wollen, darum hatten sie ihre Geschichte bereits abgesprochen. Nach einer raschen Verbeugung vor ihren Begleiterinnen folgte Legana Siala wie befohlen.

Nachdem Siala weitergegangen war, winkte Zhia Haipar zu sich. »Lass ihn in eine Zelle stecken und gib ihm einen Tag allein, damit er sich beruhigt.«

»Ja, edle Dame«, sagte Haipar mit gespieltem Ernst. Zhia vermutete, dass Haipar es nicht mochte, dass sie für den Theaterbesuch anständige Kleidung hatte anlegen müssen. Nachdem die beiden angeschlagenen Wachen dem Priester aufgeholfen und ihn weggeführt hatten, gingen die Zuschauer hinein, denn sie erkannten, dass dieser Teil des unterhaltsamen Abends beendet war. Auch Zhia spürte diesen Sog, eine Kraft, die sie langsam hineindrängte.

Sie hielt an und sah sich zu Haipar um, ob die Deneli es auch spürte. Aber Haipar schien nichts aufzufallen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob die rundgesichtige Frau aus der Brache überhaupt bemerkte, dass Leute an ihr vorbeigingen. Haipar starrte gedankenverloren und mit einem leeren Gesichtsausdruck auf das Tor.

Der Geruch von den Essensständen nach verbranntem Fett, Tamarinde und Honig umhüllte sie mit einem Mal. Zhia lief bei dem Duft von Fleisch, das mit Honig gesüßt war, das Wasser im Munde zusammen. Aber sie hatte nur Augen für Haipar. Die Brise weckte Haipar, als habe sie jemand geschüttelt. Erschrocken blickte sie sich um, das Gesicht fragend, dann erst ging sie endlich auf den Eingang des Theaters zu. Nach einigen Schritten wurde sie langsamer, weil Zhia ihr nicht folgte.

Zhia blickte zum Dach des Theaters, über dem die Wolken vorbeizogen. Ihre Fingerspitzen prickelten auf eine seltsame Art, die sie nicht einordnen konnte. Irgendwie vertraut, aber gleichzeitig ausgesprochen fremdartig – das allein war für eine Unsterbliche schon eine seltene Sache. Die widersprüchlichen Eindrücke verwirrten Zhia.

Irgendetwas entgeht mir hier, aber was ist es? Ich spürte, dass dieses Gebäude von Magie umgeben ist, aber ich weiß nicht zu ergründen, welcher Art sie ist. Sie blieb stehen, denn plötzlich konnte sie im Dunkel der Nacht ein Gesicht auf dem Dach des Theaters ausmachen, das auf sie hinabsah und über all das lächelte, das unten vor sich ging. Sie konnte nur das Gesicht, das Glühen einer Zigarrenspitze und die Umrisse von etwas ausmachen, das nach einer Armbrust aussah. Wer bist du und wofür brauchst du diese Armbrust? Auf diesem Platz wimmelt es von Soldaten, also dienst du wohl kaum der Sicherheit. Als habe sie der gargylenähnlichen Gestalt diese Frage laut gestellt, verschwand sie plötzlich. Nur ein Rauchfaden blieb zurück, der bald verging.

»Vielleicht sollte ich etwas offensichtlicher hier herumschnüffeln«, sagte sie laut.

»Was hoffst du zu finden?«, fragte Haipar, während sie wieder an Zhias Seite trat.

»Antworten, meine Liebe.« Bevor sie weitersprechen konnte, räusperte sich jemand leise hinter ihr.

»Dein Haustier ist wieder da«, sagte Haipar ätzend. »Und diesmal hat es Bänder im Haar.«

Zhia drehte sich um und strahlte die Männer an, die vor ihr standen. König Emin befand sich in der Mitte und trug einen prächtigen breitkrempigen Hut, durch den sein Gesicht im Schatten lag. An seiner Seite stand Doranei, der deutlich weniger entspannt wirkte als sein König und ein formelles Wams mit hohem Kragen trug. Er blickte zu Boden und hatte die Lippen geschürzt, unfähig – oder unwillig – ihr Lächeln zu erwidern.

Zhia senkte den Kopf. Hier herrschte der Weiße Zirkel, und das war das Höchstmaß an Respekt, das ein Mann erhalten würde. »Es ist eine Freude, Euch wiederzusehen, Herr«, sagte sie und vermied damit, in aller Öffentlichkeit seinen Titel zu verwenden.

Emin zog den Hut und verneigte sich tief. Er lächelte. »Edle Dame, es ehrt mich, dass Ihr Euch an mich, Euren bescheidenen Diener, erinnert.«

Zhia erwiderte das Lächeln. Es überraschte sie nicht, dass König Emin genau wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Und doch gefiel es ihr. Wenn sie die Zeit fände, sich im geistigen Wettstreit mit ihm zu messen, würde er sie wohl nicht enttäuschen.

»Und Doranei, wie hübsch Ihr ausseht!«

Der Mann des Königs blickte finster drein und musterte weiterhin die Pflastersteine zu seinen Füßen.

Zhia sah sich die übrigen Männer an, sechs Mitglieder der Bruderschaft, die allesamt ein schwarzes Wams und hohe Reiterstiefel trugen. Das war ganz sicher seine Leibwache. Der König wirkte eher wie ein erfolgreicher Händler. Da er keine Vorlieben in Sachen Mode hegte, konnte er in der Menge verschwinden.

»Aber was ist denn mit Eurem ständigen Begleiter?«, fragte Zhia. »Habt Ihr ihn zurückgelassen?« Es gab einige Weißaugen in der Stadt, die meisten waren Teil der dritten Armee und verstärkten die Fysthrall-Truppen, damit diese besser als die Soldaten waren, die Zhias Befehl unterstanden. Coran wäre also nicht weiter aufgefallen. Es überraschte sie, dass er abwesend war – und es verärgerte sie auch etwas. Es gab all diese Geschichten darüber, dass die beiden ihren Geist oder ihre Seelen in einem obskuren Ritual verbunden hatten und sie hatte bisher noch keine Gelegenheit gehabt, sie zusammen zu beobachten.

»Die Lage ist angespannt«, antwortete Emin, »und er ist recht leicht reizbar, vor allem bei so ungastlichem Wetter.«

»Sagt ihm, dass ich es ihm nachfühlen kann. Wohl wahr, die Lage ist angespannt, umso mehr geht Ihr mit Eurer Anwesenheit ein erhebliches Risiko ein.«

Der Ausdruck des Königs blieb bei seiner Antwort höflich unbestimmt und undurchsichtig: »Jedoch ein notwendiges, edle Dame. Ich habe einige Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass der Zirkel mich erkennen sollte, Euch eingeschlossen, aber ich bin nicht hier, um diesen Kampf weiterzuführen. Ich habe Angelegenheiten zu regeln, die keinen Aufschub dulden.«

Zhia musterte ihn einen Augenblick lang, dann legte sie den Kopf schief, als denke sie über ihre nächsten Worte nach. Schließlich seufzte sie und sagte: »Seht Euch besser vor. Etwas geschieht in dieser Stadt, es kommt zu einer Art Zusammenkunft. Eure Anwesenheit erhöht den Einsatz noch weiter.«

Emin nickte. »Das war vorhersehbar«, sagte er geheimnisvoll. Dann wandte er sich dem geschmückten Theatertor zu. »Seht nur, die Vorstellung beginnt gleich. Wir sollten hineingehen.«

»Eine meiner Gefährtinnen musste Siala begleiten, somit wird meine Loge schrecklich leer sein. Doranei, gewährt Ihr mir die Freude, mir Gesellschaft zu leisten?«, fragte Zhia mit einem Lächeln auf den bebenden Lippen. »Haipar mag das Theater nicht sonderlich und grummelt beständig vor sich hin.«

»Haipar? Die Gestaltwandlerin?«, fragte Emin scharf, woraufhin Haipar nickte.

»Und sie ist nicht die einzige Raylin in der Stadt«, setzte Zhia hinzu, während sie Doranei den Arm anbot. Er trat vor und errötete, als sie ihn anstrahlte und seinen Arm mit mädchenhafter Bewunderung streichelte.

Sie wandte sich noch einmal dem König zu und verabschiedete sich. »Es war wie immer eine Freude. Ich hoffe, dass diese zufällige Begegnung nur die erste von vielen gewesen ist. Es wäre eine große Ehre, wenn Ihr einmal mit mir zusammen zu Abend essen würdet.« Sie grinste. »Der Zirkel ist, bei all seinen Vorteilen, nicht dafür berühmt, dass seine Mitglieder ein anregendes Gespräch führen können.«

»Natürlich, meine Dame«, sagte Emin begeistert. »Und bitte bringt mir Doranei in einem Stück zurück, er ist recht zart.«

Ohne den sanften Spott von Doraneis Freunden zu beachten, lächelte Zhia in die Runde und verschwand dann durch das Tor, mit Doranei im Schlepptau und Haipar auf den Fersen.

 

Zhia hatte sich eine der besten Logen im neu aufgesetzten zweiten Rang gesichert. Die Dunkelheit im Gang wurde nur von dünnen Lichtfäden durchbrochen, die durch die dicken Zelttuchvorhänge in den schmalen Zugängen fielen. Dahinter hörten sie gedämpfte Stimmen und das Scharren von Stühlen, die darauf hindeuteten, dass die anderen Besucher es sich für die abendliche Unterhaltung bequem machten.

Zhia war sehr überrascht, als sie in ihrer persönlichen Loge bereits jemanden vorfand. Als Doranei ihr höflich den Vorhang aufhielt, offenbarte das Licht der Öllampe im Innern eine Person  – einen Mann, wie sie schnell bemerkte, der mit dem Rücken zur Bühne saß. Er sah auf, und Zhia konnte Hautbilder erkennen: schwarze Federn auf beiden Wangen und eine hässliche rote Narbe, die über einer Gesichtshälfte verlief. Obwohl allein die Hautbilder ihn schon als etwas anderes auswiesen, trug er seltsamerweise das Hemd und die kurzen Hosen eines Arbeiters.

»Dem Jungen, der uns gestern bediente, fehlte zwar etwas vom gesunden Menschenverstand«, sagte sie und trat in die Loge, »aber dennoch gebe ich zu, überrascht zu sein, dass er durch einen Mönch ersetzt wurde … wenn auch durch einen mit ungewöhnlichen Angewohnheiten.«

»Ein ehemaliger Mönch«, antwortete der Mann. Sein scharf geschnittenes Gesicht wirkte unsicher, geradezu misstrauisch. »Vellern und ich haben uns getrennt.«

»Und stattdessen leistet Ihr nun mir Gesellschaft. Stellt man mich über die Götter?« Sie wandte sich Doranei zu, der den Fremden musterte, und sagte ruhig: »Entschuldigt uns bitte einen Augenblick.«

Der Mann des Königs grunzte und warf dem ehemaligen Mönch einen grimmigen Blick zu, bevor er sich zurückzog.

»Ich bin nicht hier, um über die Götter zu sprechen«, antwortete der Mann missmutig. »Der Barde wies mich an, mit Euch zu sprechen. Es ist nicht unbemerkt geblieben, dass Ihr ein Interesse an uns hegt.«

»Und Ihr seid hier, um mich zu warnen?«, fragte Zhia ruhig, jedoch mit anklingender Verachtung.

»Ich bin hier, um Euch mitzuteilen, dass wir Eure Getreuen nicht länger dulden werden.«

Zhia beugte sich vor, um dem Mann ins Gesicht zu sehen. »Wie heißt du, kleiner Mann?«

»Mein Name? Dohle. Mein Name ist Dohle.« Seine Augen zeigten wachsende Nervosität.

»Nun gut, Dohle«, fauchte sie, wobei sie ihm einen guten Blick auf ihre Zähne gewährte und den Wechsel seiner Gesichtsfarbe von Weiß zu Grün genoss. »Sage deinem Barden, dass er sich etwas mehr anstrengen muss, wenn er mich ins Bockshorn jagen will.«

»Er … das ist nicht seine Absicht.« Der Mönch stotterte fast. »Er hofft, dass man sich einigen kann.«

»Und worauf genau hoffst du, sollen wir uns noch einigen?«

»Dass wir keine Gegner sein müssen«, sagte der Mönch mit flehendem Unterton. »Dass wir einander helfen, Verbündete sein können.«

»Und welche Hilfe bräuchte ich wohl von dir, kleiner Mönch?«, fragte sie mit sanfter, drohender Stimme.

»Was Ihr braucht? Mein Herr hat eine Gabe, den Ehrgeizigen zu helfen.« Jetzt war er wieder auf seinem Terrain und klang sicherer. Mit Ehrgeiz kannte er sich aus.

Zhia packte den Mönch blitzschnell bei der Kehle. Dohle schrie erstickt auf und versuchte ihre Finger zu lösen, war jedoch, obwohl sie so zart wirkte, hilflos. Sie spürte, dass er nach Magie griff, und als sie ihm die Energie entriss, breitete sich der vertraute Kupfergeschmack in ihrem Mund aus.

Dohle versuchte entsetzt nach Luft zu schnappen und begann zu zittern, als habe er jetzt erst erkannt, in welche Gefahr man ihn geschickt hatte.

»Mein Ehrgeiz ist allein meine Sache. Was glaubst du, mir geben zu können, das ich mir nicht selbst nehmen könnte?«

»Wie könnt Ihr Euch etwas nehmen, von dem Ihr nichts wisst?«, krächzte Dohle. »Was ist in einer Zeit, in der die Zukunft ungewiss ist, wohl wertvoller als Erkundigungen?«

Zhia sah ihn nachdenklich an. Was ging in dieser Stadt wohl noch so vor sich, von dem sie keine Kenntnis hatte? Sie wusste, dass Getreue der Ritter der Tempel bei der Führungsschicht Screes vorstellig wurden, auch wenn diese sich wohl kaum mit ihnen einließen. Ein Nekromant führte irgendwo in den ärmeren Vierteln zunehmend aufwändigere Rituale durch, aber Nekromanten scherten sich selten um Politik. Beides war für sie nicht sonderlich interessant, zumindest im Augenblick nicht.

»Du setzt viel voraus, für einen gescheiterten Mönch«, sagte Zhia geringschätzig. Der Gedanke, dass ihr der Barde die fehlenden Stücke des zunehmend verschlungeneren Puzzles offenbaren könnte, war erschreckend anziehend, darum lehnte sie dieses Angebot auch rundweg ab. Sie kannte ihre Schwächen gut genug, um zu bemerken, wenn jemand sie auszunutzen versuchte.

»Ich bin nur der Bote«, protestierte Dohle heiser.

»Gut, Bote, verschwinde.« Sie zog ihn auf die Füße und schob ihn zum Vorhang vor der Tür. »Wenn dein Herr mit mir sprechen möchte, muss er sich schon selbst zu mir bemühen.«

Sie stieß den Mönch zur Tür hinaus und rief sanft: »Und sag ihm, er soll etwas Lohnendes mitbringen. Wenn ich in die Nacht geflüsterte süße Versprechen haben wollte, würde ich mir einen verliebten Jungen holen.«

Doranei blickte dem Mann mit den Hautbildern nach, dann hob er fragend eine Augenbraue.

Sie winkte den Narkang-Getreuen wieder in die Loge und sagte scharf: »Schaut mich nicht so tadelnd an.« Doranei schmunzelte darüber, ihr endlich ein Gefühl entlockt zu haben, war aber klug genug, nichts zu sagen, sondern sich stumm neben sie zu setzen. Haipar schenkte allen aus einem Weinkrug ein, der auf einem kleinen Tisch in der Ecke stand und postierte sich dann hinter Zhia. Von dort aus hatte sie beide im Blick.

Zhia ordnete ihre Röcke, dann fragte sie beiläufig: »Also Doranei, was macht ihr hier, dein König und du?«

Er seufzte. »Das könnte ich Euch nicht sagen, selbst wenn ich es wüsste.«

»Selbst du weißt es also nicht?«, fragte Zhia und lachte fröhlich. »O, mein lieber Junge, du bist doch ein Mitglied der Bruderschaft und kein dummer Fußsoldat. König Emin verheimlicht mit Sicherheit viel, aber zu glauben, er bringe seine Elitewache in eine fremde Stadt und verschweige ihnen das angestrebte Ziel? Bitte, du beschämst uns beide.«

Doranei hob die Hände. »Was erwartet Ihr von mir? Dass ich Euch die Geheimnisse meines Königs verrate? Ja, wir sind aus einem bestimmten Grund hier – und nein, der König hat nicht darum gebeten, dass dieser Grund öffentlich gemacht wird.«

»Ich verstehe, Doranei, aber bitte bedenkt, dass wir keine Feinde sind. Die Lage in Scree verschärft sich zunehmend, und sogar Siala muss das bemerkt haben. Die Nahrung wird knapp, Sialas Beschränkungen werden zu weiteren Engpässen führen und diese verflixte Hitze lässt die Leute unruhig werden. Die Ordnung in der Stadt steht auf Messers Schneide und wie viele Soldaten sich auch in den Straßen tummeln, sie werden die Bürger Screes doch nicht aufhalten können, wenn sie sich erheben.«

Sie wandte sich zu Haipar um, sah dann wieder Doranei an, ergriff seine Hand und sagte: »So seltsam es dir auch erscheinen mag, wir sollten vielleicht doch versuchen, einander zu vertrauen. In diesem Spiel werden genug Blätter gegeben, dass man das Endergebnis nur mit vereinten Kräften beeinflussen kann.«

Doranei zuckte mit den Schultern. »Ich werde es dem König mitteilen.«

Zhia las in seinem Gesicht und ließ die Sache vorerst auf sich beruhen, aber Haipar besaß dieses Feingefühl nicht.

»Er kann kaum aus politischen Gründen hier sein«, sagte sie zu Zhia. »Wenn der König hier wäre, um mit dem Weißen Zirkel abzurechnen, hätte er ein Heer mitgebracht. Wenn es um einen Meuchelmord ginge – gleich welcher Art – wäre er nicht selbst gekommen. Er sucht hier etwas, vielleicht auch jemanden. Wäre er ein Magier, ich würde auf ein Artefakt tippen. Aber da er das nicht ist, mag es eine Waffe sein.«

Sie schloss kurz die Augen, vielleicht, um ihre eigenen Schlüsse besser nachvollziehen zu können, und sagte dann leise vor sich hin: »Vielleicht ist es Aenaris, aber Ostia hätte bemerkt, wenn es sich in der Stadt befände. Also muss es eine Person sein – und wer? Ein Getreuer? Ein Abtrünniger?«

»Interessante Gedanken«, sagte eine akzentschwere Stimme vor dem Vorhang. »Aber leider fehlerhaft. Nicht einmal die sagenhafte Ostia könnte Aenaris spüren, solange es nicht benutzt wird.«

Haipar sprang auf. Das Scharren ihres Rapiers, das sie halb zog, wurde vom Scharren des Stuhls nicht ganz übertönt.

Zhia schüttelte den Kopf, da huschte auch schon eine schlanke Gestalt in die Loge. Noch bevor jemand begriff, was eigentlich geschah, wurde Haipars Hand aufgehalten und dann rammten bleiche Hände die Waffe wieder zurück in die Scheide.

»Wir wollen doch nicht grob werden«, murmelte der Mann und legte Haipar eine Hand auf die Schulter, um sie wieder zu ihrem Sitz zu geleiten. Die Gestaltwandlerin war bleich geworden, konnte dem merkwürdigen Mann aber nichts entgegensetzen, was jedoch nicht an seiner Kraft lag, sondern an einem weniger auffälligen Zwang.

Zhia sah Doranei an, der seinerseits den Neuankömmling musterte. Er erkannte die Art des Mannes, sich zu kleiden, offensichtlich nicht wieder, hatte aber dessen pechschwarzes Haar und die ungewöhnlich dunklen, blauen Augen bemerkt. In dieser Gegend gab es wenige Menschen mit solchen Augen. Doranei warf ihr einen Blick zu, dann sah er wieder den Mann an.

Mein lieber Doranei, dachte Zhia mit Genugtuung, ich glaube nicht, dass du seine Augen in diesem Licht bemerkt hättest, wärst du nicht wie der Schmetterling, der die Nadel anstarrt, wann immer ich dir begegne.

»Ich schlage vor, ihr bleibt still und leise wie die Mäuschen«, riet der Eindringling.

Zhia war sicher, dass Doranei bewusst war, wie chancenlos er gegen diesen Mann wäre, wer immer er auch sein mochte. Um in diesen Kreisen zu überleben, musste man wissen, wann der Gegner übermächtig war.

»Was für eine seltene Ehre«, sagte sie kühl und ging über Doraneis braven Gehorsam dem Mann gegenüber hinweg. Koezh, ihr älterer Bruder, spielte nicht gern, aber es war trotzdem nicht nötig, dass sie den Jungen als etwas anderes als einen einfachen Gehilfen offenbarte.

Koezh musterte Doranei und Haipar, beschloss, dass keiner der beiden eine Gefahr für ihn darstellte, und entspannte sich schließlich, nahm einen Becher entgegen, den Zhia ihm hinhielt. »Spielst du mal wieder die Hausherrin?« Er prostete ihr zu.

Zhia lächelte. »In diese Stellung wurde ich immerhin hineingeboren, also beschreibt spielen es wohl nicht ganz richtig.«

»Während du aufwuchsest, dachtest du anders – beständig mussten wir dich aus dem Stall holen oder verhindern, dass du dem Falkner wie ein liebestrunkenes Hündchen hinterherliefst.«

»Oh, aber jetzt bin ich erwachsen, wie du siehst«, sagte Zhia, »und seitdem sind einige Jahre vergangen, und noch mehr, seit du das letzte Mal in dieser Gegend warst. Was bringt uns die Gnade deiner Anwesenheit, mein lieber Bruder?«

Haipar saß steif da, ihr Blick wurde von dem Breitschwert mit dem schwarzem Heft angezogen, das an Koezhs Seite hing. Die große Waffe unterschied sich sichtlich von den schlanken Rapieren, die für die meisten Männer die angemessene Wahl für das Theater war.

Auch Zhia hatte das Schwert bemerkt. Sie musste sich nicht einmal öffnen, um die wilde Kraft zu spüren, die Bariaeth bis zum Bersten anfüllte. Der letzte König hatte all seine Trauer und seinen Hass in diese Klinge fließen lassen und selbst jetzt noch umgab es eine Aura von erdrückender Traurigkeit und Leid. O mein lieber Bruder, der Fluch der Götter, der auf uns liegt, ist doch genug Leid für einen allein – aber du konntest weitere Bürden nie ablehnen, nicht wahr? Sie musste ihre Ängste nicht aussprechen, ihr Bruder wusste genau, welcher Gefahr er sich aussetzte.

»Die Ereignisse schreiten schnell voran«, sagte Koezh. »Aracnan sagte mir, dass ein Erlöser aufgetaucht ist, itzo entschloss ich mich, mich einmal mehr auf diese Bühne zu wagen.«

Zhia beachtete den kläglichen Versuch, komisch zu sein, gar nicht. Koezh war immer schon ein ernster und verdrießlicher Mann gewesen. Es passte nicht zu ihm zu scherzen.

»Der Farlan-Bursche?«, fragte sie. »Wie kann Aracnan da so sicher sein? Noch vor kurzem warst du überzeugt, Kastan Styrax sei der Erlöser.«

»Er glaubt es.« Koezh hob den Becher an die Lippen, benetzte sie aber nur. »Aracnan ist mit Sicherheit ein Halbgott, also kann man seinen Instinkten vermutlich vertrauen – zumindest mehr als du meinen«, fügte er mit einem bitteren Lächeln hinzu.

»Ist Aracnan hier?«

»Irgendwo hier, ja. Wir schlugen unser Lager vor der Stadt auf und er verschwand in der Nacht, um seinen eigenen Zielen zu folgen.«

»Ihr schlugt das Lager auf?« Zhia ahnte Schlimmes. »Kamst du nicht allein?«

Ihr Bruder blickte sorgenvoll. »Nein, ist das ein Problem?«

»Scree erlebt eine Zusammenkunft unbekannter Art«, sagte Zhia. »Empfindest du Freude dabei?«

Koezh nickte knapp.

Doranei schnappte nach Luft. Er hatte vorgegeben, nichts mitzubekommen, dem Gespräch in Wahrheit aber genau gelauscht. Freude war der Kristallschädel, den Koezh von seinem Vater geerbt hatte.

Zhia lächelte in sich hinein. Die wenigsten Leute würden Freude bei ihrem Bruder vermuten. Manchmal kam es ihr so vor, als habe sich Aryn Bwr bei der Benennung dieses Kristallschädels einen Spaß erlaubt. »Dann hat die Legion der Verdammten ihr Lager ebenfalls vor der Stadt aufgeschlagen? Das hätte ich wohl voraussehen sollen.« Ihre Gedanken rasten.

»Was ist die Legion der Verdammten?«, musste Doranei einfach fragen.

Zhia warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, der ihn davor warnen sollte, sich einzumischen. Doch dann wurde ihr Blick sanfter, denn seine Unschuld in solchen Dingen rührte sie an. Irgendwie fand sie ihn niedlich. Es gab nicht viele Männer, die sie die Jahrhunderte vergessen ließen, die sie trennten.

»Die Legion der Verdammten trägt ihren Namen zu Recht«, erklärte sie ihm. »Es ist ein Heer aus Söldnern. Mein jüngerer Bruder, Vorizh, beging vor einigen hundert Jahren den Fehler, einen Nekromanten zum Vampir zu machen. Diese Kombination hat sich als, hm, schwierig erwiesen.« Sie verzog leicht das Gesicht. »In diesem Fall hat der Nekromant Söldner angeheuert, um ihn und sein Land zu schützen – und in einem seiner erfolgreichsten Experimente hat er ihre Lebenskraft durch Magie ersetzt. Sie haben sich nicht eben darüber gefreut, auch wenn sie nun ausgesprochen stark sind und vom Lauf der Zeit unangetastet bleiben. Stell dir die Verdammten als eine Art geringe Raylin vor, und du wirst die Gefahr erkennen.«

Sie wandte sich wieder ihrem Bruder zu. »Etwas zieht Mächtige aller Art in diese Stadt: eine ganze Reihe von Raylin, die verbliebenen Magier des Weißen Zirkels, den König von Narkang und einen Nekromanten, der wohl zu keiner der Fraktionen gehört. Jetzt kommt auch noch Aracnan dazu, was die mehr als fünfzehn Raylin, die ich anheuerte, in den Schatten stellt, zwei Mitglieder der Vukotic-Familie und mindestens zwei Schädel. Außerdem steht ein Angriff auf Scree kurz bevor, entweder durch die Farlan oder die Ritter der Tempel – oder sogar beide.

»Ich weiß nicht, ob es noch weitere, unentdeckte Mächte gibt. Der Farlan-Lord besitzt zwei Schädel, und der Barde, der diese Schauspielertruppe befehligt, trägt eine Omenkette.«

Neben ihr schrie Doranei entsetzt auf und rief: »Was? Nein!« Dann fand er die Beherrschung wieder und flüsterte: »O ihr Götter, seid Ihr sicher?«

»Aber ja«, sagte sie. »Ich sah sie mit eigenen Augen.«

»Kennt Ihr seinen Namen?«

»Rojak.«

Doranei fluchte leise und ballte die Fäuste. »Dann ist es also wahr.«

»Was ist wahr?«, fragte Zhia überrascht. Das war vermutlich ein weiteres Puzzlestück. »Kennst du diesen Barden?«

Doraneis Blick glitt an ihr vorbei zur Bühne, auf der ein Flötist seinem Instrument langsame, traurige Töne entlockte. Zhia schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern, um seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

»Doranei, hör mir zu! Kennst du diesen Barden? Ist der König darum hier?«

Doranei schüttelte den Kopf. »Nicht darum, nein. Aber wir hatten gehofft …« Seine Stimme verklang, während er sich wieder der Bühne zuwandte, sich dann aber losriss und zu seinen Begleitern sprach. »Ich muss den König sofort darüber unterrichten.«

»Noch nicht«, sagte Zhia bestimmt. Sie wies auf einen hochgewachsenen Mann in einer grünen Robe, die mit zwei auf dem Kopf fliegenden, goldenen Bienen verziert war. Er hielt bereits die Vorrede des Erzählers. Eine Narrenkappe rundete das Kostüm ab. »Die Vorstellung hat begonnen, und wenn du jetzt gehst, wirst du Aufmerksamkeit erregen. Einer der Schauspieler stand vorhin mit einer Armbrust auf dem Dach. Würde dich dieser Kumpan Rojaks erkennen?«

Doranei nickte und warf dem verhangenen Durchgang einen misstrauischen Blick zu. Koezh sah seine Besorgnis und schüttelte den Kopf.

»Dort draußen ist niemand, nicht einmal ein Diener.«

Doranei entspannte sich daraufhin etwas. »Dann werde ich den König in der Pause suchen. Sie werden ihn hier nicht umbringen.«

»Bist du sicher? Es erscheint mir sehr verlockend.«

»So sicher man sein kann«, sagte Doranei. Er wirkte eher unsicher, versuchte sein eigenes Wissen gegen die Hilfe abzuwägen, die Zhia anzubieten hatte. »Sie haben seit langem eine Fehde«, sprach er schließlich. »Und wenn er den König nur umbringen lässt, dann fehlt …«

Er suchte nach Worten, bis Zhia sagte: »Die persönliche Note? Es stillt das Drängen des Mannes nicht, wenn er das Messer nicht selbst hineinrammt?« Sie seufzte. »Die Jahrhunderte vergehen zwar, aber die Leute bleiben doch immer gleich. Ich hoffe, dass sich dein König als der bessere Mann herausstellt, wenn es soweit ist, und nicht zögert. Ich kann immerhin keinen Verbündeten im Kernland gebrauchen, der sich der Effekthascherei schuldig macht – dann wäre er eine schwere Enttäuschung für mich.

Doranei nickte, schaute dabei aber schon wieder mit grimmigem Gesicht auf die Bühne.

Interessant, dachte Zhia, dieser Rojak muss dem König wirklich übel mitgespielt haben. Ich frage mich, was der Barde tat und warum? Bei diesem Gedanken folgte sie Doraneis Blick. Jetzt erkannte sie die Farben und den Schnitt der Kleidung des Erzählers. Dann dient dieses Stück also allein dazu, König Emin zu verspotten? Dann weiß er bereits, dass der König hier ist. Aber welchen Zweck verfolgt er mit dem Ganzen?

Zhia löste den Blick mit Mühe von der Bühne und wandte sich wieder dem Gespräch zu. »Ich werde die Sicherheit in der Stadt verschärfen. Wenn so viele Fremde die Straßen bevölkern, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Leute sterben.« Sie blickte die beiden Männer an, die sie ebenfalls anschauten. Koezh zeigte brüderliche Zuneigung, was eine angenehme Abwechslung zu seinem üblichen ausgezehrten Ausdruck voller Weltschmerz war. Doranei schien von einer widerstrebenden Faszination ergriffen und blickte zwischen den Geschwistern hin und her.

»Bitte, seht es mir nach, sollte ich Euch mit dieser Frage beleidigen«, setzte Doranei zögerlich an. Zhia machte einen Schmollmund, was ihn bei den weiteren Worten stottern ließ: »Ihr gebt doch nur vor, Mitglied des, äh, Weißen Zirkels zu sein …«

»Was schert es mich also?«, vollendete Zhia den Satz für ihn.

Doranei nickte und senkte den Kopf.

»Es ist unser Fluch, der meines Bruders und der meinige, dass wir uns scheren. Die Götter haben es in ihrem letzten Richtspruch so gefügt. Weißt du denn gar nichts über unsere Vergangenheit ?«

»Nur wenig«, gab Doranei zu. Er sah sich um, ob sie auch niemand beachtete, dann sagte er noch leiser: »Ich weiß, dass man Euch in Vampire verwandelte, in Untote. Um weiterzuleben, müsst Ihr anderen das Leben aussaugen und die Berührung des Sonnenlichts lässt Euch verbrennen.«

»Die Jugend von heute lebt nur für den Augenblick«, sagte Zhia und schnalzte tadelnd wie eine Lehrerin mit der Zunge. »Das war nicht der einzige Fluch, der uns in dieser Nacht auferlegt wurde. Ich hätte eine solche Voraussicht nicht von einem Gott erwartet, aber einer von ihnen erkannte, dass man dem Wahnsinn anheimfiele, wäre man ein solches Monster. Um also die Strafe bis zur Neige auszukosten, bestimmten die Götter, dass wir nicht dem Irrsinn verfallen sollten, sondern dass wir bei Verstand bleiben und dieser weder von den Jahren noch durch das Schuldgefühl im Hinblick auf unsere Taten angegriffen werden sollte.« Ihre Hände verkrampften sich bei dem Gedanken an diese Schuld. Sie war in unzähligen Jahren ihr steter Begleiter gewesen.

Sie sah Doranei nicht an, wollte den Schrecken in seinen Augen nicht sehen, als sie weitersprach. »Sie wollten, dass wir die Angst in den Augen unserer Opfer sehen, wann immer wir ihnen das Leben aussaugen – und dass wir stets peinigendes Mitleid mit anderen empfinden. Es wird uns niemals gleichgültig werden. Unser Volk wurde dafür bestraft, uns in blinder Treue gefolgt zu sein. Dafür spüren wir nun das Leid der Unschuldigen, und zwar in größerem Maße, als du es je erahnen kannst.«

»Und meine Anwesenheit könnte die Lage noch verschlimmern«, vermutete Koezh.

»Genau«, sagte Zhia matt. »Darum musst du die Stadt verlassen.«

»Ich soll gehen?«

»Du und deine Legion, ihr könnt nicht verhindern, dass diese Stadt im Chaos versinkt. Egal was ihr unternehmt, es wird nur Öl ins Feuer gießen.«

»Also soll ich weichen und nichts tun? Zulassen, dass der Weiße Zirkel und die Ritter der Tempel das nächste Zeitalter bestimmen ?«

»Unsere Zeit wird kommen, aber noch ist es nicht so weit.« Zhia rieb sich den Arm, wo die enge Seidenkleidung in der Wärme unangenehm festklebte. »Am besten marschiert ihr nach Süden.«

Koezh legte den Kopf schief. »Hältst du Lord Styrax für eine so große Gefahr, obwohl er so weit vom Heimatland der Menin entfernt ist?«

»Ja, das tue ich«, sagte Zhia mit Nachdruck. »In den Tausenden von Jahren seit dem Großen Krieg, hat es da jemals einen Krieger gegeben, der dir das Wasser reichen konnte? Ich glaube nicht, und doch hat Kastan Styrax dich niedergestreckt und deine Rüstung als Trophäe behalten. Wenn es im ganzen Land einen Mann gibt, der die Chetse besiegen und die Herzen ihrer Kriegerorden gewinnen kann, dann ist es wohl Kastan Styrax.«

»Und dann braucht er keinen Nachschub aus den Ringen des Feuers«, schloss Doranei. »Wenn er die Treue der Chetse gewinnen kann, ist nicht abzusehen, wie groß sein Reich werden wird.«

»Vielleicht grenzenlos. Wenn die Stadtstaaten im Westen im Chaos versinken, was sich bereits andeutet, so werden sie dem Erwählten des Kriegsgottes unvorbereitet gegenüberstehen.«

»Narkang ist bereit und die Farlan sind noch mächtiger als die Chetse«, widersprach Doranei.

Koezh wandte sich dem jungen Mann mit einem amüsierten Gesichtsausdruck zu. »Narkang ist bereit? Narkang ist nur durch eine glückliche Fügung gerettet worden, so sagt man. Wenn der Weiße Zirkel den König und die Stadt in seine Gewalt bekommen hätte, wären deine geschätzten Drei Städte bald gefolgt. Und die Farlan sind durch jahrelange Unruhen geschwächt und jetzt ist der größte Führer, den sie seit tausend Jahren hatten, tot. An Lord Bahls Stelle steht ein junger Mann, von dem es heißt, der Sturm fließe in seinen Adern, er aber trüge Gaben von solcher Macht bei sich und die Last der Geschichte auf den Schultern, dass sogar seine eigenen Generäle auf der Hut sein müssen.« Koezh beugte sich zu Doranei hinüber und schenkte dem jüngeren Mann ein kaltes Lächeln. »Ich würde sagen, dass ihr noch nicht ganz so bereit seid, wie ihr hofft. Auf jeden Fall sollte euer König seine Angelegenheiten hier zu einem Abschluss bringen und sich um seine Grenzen kümmern. Es ist dumm, durch die eigene Selbstgefälligkeit zu sterben.«

Koezh klopfte Doranei herablassend auf die Schulter, was bei seiner Schwester ein Lächeln hervorrief, und wies zur Bühne. »Jetzt sei still und sieh dir das Stück an. Etwas Kultur wird dir nicht schaden.«

Koezh berührte flüchtig ihre in Handschuhe gehüllten Finger, dann ging er geräuschlos davon. Das war ihr Wesen. Die Erfahrung hatte ihnen gezeigt, dass ihre Begegnungen kurz und liebevoll sein sollten, denn sonst gab es Streit mit dramatischen Auswirkungen. Zhia war ihrem Bruder in diesen Dingen im Augenblick voraus, denn sie hatte ihn dreimal getötet, doch hatten sie sich schon vor langem darauf geeinigt, dass es nicht mehr sonderlich spannend war, sich gegenseitig umzubringen. Und es schien zu aufwändig, nur aus einem alten Groll heraus damit fortzufahren.

Er würde ihrer Bitte folgen. Scree war nun ihre Sache und er würde sich nicht einmischen. Das Land glitt unaufhaltsam auf den Untergang zu und Veränderung lag in der Luft. Sie wussten beide, dass dies ihre größte Chance sein würde.

Zhia lächelte.